Wie weiter nach NSU, Halle und Hanau?
Migrantifa-Gruppen sollten nicht nur auf Rassismus fokussieren, sondern dem Rechtsruck die volle Breitseite geben
Von Manuel Massawa
Hanau war eine Zäsur. Für viele Schwarze Menschen, People of Colour und Migrant*innen zeigte sich wieder einmal, welcher Gefahr sie im alltäglichen Leben ausgesetzt sind. Auch der Nachklapp dieses Attentats zeigt, es ist eigentlich alles beim Alten: Die Polizei hat kein Interesse, einen solchen Anschlag und die, die noch folgen könnten zu verhindern; die Politiker*innen finden einen extrem rechten Anschlag »unvorstellbar« und die deutsche Linke ist geschockt. Nichts gelernt?
Die Frage ist berechtigt: Während der NSU noch unenttarnt durchs Land fuhr, zog 2006 eine Demo durch Kassel. Die Angehörigen der NSU-Opfer, die den Marsch organisiert hatten, forderten »Kein zehntes Opfer«. Die radikale Linke interessierte sich für die Mordserie wenig bis gar nicht. Diese Blindheit der weißen Linken hat dafür gesorgt, dass von Rassismus Betroffene sich lieber ohne weiße deutsche Linke organisieren. Die großen Black Lives Matter Proteste haben das befeuert und gezeigt: Es gibt viele wütende nicht-weiße Jugendliche, die sich die Straße nehmen und das ganz ohne eine weiß-deutsche Linke.
In den letzten Wochen und Monaten sind immer mehr Gruppen mit dem Namen Migrantifa in der Bundesrepublik entstanden. Sie politisieren die eigene Betroffenheit. Aber anders als andere migrantische Gruppen betreiben sie keine Exilpolitik oder, wie die vielen Refugeegruppen, auch keine Politik, die sich auf ein Thema fokussiert. Migrantifa-Gruppen versuchen die deutschen Verhältnisse hier anzugreifen. Jedoch scheint vielen dieser Gruppen die Kritik an Rassismus und Antisemitismus zu genügen. So richtig und drängend die Skandalisierung des immer offensiver auftretenden Rassismus ist, so sehr wird die politische Entwicklung in diesem Land durch eine Reduktion auf Rassismus verkannt.
Mehr als Rassismus
Wenn man die viel zu lange Liste rechter Todesopfer seit 1990 durchgeht, fällt eines auf: es finden sich auch viele deutsche Namen unter den Ermordeten. Oft sind es Wohnungslose, manchmal Punks oder Linke. Dies hat nicht nur mit den wenigen Migrant*innen in der ostdeutschen Provinz zu tun, die zu dieser Zeit ein Hotspot rechter Gewalt war und es bis heute ist. Vor allem liegt das an der nationalsozialistischen Idee von Volk. Nicht Teil der Volksgemeinschaft sind nämlich neben Jüdinnen und Juden und nicht-weißen Menschen auch Wohnungslose, Linke oder Leute, die sich nicht an das Leistungsdogma der Arbeitsgesellschaft anpassen. Die Verlierer*innen in der Konkurrenz um Wohnungen und Arbeitsplätze gelten in diesem Weltbild als »Schmarotzer«, mitunter wird ihnen sogar ihr Lebensrecht abgesprochen. Klingelt da was? Na klar, denn manches davon kennen wir in weniger drastisch von der liberalen Erzählung über die Leistungsgesellschaft. Wir erinnern uns: Thilo Sarrazin lieferte mit »Deutschland schafft sich ab« eine breit diskutierte völkische Idee der Bevölkerungspolitik, die auch eine gehörige Portion Nützlichkeitsdenken an menschliches Leben ansetzt. Diese Liberalen wollen die Armen und Ausgestoßenen zwar nicht mehr umbringen, aber sie gehören für sie hier trotzdem nicht her.
Aber auch die neueren Entwicklungen sind gefährlich: Während das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr neu organisiert werden soll, weil die Spezialeinheit sich eher auf die Wehrmacht als auf die Bundeswehr bezieht, finden sich in Gruppen wie Nordkreuz extrem rechte Umstürzler, unter anderem Polizisten, zusammen, um Munition aus staatlichen Beständen zu entwenden und Todeslisten von politischen Gegner*innen anzufertigen. Diese Struktur ist nicht nur rassistisch, sondern vernetzt sich offenbar auch für einen Putsch oder Bürgerkrieg. Nur ein paar Spinner? Keineswegs: Sie unterfüttern ihre Pläne für den Tag X nicht nur ideologisch; sie sind qua Ausbildung und durch ihren besonderen Zugang zu allem was das Rechtsterroristenherz begehrt auch in der Lage, das entwendete Equipment einsetzen können. Auch hier herrscht mehr als einfacher Rassismus vor. Feinde sind eben alle, die sich gegen einen autoritären Staat stellen würden.
Putschen und Preppen
Gleichzeitig wurde die Polizei durch eine Reihe von Gesetzesänderungen mit immer mehr Befugnissen ausgestattet, meist vor dem Hintergrund, soziale Auseinandersetzungen mit militärischer Logik zu bekämpfen. Sie werden oft gegen linke Bewegungen eingesetzt oder führen im Alltag dazu, dass verletzliche Gruppen, wie Wohnungslose oder Illegalisierte, vermehrt dem gewalttätigen Zugriff der Polizei ausgeliefert sind.
