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Wenn die Waffen schweigen

Combatants for Peace verbindet ehemalige Kämpfer*innen aus Israel und Palästina, die sich für Frieden einsetzen, miteinander

Interview: Renate Clauss

Eine Gruppe Demonstrierender mit grünen Plakaten, geht eine staubigen Weg hinunter
Die CfP zeigen mit einer gewaltfreien Aktion ihren Protest gegen die Politik in Israel und Palästina. Foto: CfP/forumZFD

Im Interview sprechen Rotem Levin, ehemaliger israelischer Soldat, und Osama EIiwat, ehemaliger Kämpfer im palästinensischen Widerstand, von den Combatants for Peace, warum sie der Gewalt abgeschworen haben. Sie machen zudem Vorschläge für einen Nahen Osten ohne Krieg.

Wieso habt ihr die Waffen niedergelegt?

Rotem Levin: Aufgewachsen in einem liberal-zionistischen Dorf hörte ich erstmals von Palästinenser*innen im Zusammenhang mit Anschlägen auf Linienbusse. Ich verließ den Bus oft schon vor meiner Haltestelle, wenn ich Menschen Arabisch reden hörte. Wir lebten in unserer eigenen Welt und lernten in der Schule nur das, was uns in unserer Welt halten sollte.
In der Schulzeit fuhren wir nach Polen zu den Konzentrationslagern und lernten dort, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können. Der Militärdienst war selbstverständlich. Einmal im Jahr wird Jom haZikaron zelebriert, der nationale Gedenktag für alle seit 1948 Gefallenen. Er wird öffentlich begangen, in Schulen und Familien – auch in meiner. Ich wollte »dienen« und war überzeugt, das Moralischste in meinem Leben zu tun.

Beim Militär bekamen ein Freund und ich im Westjordanland den Befehl, Schockgranaten in ein Haus zu werfen. Wir taten es einfach. Später kamen meinem Freund Bedenken, »wir sollten solche Dinge nicht tun« – wieso war ich nicht selbst darauf gekommen?

Während des Studiums lud mich ein Freund zu einem Dialogseminar in Deutschland mit Palästinenser*innen ein. So hörte ich erstmals von palästinensischen Flüchtlingslagern. Sie erzählten von der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser*innen 1948 nach Jordanien, Syrien und in den Libanon. Ich begann zu lesen.

Meine Familie und meine Freund*innen wollten meine Fragen nicht hören. Bei Friedensdemonstrationen traf ich Israelis und Palästinenser*innen, die beide Narrative respektierten. Ich beschloss, zu ihnen in die Westbank zu ziehen. Ich lernte Arabisch und verstand plötzlich die Menschen neben mir im Bus, die über Einkäufe, nicht über Anschläge sprachen.

Osama Eliwat: Ich habe eine völlig andere Geschichte: Als Kind hörte ich von meiner Großmutter das Wort Nakba. Weil mein Großvater 1948 heimlich nach Jerusalem zurückkehrte, haben wir dort Familie. Als ich zehn Jahre alt war, mussten wir umziehen (1). Vor der Schule sah ich jeden Tag Soldat*innen und Jeeps. Sie sprachen mich auf Hebräisch an. Als ich es meiner Mutter erzählte, sagte sie nicht, »das ist die israelische Armee« – sie sagte »die Juden«. So setzte ich Judentum und Militärs gleich.
Dass die Schule während der ersten Intifada geschlossen wurde, fand ich gut. Tag und Nacht patrouillierten Soldat*innen durch die Straßen. Ich hörte im Bett Schüsse und hatte Angst. Als ich 14 Jahre alt war, nahmen sie meinen Vater mit. Ich beschloss nachts mit Freunden Graffiti zu sprühen, »Free Palestine«. Das ärgerte die Soldat*innen, meine kleine Rache. Aber wir wollten eine palästinensische Fahne herstellen – nur wussten wir nicht, wie sie aussah. Wir hängten sie verkehrt herum auf, aber es war ein gutes Gefühl. Ein paar Tagen später holten bewaffnete Soldaten meine Freunde und mich nachts ab. Wir wurden in Administrativhaft genommen.

Freigelassen schloss ich mich voller Hass dem Widerstand an und wurde verhaftet, aber wegen des Oslo-Abkommens vorzeitig entlassen. Nach dem Abkommen hatte ich das Gefühl, dass sich etwas änderte. Ich trat der palästinensischen Polizei bei, um mein Volk und meine Familie zu schützen. Das Abkommen diente Israel: Sie bauten weiter Siedlungen, ihre Form von Frieden. Ich verließ die Polizei. In den folgenden sieben Jahren der zweiten Intifada habe ich viele Freunde verloren. Damals wollte auch ich sterben. Aber ich bin noch hier.

Im Winter 2010 nahm mich ein Freund zu einem Treffen mit Friedensaktivist*innen mit. Ich war gespannt: nette Europäer, mit denen ich mein Englisch aufbessern könnte. Aber im Raum trug einer eine Kippa. Ich fragte meinen Freund schockiert, ob er sich im Raum geirrt habe und ging. Von draußen hörte ich, wie sie über die Besatzung, über die Rechte der Palästinenser*innen, die Siedlungen und Apartheid sprachen. Ich wollte mehr wissen und nahm an einer Tagung teil, bei der ich mit einem Israeli in einem Zimmer übernachten sollte. Das wollte ich nicht, denn – so dachte ich – wenn ihm etwas zustieße, wäre ich schuld.

