»Wir können für uns selbst sorgen«
Update: Robin Wonsley Worlobah über den Aufstand in Minneapolis, Pläne, die Polizei abzuschaffen, und die Mehrfachkrise in den USA
Interview: Stephan Kimmerle
Das folgende Interview mit der Aktivistin Robin Wonsley Worlobah aus Minneapolis wurde zum Großteil am Sonntagnachmittag, den 31. Mai, geführt und in einer älteren Version bereits auf dieser Seite veröffentlicht. Wegen der sich überschlagenden Ereignisse baten wir in einem am 8. Juni geführten Gespräch um eine Aktualisierung, unter anderem zu der Meldung, Minneapolis plane, die Polizei abzuschaffen
Du warst involviert in die Organisierung der Proteste in Minneapolis nach dem Polizeimord an George Floyd. Inzwischen gibt es Proteste im ganzen Land, von New York bis Los Angeles, und auch in anderen Ländern. Aber das Herz der Entwicklungen ist weiterhin in Minneapolis. Wie würdest du die Lage in der Stadt beschreiben?
Robin Wonsley Worlobah: Was aktuell in Minneapolis passiert, ist ein Aufstand.
Was genau passierte in den ersten Tagen nach dem Mord an George Floyd in der Stadt?
Zunächst hatten einige Bürgerrechtsgruppen zum Protest aufgerufen – wie es nach solchen Ereignissen üblich ist: Polizeischüsse oder Polizeimorde passieren, und Bürgerrechtsgruppen rufen zum Protest auf, fordern auf, zum Tatort zu kommen. Also kamen wir an der Kreuzung 38th Street und Chicago Avenue vor dem »Cup Foods«-Laden zusammen. Dann wurden die Proteste nach und nach größer, schließlich waren wir fast 20.000 Menschen.
Wir marschierten dann zur Polizeistation des dritten Reviers, wo die Polizisten, die in den Mord an George Floyd involviert waren, arbeiten. So viele junge Schwarze und People of Color, Leute aus der Arbeiterklasse, aus der Community waren da – es war ein wunderschöner Moment. Und dann beschlossen wir, den öffentlichen Raum zu besetzen. In den darauffolgenden Stunden wurde verständlicherweise viel von der vorhandenen Wut an dem fassbaren Gebäude, der Polizeistation, ausgelassen. Die Polizei verbarrikadierte alles und ging mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vor. In den Tagen darauf gab es ein Hin und Her zwischen uns und der Polizei. Es ist wichtig hervorzuheben, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch keiner der Polizisten, die an dem Mord beteiligt waren, festgenommen worden war. Dann gab es einen Punkt, an dem die Wut und Frustration, die sich in der ersten Nacht gegen das Polizeirevier gerichtet hatte, sich auszuweiten begannen.
Wie reagierten die politisch Verantwortlichen?
Es gab Interventionen von Bürgerrechtsgruppen, die ich der black managerial class, der Schwarzen Managerklasse, zurechnen würde, die gemeinsam mit den gewählten Politikern versuchten, die Wut zu besänftigen. Die Schwarzen Jugendlichen auf der Straße duldeten diese Befriedungsversuche aber nicht. Sie machten klar: Ihr werdet uns nicht ein paar Kumbaya-Lieder singen und wieder nach Hause gehen sehen.
Die Massen auf der Straße jagten den politisch Verantwortlichen eine scheiß Angst ein. Ihre Strategie bestand dann darin, die »guten« Protestierenden von den »bösen« zu trennen, dafür verhängten sie eine Ausgangssperre. Uns wurde gesagt: Ihr könnt friedlich demonstrieren, aber tut es bitte nur zwischen 6 und 20 Uhr. Wenn ihr danach draußen seid, gehört ihr zu den »Bösen«, und dann werden wir gegen euch vorgehen. Sie holten die Nationalgarde und gaben vor, damit die »guten« Protestierenden vor den »bösen« schützen zu wollen. Einige haben es ihnen zuerst auch abgekauft. Doch dann fuhren Militärfahrzeuge in Wohnviertel und beschossen Familien mit Tränengas. Das Video eines solchen Vorfalls hat dazu geführt, dass echt viele Leute realisiert haben, dass sie vom Staat verarscht werden.