Auch die Corona-Maßnahmen bieten neben dem verständlichen Anliegen, das Virus einzudämmen, ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, den öffentlichen Raum mit polizeilichen Befugnissen zu kontrollieren. Das Verbot der Hanau-Gedenkdemo und die Erlaubnis der Berliner Corona-Leugner*innen-Demo zeigen hier vor allem, dass die Verordnungen auch instrumentell gegen unliebsame Themen von Polizei und Verwaltung eingesetzt werden können.
Die Verschiebung des Sagbaren findet schon seit langer Zeit statt. Seit Sarrazin darf wieder entspannt über den Genpool neuer und alter Einwandernder diskutiert werden. Und während kritische Journalist*innen versuchen Björn Höcke und Andreas Kalbitz von der AfD jeden möglichen Kontakt zu verbotenen neonazistischen Organisationen nachzuweisen, sitzen Journalist*innen von MDR und RBB munter mit diesen Faschisten beim Sommerinterview zusammen.
Neuer Stammtisch
Ein Großteil der bürgerlichen Öffentlichkeit versteht diese Leute als das, was sie immer waren: Ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Schließlich ist die AfD doch eine demokratisch gewählte Partei, nicht wahr? Viele Deutsche fühlen sich so richtig premium-demokratisch, wenn sie Höcke dieser Tage im MDR darüber schwadronieren hören, dass die »Parteien zu viel Macht« in diesem Staat haben. Dass da nicht nur ein Rassist, sondern auch ein Propagandist des autoritären Staates sitzt, kann in dem ganzen Demokraten-Brimborium schon mal untergehen.
Als die NPD noch als die Repräsentantin eines autoritären bis faschistischen Staates galt, musste man lange Fernsehen gucken, um Udo Voigt, den damaligen Vorsitzenden, in einem Interview im öffentlich-rechtlichen zu sehen. Meist sah man die Neonazis als Scherzopfer in der Satiresendung Extra 3, bei ihren kläglichen Versuchen im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern auch nur einen geraden Satz ins Mikrofon zu sprechen.
Für das bürgerliche Lager war die Distanzierung einfach, allein aus ästhetischen Gründen wollte man mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Der Abstand ist geringer, wenn Höcke und Kalbitz mit ihren weißen Hemden genug Stimmen für die nächste Landtagswahl einfangen. Zum einen ist Höcke mit seiner Bildung als Gymnasiallehrer, der vielleicht Hölderlin zitieren kann, der Gegenentwurf zum Kameradschaftskader. Zum anderen sind Positionen, die demokratische Rechte einschränken und offen rassistisch sind, spätestens seit Seehofers Heimatministerium legitime Positionen in der bürgerlichen Mitte. Da ist den Journalist*innen und CDU-Politiker*innen auch egal, ob Höcke oder Kalbitz ihren Sommer in Zeltlagern von Organisationen verbringen, die sich als Nachfolge der Hitlerjugend verstehen.
Um als Migrantifa-Gruppen in dieser Entwicklung handlungsfähig zu werden, braucht es eine wichtige Einsicht: Rechtsruck ist mehr als Rassismus. Hinter dem Hass auf als »undeutsch« geltende und dem ewigen Antisemitismus der Neonazis steht meistens ein Konzept von Gesellschaft, das autoritär ist. Das bedeutet auch eine liberale Auffassung von Ökonomie: verstärkte Konkurrenz, Gewerkschaftsfeindlichkeit und Antikommunismus.
Was zu tun ist
Die weiße deutsche Linke hingegen sollte die Selbstorganisierungsversuche der Migrantifa-Gruppen begrüßen und sie solidarisch unterstützen. Beide müssen anfangen zu verstehen, dass während des Rechtsrucks nicht nur Schwarze, PoC, Jüdinnen und Juden sowie Migrant*innen und Opfer rechter Gewalt werden können, sondern dass es auch immer gegen Linke geht oder Menschen, die nicht in das Bild einer produktiven Volksgemeinschaft passen. Insbesondere die vermehrte Bewaffnung und Vernetzung eines rechten Milieus bis in die Polizei und Bundeswehr, was von der bürgerlichen Politik gerne bagatellisiert wird, ist eine große Gefahr für Linke jeder Richtung. Auch sollten die Migrantifa-Gruppen nicht vergessen, dass sie auch linke Gruppen sind und damit doppeltes Angriffsziel rechter Strukturen werden können.
Vor allem die Entfesselung der neuen faschistischen Bewegung sollte dazu führen, dass mehr Bündnisse von weißen Linken und organisierten Schwarzen Menschen, PoC und Migrant*innen gebildet werden. Die Kasseler Demo mit dem Motto »Kein zehntes Opfer« im April 2006 und der NSU zeigen auch, dass hierbei die Differenzen zwischen migrantischer Deutung und linken Gruppen nicht weggewischt werden dürfen. Sie können als Stärke im Kampf genutzt werden.