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|ak 685 | Soziale Kämpfe

Keine Ruhe für Amazon  

Die Lohnpolitik des Unternehmens in Zeiten der Inflation bringt an vielen Standorten das Fass zum Überlaufen

Von Streiksolibündnis Leipzig

Amazon Fulfillment Center in der Schottischen Stadt Dunfermline: Wer hier mehrfach am Tag von A nach B muss, um den Arbeitssoll zu erfüllen, kann sich kaum Pausen erlauben. Foto: Scottish Government/Flickr , CC BY 2.0

Seit Monaten steigen die Preise, vor allem von Lebensmitteln und Energie, und weltweit trifft dies die Lohnarbeiter*innen im Niedriglohnsektor besonders hart. Das Unternehmen Amazon verkündet in dieser Situation Lohnerhöhungen, die deutlich unter der Inflationsrate in den jeweiligen Ländern liegen –  die drastisch gestiegenen Lebenshaltungskosten lassen sich damit kaum ausgleichen. Diese Lohnpolitik Amazons war im August Auslöser für Proteste von Arbeiter*innen in Großbritannien und in der Türkei, von denen wir im Folgenden berichten wollen.

Wilde Streiks in Großbritannien

Bereits seit den späten 1990ern ist Amazon auf dem britischen Markt aktiv, der für das Unternehmen einer der wichtigsten überhaupt ist. Der Konzern hat dort derzeit 69 Standorte. Die Gewerkschaften taten sich bisher schwer, diese Standorte zu organisieren, was auch an der bekanntermaßen gewerkschaftsfeindlichen Politik Amazons liegt. Auch im Rahmen der transnationalen Arbeiter*innen-Vernetzung Amazon Workers International gelang es uns nie, langfristig Kontakte mit britischen Arbeiter*innen aufzubauen.

Umso positiver überrascht waren wir, als es Anfang August an mindestens elf Amazon-Standorten – also immerhin an jedem sechsten – zu spontanen Arbeitsniederlegungen, Protesten oder Slowdowns, also der kollektiven Verlangsamung des Arbeitstempos kam. In den sozialen Medien wie TikTok kursierten Bilder von Beschäftigten, die die Betriebskantinen besetzten. Sichtlich überforderte Manager*innen versuchten, die aufgebrachten Belegschaften zu beruhigen. Eindrücklich ist dabei ein Video, in dem ein Geschäftsführer die Streikende als »animals« bezeichnete. Nach der Einschätzung von Kevin, dem National Organiser der Gewerkschaft GMB, mit dem wir in Mail-Kontakt stehen, hatten diese Bilder eine große Reichweite in den britischen Medien.

Der Ausgangspunkt der Proteste war die angekündigte Lohnerhöhung des Unternehmens um 35 Pence, was bei einem Lohn von elf Pfund eine Erhöhung um drei Prozent bedeutet.

Der Ausgangspunkt dieser Proteste war die angekündigte Lohnerhöhung des Unternehmens in Tilbury in der Nähe von London um 35 Pence, was bei einem Lohn von elf Pfund eine Erhöhung um drei Prozent bedeutet. Derweil lag die Inflationsrate in Großbritannien im Juli bei zehn Prozent. Bis Oktober, so prognostizieren britische Forschungsinstitute, könnte sie auf bis zu 13 Prozent weiter steigen. Die Lohnerhöhung bedeutet defacto also einen Reallohnverlust. Laut den Berichten der Arbeiter*innen spielten aber auch Themen wie Leistungsdruck und schlechte Behandlung durch das Management, die an allen uns bekannten Amazon-Standorten ein Problem sind, eine wichtige Rolle – die Lohnerhöhung brachte das Fass zum Überlaufen.

In den sozialen Medien ist die Bewegung mittlerweile verstummt. Allerdings berichtet uns Kevin, dass die Kämpfe immer noch stattfinden. Er rechnet damit, dass Amazon mit Union-Busting-Maßnahmen wie der Entlassung der Anführer*innen der Proteste reagieren wird. Zumindest stellt sich die mitgliederstarke Gewerkschaft General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union (GMB) hierauf ein. Sie konnte die Kämpfe für Organising-Aktivitäten nutzen. So wurden vor mehreren Standorten Amazons während der Proteste Flugblätter verteilt. Jetzt verfügt die GMB in mehreren Amazon-Standorten über Betriebsgruppen. Zuletzt stimmten die 300 Gewerkschaftsmitglieder im Warenlager in Coventry mit 97 Prozent für einen offiziellen Streik über Lohnforderungen.

Allerdings ist unklar, ob es der GMB gelingen wird, die Wilde-Streik-Bewegung landesweit in geregelte Bahnen zu lenken. Der Arbeitssoziologe Callum Cant kritisiert die allgemeine Strategie der Gewerkschaft im Feld der Einfacharbeit, bei den neuen Servicedienstleistern des digitalen Kapitalismus. Die GMB sei darauf aus, mit Unternehmen wie Uber oder Deliveroo »schreckliche Verträge« abzuschließen, ohne selbst eine starke betriebliche Verankerung zu haben. Dies könnte dazu führen, dass der Aufbau von wirklich wirksamen Vertretungen der Interessen der Arbeiter*innen erschwert wird, wenn vorschnell Tarifverträge unterzeichnet werden.

Arbeiter*innenproteste in der Türkei

Auch auf der anderen Seite Europas, nämlich in der Türkei, fanden im August Proteste von Arbeiter*innen statt, die ebenfalls mit der dortigen Inflation im Zusammenhang stehen. (1) In der Türkei lag die Inflationsrate im Juli 2022 bei 80 Prozent.