Robin Wonsley Worlobah
ist Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA) in Minneapolis. Sie ist seit Jahren aktiv in der sozialistischen Bewegung der Twin Cities (Minneapolis und St Paul) und war unter anderem beteiligt am erfolgreichen Kampf für einen Mindestlohn von 15 Dollar im Jahr 2017. Minneapolis war die erste Stadt des Mittleren Westens, in der dieser eingeführt wurde. Heute arbeitet sie für die Lehrergewerkschaft. Im kommenden Jahr kandidiert Wonsley Worlobah für den Stadtrat von Minneapolis.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass es jetzt in Minneapolis viele Leute auf der Straße gibt, die versuchen, die Ereignisse zusammenzubringen, und die zu verstehen beginnen, was die Aufgabe des Staatsapparates ist, nämlich unter anderem Schwarze Menschen und PoC zu terrorisieren, um so den Kapitalismus aufrechtzuerhalten.
Zugleich wächst die Erkenntnis, dass wir für uns selber sorgen können. Menschen kommen zusammen und organisieren sich, um die grundlegenden Bedürfnisse in ihren Communities zu befriedigen.
Seit der zweiten Woche des Aufstandes hatten wir dann täglich mehrere Massenaktionen, die sich explizit entweder gegen die Politiker der Demokraten in der Stadt oder die Polizei richteten. Als am Samstag, 6. Juni, Zehntausende von uns unter der Forderung »Abschaffung der Polizei« zum Haus des Bürgermeisters Jacob Frey zogen, konnte wir ihn zwingen, uns Rede und Antwort zu stehen. Frey, der zuvor auf Social Media immer wieder beteuert hatte, »alles« zu tun, was in seiner Macht stünde, erklärte uns dort, die Polizei in Minneapolis könne nicht abgeschafft werden. Er wurde daraufhin von uns zurück in sein Haus gebuht. Das war ein unglaublicher Moment von politischer Macht.
Nun hat der Stadtrat von Minneapolis tatsächlich angekündigt, die Polizei auflösen zu wollen – das hat auch international hohe Wellen geschlagen. Was bedeutet diese Ankündigung?
Ich wähle hier meine Worte bewusst vorsichtig. Das Einzige, was bisher konkret besprochen wurde, ist, dass das Human Rights Department von Minneapolis eine Untersuchung durchführen soll, aus der dann die Empfehlung hervorgehen könnte, dass die Polizei in Minneapolis umstrukturiert werden müsste. Es gibt also keinen Erlass oder kein Gesetz, das der Stadtrat unmittelbar plant. »Reclaim the Block«, eine Organisation, die sich seit 2018 für die Abschaffung der Polizei einsetzt, hat dem Stadtrat die Frist von einem Jahr gesetzt, in dem er herausfinden soll, wie ein Abwicklungsprozess für die Polizei aussehen kann. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, und es ist ein großer Schritt vorwärts im Vergleich zu dem Punkt, an dem die Stadtratsmitglieder vor einem Jahr in dieser Frage standen. Damals haben sie alle eine Reduktion des Polizeietats um 45 Millionen Dollar abgelehnt – heute geht es um die Auflösung der Polizei. Dafür hat es den Aufstand auf der Straße gebraucht. Wir haben sie gezwungen, sich zu unserer zerstörerischen Polizei zu äußern. Es wird aber die Bewegung von unten weiter brauchen. Denn was wir in den vergangenen Tagen auch gesehen haben: Gerade die als progressiv geltenden gewählten Politiker sagen jetzt oft: Danke Leute für euren Aufstand, wir kümmern uns jetzt darum, ihr könnt also nach Hause gehen. Dem müssen wir widerstehen und dagegen Selbstorganisierung stärken.
Gerade die als progressiv geltenden Politiker sagen jetzt oft: Danke Leute für euren Aufstand, wir kümmern uns jetzt darum, ihr könnt nach Hause gehen. Dem müssen wir widerstehen und dagegen Selbstorganisierung stärken.
Die Auflösung ganzer Polizeidepartements gab es zuvor auch schon: 2012 in Kent in New Jersey, dort wurde die Polizei aber durch eine ähnliche Institution ersetzt – oder in Compton in Kalifornien im Jahr 2000, da übernahm dann allerdings das LA-County. Was muss geschehen, damit so ein Akt nicht nur ein Rebranding ist, ein neues Gewand, ein neues Logo für dieselbe Sache?
