»Wir haben gezeigt, was möglich ist«
Die britische Gewerkschaft United Voices of the World organisiert prekär Beschäftigte und hat Erfolge mit kollektiven direkten Aktionen
Von Christian Bunke
Oft wird dieser Tage über »systemrelevante Arbeitskräfte« geredet, die in der Gebäudereinigung, als Krankenpfleger*innen oder an der Supermarktkasse während der Corona-Pandemie buchstäblich den Laden am Laufen halten. Und egal, in welches Land man schaut: Nach dem Ende des Applauses bleibt genau für diese Menschen nur die traurige Wirklichkeit von Niedriglöhnen und Ausbeutung übrig. Bei Lohnverhandlungen sind Gewerkschaften oft entweder nicht willens oder in der Lage, etwas herauszuholen.
In der britischen Hauptstadt London zeigt eine 2014 gegründete Gewerkschaft, dass es auch anders gehen kann. Die »United Voices of the World (UVW)« steht außerhalb des britischen Gewerkschaftsbundes TUC und organisiert Migrant*innen, Prekarisierte und Niedriglöhner*innen. Inzwischen hat sie 5.000 Mitglieder und innerhalb weniger Jahre Dutzende Arbeitskämpfe geführt und gewonnen. Viele dieser Kämpfe haben politische Bedeutung. So führte ein seit Herbst 2019 geführter Arbeitskampf von ausgegliederten Reinigungsarbeiter*innen im St.-Marys-Krankenhaus in London im Frühling 2020 zur Wiedereingliederung von 1.500 Beschäftigten in das öffentliche Gesundheitswesen. Ein echter Schlag gegen die Privatisierungsagenda der vergangenen Jahrzehnte. All dies gelang mit geringen Ressourcen, einem fast nicht vorhandenen Hauptamtlichenapparat und mangelhafter Infrastruktur. Über zwei Jahre hinweg hatte die junge Organisation weder Bankkonto noch Büro. Kurz gesagt: Die UVW hat nichts von dem, was große, etablierte Gewerkschaften für ihre Arbeit scheinbar brauchen.
Ein Mitbegründer der UVW ist Petros Elias. Viele Jahre lebte er in Venezuela, in London engagierte er sich in der lateinamerikanischen Community, beteiligte sich an Solidaritätsgruppen für die chavistische Regierung in Venezuela: »Was mich störte – die haben die lateinamerikanischen Arbeiter*innen in London nicht organisiert. Sie haben sie nur zu den bereits existierenden großen britischen Gewerkschaften weitergeschickt«, erzählt er im Gespräch mit dem Autor. Doch in diesen Gewerkschaften gab es nur eine kleine Lobby für die Organisierung migrantischer Reinigungskräfte mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Die Hürden für die Selbstorganisation waren hoch: »Es gibt in Großbritannien einen großen Mangel an Community, an Orten, wo man sich treffen und austauschen kann«, so Elias. Es gebe ein paar kulturelle, aber keine politischen Orte, außer jenen, die von Nichtregierungsorganisationen angeboten werden. »Aber NGOs bieten nur Dienstleistungen an.«
Die Bereitstellung eines Raumes, damit sich lateinamerikanische Reinigungskräfte in London über ihre Lage austauschen konnten – das wurde dann auch zum Ursprung der UVW. »Wir wollten diese schlecht bezahlten, migrantischen Arbeiter*innen sichtbar machen«, sagt Elias. »Wir haben den nötigen Platz zum Aufbau einer Community geboten und Workshops organisiert.« Doch dabei blieb es nicht. Schnell kam die direkte Aktion hinzu. »Während einer Veranstaltung – es waren wohl 50 Leute da – hat ein Kollege erzählt, wie schlecht er an seinem Arbeitsplatz behandelt wird. Wir sind dann sofort mit zwei voll besetzten Londoner Doppeldeckerbussen hingefahren und haben mit Dutzenden lateinamerikanischer Arbeiter*innen diesen Arbeitsplatz gestürmt. Für die meisten der Beteiligten war es die erste direkte Aktion ihres Lebens. Unsere Mitglieder sind überwiegend keine Militanten, keine Mitglieder linker Organisationen. Aber diese Aktion hat sie zusammengebracht und vereinigt.«
Über zwei Jahre hinweg hatte die junge Organisation weder Bankkonto noch Büro.