Amazon ist seit 2018 auf dem türkischen Markt aktiv. Bisher werden die Warenlager vom Logistikdienstleister Ceva Logistics betrieben. Amazon dominiert mittlerweile den schnell wachsenden Onlinehandel in der Türkei und hat für den Herbst 2022 auch die Eröffnung eines eigenen Warenlagers nahe Istanbul angekündigt. Die Lohnerhöhungen bei Ceva können mit der nationalen Inflationsrate nicht mehr mithalten, sodass die Arbeiter*innen Reallohnverluste erleiden. Neben Fragen des Gesundheitsschutzes, der Überwachung und des fehlenden Respekts von Seiten des Managements war dies für die Arbeiter*innen ein Ausgangspunkt, um sich gewerkschaftlich in der Basisgewerkschaft DGD-SEN zu organisieren, die bereits in anderen Warenlagern von Ceva eine Präsenz hatte. Auf die Forderungen der Arbeiter*innen nach angemessenen Lohnerhöhungen reagierte das Unternehmen mit einer Entlassungswelle. Das ließen sich die Gewerkschaftsaktiven nicht gefallen – sie protestierten im August 2022 zwei Wochen lang vor dem Warenlager in Kocaeli nahe Istanbul gegen die Kündigungen. Bisher allerdings ohne Erfolg.

Ceva reagiert auf die Proteste gewaltsam. Die Arbeiter*innen berichten, dass im Werk Druck auf die Kolleg*innen ausgeübt wird, die sich mit den Protestierenden vor dem Werk solidarisieren. Trotzdem haben Arbeiter*innen das Arbeitstempo gedrosselt, woraufhin Zeitarbeiter*innen eingesetzt werden mussten. Die Arbeiter*innen vor dem Werk berichten davon, dass Militär und Tränengas eingesetzt wurden, um den Protest zu unterdrücken. 

Neben den Streikbewegungen in Großbritannien und der Türkei gehen auch in anderen Ländern die gewerkschaftlichen Aktivitäten weiter. In den USA kam es zuletzt in einem Amazon Air Hub, also einem Umschlagestandort, in dem Container mit Amazon-Waren be- und entladen werden, in Inland Empire, dem logistischen Hinterland von Los Angeles und San Bernadino, zu Walk Outs. 900 von 1.500 Arbeiter*innen unterschrieben eine Petition, in der neben sichereren Arbeitsplätzen Lohnerhöhungen um fünf US-Dollar bzw. um 30 Prozent gefordert wurden. In den USA liegt die Inflationsrate derzeit bei neun Prozent.

Die Lohnfrage wieder ins Zentrum rücken

Auch in Deutschland bezog sich ver.di in Flugblättern, die vor Verteilzentren verteilt wurden, auf die Inflation. Die deutschen Arbeiter*innen erwarten ebenfalls, dass sie bei den diesjährigen Lohnanpassungen Reallohnverluste erleiden werden. Es wird sich zeigen, ob dies den gewerkschaftlichen Bemühungen Auftrieb geben wird.

In vielen Ländern fuhr Amazon die Strategie, Löhne zu zahlen, die knapp über den gängigen lokalen Normallöhnen für Warenlager-Arbeiter*innen liegen.

In vielen Ländern fuhr Amazon die Strategie, Löhne zu zahlen, die knapp über den gängigen lokalen Normallöhnen für Warenlager-Arbeiter*innen liegen. Hierdurch wurde zum einen ein konstanter Zustrom an Arbeitskräften sichergestellt, zum anderen wurde damit die Entstehung von kämpferischen Arbeiter*innenbewegungen erschwert. So erschien die Lohnfrage den Gewerkschaften nicht mehr als die dringlichste bei den Auseinandersetzungen mit Amazon. In Deutschland fokussierte ver.di in den letzten Jahren bei seinen Auseinandersetzungen mit dem Unternehmen stärker auf Gesundheitsschutz und den Kampf gegen Überwachung und Kontrolle.

Vor dem Hintergrund der Inflation im Zuge der jüngsten Krisentendenzen, deren Auswirkungen weltweit zu beobachten sind, scheint sich dies zu ändern. Nach zwei Jahren der massiven (Über-)Expansion während der Pandemie, in der etliche neue Standorte eröffnet und neue Arbeiter*innen eingestellt wurden, scheint Amazon durch niedrige Lohnerhöhungen Kosten sparen und Leute aus dem Unternehmen drängen zu wollen.

In verschiedenen Ländern werden die Lohnerhöhungen von Seiten Amazons von den Arbeiter*innen als unzureichend zurückgewiesen und zum Ausgangspunkt für Proteste. Amazons Modell betrieblicher Herrschaft gerät ins Wanken, wenn die Arbeiter*innen unter dem Druck der Inflation stehen. In der Folge reagiert das Unternehmen mit Repression, die den despotischen Charakter des Arbeitsregimes offenlegen. 

Ende September wird in Poznań (Polen) ein Treffen von Amazon-Arbeiter*innen aus ganz Europa stattfinden, auf dem über eine Strategie der Beschäftigten angesichts Inflation und Union Busting diskutiert wird. Die Kämpfe in Großbritannien und in der Türkei werden den Arbeiter*innen als Inspiration dienen.

Streiksolibündnis Leipzig

unterstützt seit 2013 die Arbeitskämpfe bei Amazon. Neben der Unterstützungsarbeit vor Ort, liegt der Schwerpunkt des Bündnisses in der Förderung der transnationalen Vernetzung der Arbeiter*innen.

Anmerkung:

1) Hierzu führten wir ein Interview mit Arbeiter*innen aus der Türkei, die in die Kämpfe involviert waren. Es kann unter www.labournet.de/wp-content/uploads/2022/08/tr-amazon-streiksoli.pdf gefunden werden. Dieser Artikelabschnitt basiert auf den Antworten der Arbeiter*innen.