Das ist etwas, womit eine Menge Leute, die seit Jahren das Ziel der Abschaffung der Polizei verfolgen, jetzt ringen. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir innerhalb von einem Jahr oder sogar wenigen Wochen solche Forderungen realisiert sehen würden. Deshalb haben wir einige wichtige Schritte verpasst – wobei eigentlich nicht verpasst, weil der Aufstand den Raum für diesen Schritt wiederum auch geöffnet hat: Auf dem Weg zur Abschaffung der Polizei, die uns nicht schützt und nicht für unsere Sicherheit sorgt, brauchen wir tiefgreifendes Community-Organizing für den Aufbau von kollektiven Infrastrukturen, von kollektiver Sorge umeinander und für eine Stärkung sozialer Institutionen, die die Menschen selbst führen und kontrollieren.
Das ist es, was jetzt notwendig ist, damit die Vision der Abschaffung der Polizei Wirklichkeit werden kann. Wenn es nicht geschieht, dann passiert das, was jetzt beginnt hochzukommen, nämlich dass die Frage lauter wird: Moment, haben wir dann gar nichts, das uns schützen soll, wird es dann Chaos geben? Auch wenn Schwarze und PoC alltäglich erfahren, dass die Polizei sie nicht schützt, und die Forderung nach Abschaffung der Polizei populärer wird, so teilen doch andererseits viele den weiterverbreiteten Glauben, dass es ganz ohne Polizei auch nicht geht. Doch wie gesagt, in unserem Aufstand haben wir auch damit begonnen – mussten wir damit beginnen! – uns in den Nachbarschaften zu organisieren. Daran müssen wir jetzt anknüpfen, um eigene Strukturen zu schaffen, die Vertrauen genießen und die Polizei ersetzen können. Da haben wir echt viel zu tun.
In Minneapolis gab es in der Vergangenheit eine sehr gut organisierte Black-Lives-Matter-Bewegung. Nach dem Mord an Jamar Clark 2015 etwa gab es die 18-tägige Besetzung eines Polizeireviers, die von BLM organisiert wurde. Wie ist das heute? Wer führt die Bewegung in Minneapolis an, wo werden Vorschläge diskutiert, wie es weitergehen kann?
Einerseits ist es wirklich schön, was hier vor Ort passiert: Die Bewegung ist organisch, sie wird nicht angeführt von irgendeiner zentralisierten Organisation, es sind Schwarze Jugendliche und PoC, die aus den Arbeiterstadtteilen kommen, die das Sagen haben in der Bewegung und die sich gegen institutionalisierte Kräfte wehren, die versuchen, ihnen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben oder was der richtige Weg ist.
Auf der anderen Seite gibt es gerade diesen Moment, in dem viele Menschen in Minneapolis die Beschränktheit des Kapitalismus erleben und verstehen, und es gibt keine organisierte linke Kraft in unserer Stadt, die in der Lage ist, einen Weg nach vorne zu weisen. BLM in Minneapolis hat sich 2017 aufgelöst, es gibt eine Nachfolgeorganisation, das Black Visions Collective (BLVC), die einen Stamm an Organizern hat, sich aber in den vergangenen Jahren eher darauf konzentriert hatte, innerhalb der bestehenden Verhältnisse Lobby-Arbeit gegenüber der Politik zu machen. Es gibt also derzeit keine starke Schwarze Organisation vor Ort auf der Straße, die antirassistisch ist und sich auf die Arbeiterklasse bezieht.
Was es gibt, sind gewachsene Strukturen in den traditionellen Schwarzen Arbeiterbezirken, wie Nord-Minneapolis, wo die Menschen es gewohnt sind, zusammenzukommen, sich zu unterstützen und auch Selbstverteidigung zu organisieren. Dort, in Nord-Minneapolis, gibt es zurzeit vermehrt Attacken von rassistischen Vigilanten – vor dem Hintergrund haben sich die dort existieren Selbstverteidigungsstrukturen verstärkt.