Kollektive direkte Aktion ist bis heute das Schlüsselelement der Organisationsarbeit der UVW. Elia verhehlt dabei im Gespräch nicht die großen Hürden, die dem in Großbritannien entgegenstehen. Es gibt drakonische Gewerkschaftsgesetze, die spontane Streiks illegalisieren. Für Urabstimmungen braucht es ein kompliziertes Briefwahlsystem, das sich über Monate hinzieht. Abstimmungen am Arbeitsplatz sind illegal. Unternehmen führen schwarze Listen gegen gewerkschaftliche Aktivist*innen, und Geheimdienste operieren offen gegen die gesamte britische Gewerkschaftsbewegung. (1) Derzeit wird im Unterhaus ein Gesetzentwurf debattiert, der verdeckt operierenden Geheimdienstmitarbeiter*innen bei Aktionen wie Erpressung, Raub, Einbrüchen oder gar Mord Straffreiheit garantieren soll. Das sei eine ernsthafte Bedrohung für alle in Großbritannien tätigen Gewerkschaften.
Repression und Furcht vor Abschiebungen
Dieser Repressionsdruck und die Furcht vor möglichen Abschiebungen bei einem unsicheren Aufenthaltsstatus erzeugen Angst bei den Beschäftigten. »Aber unsere Mitglieder haben gelernt«, so Elia, »dieser Angst durch gemeinsame Aktionen ins Auge zu sehen. Arbeiter*innen können Angst überwinden, wenn sie merken, dass Aktionen effektiv sind, dass die Gewerkschaft mit ihnen kämpft und sie verteidigt.« Wichtig sei, dass von Anfang an das Selbstbewusstsein der Mitglieder aufgebaut werde.«
Auch abseits von Arbeitskämpfen ist die Bedrohung für UVW-Mitglieder groß. Prekarität bedeutet Lebensgefahr. Am 23. April starb der für eine ausgelagerte Firma im Justizministerium arbeitende Gebäudereiniger und UVW-Gewerkschafter Emanuel Gomes an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. Trotz Krankheit schleppte er sich zur Arbeit, weil seine Firma ihm und seinen Kolleg*innen das Krankengeld verweigerte. Inzwischen konnte die UVW in seinem Andenken für die Reinigungskräfte im Justizministerium die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpfen.
Oft sei es die Mundpropaganda, weniger der Auftritt in sozialen Netzwerken oder die Medienarbeit, die Kolleg*innen erstmals den Kontakt mit der UVW suchen lässt. »Meistens geht es um scheinbar kleine Themen«, erzählt Petros Elia. Die Leute würden sagen: »Mein Chef ist ein Arschloch, ich kriege nicht die nötige Arbeitsausrüstung, meine Löhne sind zu niedrig, mir wird nicht gezahlt, was mir zusteht, die Arbeitszeiten sind zu lang, bitte schreibt einen Protestbrief für mich«. Doch für die UVW fange hier die Arbeit erst an. »Wir setzen uns mit den Leuten hin und versuchen zu ergründen, was eigentlich hinter diesen Problemen steht.«
Arbeitskampf für Insourcing
So fing auch Anfang Oktober 2019 der Arbeitskampf des Reinigungspersonals beim St.-Marys-Krankenhaus in London an. Eines Tages meldete sich eine Gebäudereinigerin bei der UVW und klagte über ausstehende Löhne. Schon bald wurde die eigentliche Tragweite des Konflikts deutlich. Das 1.500 Kolleg*innen zählende Reinigungspersonal in dem Krankenhaus war an den transnational tätigen Sodexo-Konzern ausgelagert worden. Das staatliche Gesundheitssystem NHS sparte so bei den Löhnen. Denn Sodexo-Beschäftigte kriegen gerade einmal den gesetzlichen Mindestlohn von 8.21 Pfund pro Stunde. Wären die Kolleg*innen direkt beim Krankenhaus angestellt, würden sie pro Jahr und Person 10.000 Pfund höhere Löhne erhalten. »Sodexo ist ein profitgesteuerter Konzern. Um den Vertrag mit dem Krankenhaus zu bekommen, musste das Unternehmen unerfüllbare Versprechungen machen. Für die Beschäftigten bedeutete dies hoher Arbeitsdruck, kein Krankenstandgeld und niedrige Löhne«, sagt UVW-Mitbegründer Petros Elia.