Gerade in den ersten Tagen des Aufstandes erhielten Riots und Plünderungen breite Aufmerksamkeit. Auf der einen Seite sind sie Ausdruck einer enormen Wut, auf der anderen Seite werden sie von Trump und den Medien genutzt, um ein abschreckendes Bild der Proteste zu zeichnen. Was denkst du darüber?
In einem System des auf Rassismus basierenden Kapitalismus sind wir es, die die ganze Zeit ausgeplündert werden! Ich habe daher absolut kein Problem, wenn Schwarze Jugendliche aus der Arbeiterklasse Läden von Unternehmen plündern, die beispielsweise gegen einen Mindestlohn von 15 Dollar waren oder die dafür bekannt sind, Abermillionen von ihren Arbeiter*innen zu stehlen. Sie haben Versicherungen, sie haben beste Beziehungen mit Politikern, die Kosten der Plünderungen und Beschädigungen werden an sie zurückgezahlt werden. Wahrscheinlich werden sie das sogar aus Steuerzahlungen zurückerstattet bekommen, obgleich sie Milliarden Dollar auf irgendwelchen Offshore-Konten liegen haben, mit denen sie für die Kosten der Schäden ohne weiteres selbst aufkommen könnten.
Ein wenig anders ist es mit den Plünderungen in Arbeiterstadtteilen, wo das Lebensmittelgeschäft eine wichtige Infrastruktur ist. Ich wünschte, dortige Plünderungen würden in die reichen Stadtteile verlagert, dorthin, wo die CEOs und Manager leben. Wir sollten auch nicht vergessen, dass wir uns inmitten einer Pandemie befinden, in der die schwächsten unter uns Arbeiter*innen die am meisten Gefährdeten sind, jene, die finanziell am kämpfen sind. Das ist auch der Grund, warum etwa DSA unter anderem Lebensmittelverteilungen in solchen Stadtteilen organisiert.
Ich habe den Eindruck, dass dieser Aufstand, der eine unmittelbare Reaktion auf anhaltende Polizeigewalt ist, auch vor dem Hintergrund eines Präsidenten gesehen werden muss, der immer wieder Öl ins Feuer gießt, aber auch vor dem Hintergrund der Covid-19-Krise, von der überdurchschnittlich Schwarze und People of Color betroffen sind, die viel häufiger sterben als Weiße. Siehst du diese Verbindungen auch?
Klar. Wir werden von allen Seiten brutal betrogen. Ich denke, dass wir definitiv an einem Wendepunkt sind. Im Laufe der letzten Monate wurden unsere Leben auf sehr vielfältige Weise zerstört, es gibt die Covid-19-Krise, die tödlichste Epidemie seit Jahrzehnten, die unsere Wirtschaft auf den Kopf gestellt hat, die Ausbeutung intensiviert und den Ausgebeuteten gleichzeitig klar gemacht hat, dass sie entbehrlich, ihre Leben nichts wert sind.
Insbesondere Schwarze und Arbeiter*innen of Color werden gezwungen, ihr Leben zu riskieren, von Politikern, die sich in ihre Millionen-Dollar-Anwesen zurückziehen und dort sehr komfortabel leben. Und dann haben wir diesen Präsidenten, der eine rechte konservative Bewegung befeuert und dieser Bewegung eine politische Plattform gegeben hat. Ich sage immer: Ich wünschte, die Linke wäre so organisiert wie diese rechte Bewegung! Sie sind echt vorangekommen und stark. Und wir müssen uns im klaren darüber sein, dass – gerade auch hier in Minnesota – White Supremacists nicht nur die Typen sind, die mit Knarren rumrennen, sondern oft sind es unsere Manager, die Leute, an denen du im Supermarkt vorbei läufst, es sind Leute, die tief in unserem System verwurzelt sind. Auch deshalb können wir nicht einfach wieder zurück zum business as usual.
Ich kann nicht in einem System weiterleben, das die Vernichtung meines Lebens autorisiert und in dem ich nichts weiter dagegen machen können soll als zu wählen und mich in einer Zivilgesellschaft zu engagieren, die dafür da ist, unsere wirtschaftlichen und politischen Eliten zu schützen. Ich brauche etwas anderes als das! Und wenn das bedeutet, dass Leute auf die Straße gehen und ein Polizeirevier niederbrennen, um etwas zu erreichen, dann ist das der Punkt, an dem wir jetzt sind.