Nun stand die UVW vor einer strategischen Frage: Welche Forderungen sollte sie aufstellen und wer war das Angriffsziel? Laut Petros Elia hätte die Gewerkschaft es für sinnlos gehalten, mit Sodexo in Lohnverhandlungen einzutreten. Stattdessen wollte sie die Auslagerung der Gebäudereinigung beenden und so höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für alle durchsetzen. »Uns war klar, dass wir die Krankenhausverwaltung unter Druck setzen mussten«, sagt Elia. Also wurde eine erste Betriebsversammlung einberufen, zu der nur 20 Leute kamen. »Die Skepsis war zunächst groß«, so Elia weiter. Die Kolleg*innen hätten gesagt: »Ihr wollt uns nur Mitgliedsbeiträge abknöpfen und uns einen schlechten Deal verkaufen.« Woraufhin Elia und seine Mitstreiter*innen erklärt haben, dass sie gemeinsam mit den Kolleg*innen bis zur Erfüllung aller Forderungen kämpfen werden, dass es die Kolleg*innen sein werden, die immer die Kontrolle über ihren eigenen Arbeitskampf haben werden, dass die am Arbeitskampf beteiligten Kolleg*innen jede taktische und strategische Entscheidung selber fällen können. »Und so haben wir es auch durchgezogen.« Und schon bald haben sich 100 Kolleg*innen – viele aus Osteuropa – an den Betriebsversammlungen beteiligt. »Wir waren auch immer ehrlich und haben erklärt, dass es keine garantierten Siege, keine magische Silberkugel gibt.« Am wichtigsten seien der gemeinsame Kampf und die Selbstorganisation der Leute vor Ort, so Elia.
Dass es der Gewerkschaft damit ernst war, konnte sie bald unter Beweis stellen. Immer wieder bestreikten die UVW-Aktivist*innen das Krankenhaus und organisierten sogar eine symbolische Besetzung der Krankenhausflure. Gleichzeitig übten sie Solidarität mit anderen Branchen. »Uns ist wichtig, unsere Arbeitskämpfe so weit wie möglich zusammenzuführen«, sagt Petros Elia. Während des Arbeitskampfes beim St.-Marys-Krankenhaus habe es auch einen Streik einer sehr kleinen Belegschaft eines Londoner Cafés gegeben. Die Belegschaft bestand nur aus zehn Leuten, sechs von ihnen waren streikbereit. Hätten sie für sich alleine gestreikt, sie wären schnell isoliert gewesen. »Wir sind mit hundert streikenden Gebäudereiniger*innen zu dem Café gefahren und haben alles blockiert und lahmgelegt. Es ist ein gemeinsamer Kampf. Das ist für uns mehr als nur ein Slogan«, stellt Elia klar.
Doch Solidarität ist kein Selbstläufer. Zwar erhielten die UVW-Streikenden am St.-Marys-Krankenhaus Unterstützung aus der breiteren britischen Gewerkschaftsbewegung. und auch Teile des Krankenhauspersonals sowie der Ärzteschaft solidarisierten sich, doch dafür brauchte es harte Erklärungsarbeit: Aus dem Pflegepersonal sei oft der Satz zu hören gewesen: »Warum sollen wir euch unterstützen, ihr arbeitet ja für eine Fremdfirma und nicht für das NHS«. Und die Situation weiter beschreibend, fährt Elia fort. »Da mussten wir immer erst erklären, dass genau das für uns das Problem ist, das wir abstellen wollen. Hier sieht man, wie Jahrzehnte des Neoliberalismus unter arbeitenden Menschen ihre Spuren hinterlassen haben.«
Trotz aller Hürden wurde die Krankenhausleitung schließlich an den Verhandlungstisch gezwungen. Nach einer Reihe von dreitägigen Streiks und der Androhung eines unbefristeten Streiks knickte sie ein. Der Vertrag mit Sodexo wurde nicht verlängert, 1.500 Reinigungskräfte sind seitdem direkt beim NHS angestellt. Das war ein wichtiger Prestigeerfolg. Petros Elia sieht die großen britischen Gewerkschaften nun in der Pflicht: »Die haben Milliardenbeträge auf ihren Bankkonten und Millionen Mitglieder. Es gibt drei Millionen Beschäftigte in ausgelagerten Jobs. Wir haben gezeigt, was möglich ist, wenn man sich anstrengt. Das erwarte ich jetzt auch von den Großgewerkschaften.«
Anmerkung:
1) Siehe Dave Smith und Phil Chamberlain: The Secret War between Big Business and Union Activists, Northampton 2015