Am nächsten Morgen traf ich einen der interessantesten Menschen in meinem Leben:  Er hatte sich als Soldat geweigert, ein zwölfstöckiges Gebäude in Gaza zu bombardieren, in dem ein Hamasführer vermutet wurde. Er verstand meine Geschichte. Ich hörte zum ersten Mal vom Holocaust. Ich besuchte Konzentrationslager. Wenn man mit Menschen gemeinsam etwas verändern will, muss man ihre Ängste, ihre Traumata kennen.

Combatants for Peace (CfP)

Rotem Levin und Osama Eliwat sind von der Basisbewegung CfP, die von Israelis und Palästinenser*innen für das Ende der Besatzung, für
Frieden, Gleichheit, Freiheit in ihrer Heimat zusammenarbeiten. 2006 gegründet, setzen sie auf Gewaltfreiheit, leisten zivilen Ungehorsam, machen Bildungsarbeit mit dem Ziel, den Konflikt zu überwinden und eine freie, friedliche Zukunft aufzubauen. https://cfpeace.org/ Foto: Renate Clauss

Wie groß sind die Combatants for Peace? Wieviele Frauen gibt es in eurer Organisation?

Rotem: Wir haben etwa 50 aktive Mitglieder. Combatants for Peace wurde von Männern gegründet, es kamen dann immer mehr Frauen dazu. Es gibt eine Frauengruppe bei uns.
Aktuell sind die »CEOs« für beide Seiten eine Israelin und eine Palästinenserin, Esther und Ana.

Mit welchen Gruppen arbeitet ihr zusammen?

Rotem: Wenn nur wir eine Demonstration organisieren, kommen etwa 600 bis 700 Leute, bei Bündnisdemonstrationen mehrere Tausend, richtig große Demos gibt es beim Alternativen Jom haZikaron, da waren bis zu 15.000 mit uns auf der Straße und 20.000 Follower live im Internet in der Coronazeit dabei. Diese Veranstaltung organisieren wir gemeinsam mit dem Parents Circle, einer Organisation von Eltern beider Seiten, die Angehörige im Konflikt verloren haben. Wir arbeiten auch mit Breaking the Silence, einer Gruppe ehemaliger und aktiver Soldat*innen, die über die Realität der Besatzung berichten.  Am wichtigsten ist uns ein Projekt, das die frisch aus der Armee Entlassenen begleitet – wenn sie die Wirklichkeit in Westbank und Gaza gesehen haben. Diese Leute um die 20 werden die überzeugtesten Aktivist*innen.

Unsere größte Schwierigkeit ist, dass viele jüdische Israelis ihre Privilegien nicht aufgeben wollen, sie demonstrieren gegen die Diskriminierung der Palästinenser*innen, aber gehen nicht weiter. Sie lehnen palästinensische Flaggen ab, weil diese Flaggen spalten würden, ihnen gehe es um Einheit, nicht um die Besatzung. Israelische Fahnen dagegen sind erlaubt. Ich dagegen stecke meine Energie lieber in gemeinsame Räume und Aktionen.

Wir brauchen einen Ort, an dem alle sicher und gleichberechtigt leben können.

Wie hat sich die politische Situation nach dem 7. Oktober verändert?

Osama: Der 7. Oktober war für alle ein Schock. Israel ist hochgerüstet, hat Milliarden in den Bau von Mauern, Sicherheitssystemen, Kameras sowie Flugzeuge gesteckt und wurde von dem Angriff überrascht. Die Hamas konnte durchbrechen, töten und entführen. Die Armee hielt sie nicht auf. Ich glaube, dass Palästinenser*innen ein Recht auf Widerstand haben. Aber es ist falsch, wahllos Kinder zu töten, Frauen zu entführen, zu vergewaltigen. Das passiert nicht in meinem Namen. Die israelische Armee ist zu relativ präzisen Schlägen fähig und kann dadurch Einzelpersonen töten. Jetzt wirft die Armee Tonnen von Sprengstoff auf Gaza und trifft die Zivilbevölkerung. Das ist ein Kriegsverbrechen.

Rotem:  Auch in der Westbank eskaliert die Gewalt: 400 Palästinenser*innen wurden seither dort getötet, 4.000 Menschen in Administrativhaft genommen; die Städte sind abgeriegelt. In Israel wird zunehmend das Wort »Nazi« für Palästinenser*innen benutzt, denn dann gelten sie als absoluter Feind.  

Was fordert ihr konkret?

Osama: Wir brauchen Schulen, in denen Palästinenser*innen und Israelis gemeinsam lernen und arbeiten, einander kennen und verstehen lernen. In Israel gibt es nur wenige solcher Schulen, weil viele dann den Militärdienst ablehnen könnten, wenn sie gemeinsam in der Schule gesessen und gelernt haben.

Rotem: Der Westen hat versucht, uns die Zweistaatenlösung zu verkaufen, weil er ein Interesse an einer Militärbasis im Nahen Osten hat. Das funktioniert nicht, wenn 700.000 Siedler im Westjordanland leben. Ohne Rückkehrrecht gibt es für Palästinenser*innen keine Gleichberechtigung.

Osama: Uns ist egal, ob es zwei Staaten, drei Staaten oder einen Staat gibt. Wir brauchen einen Ort, an dem alle sicher und gleichberechtigt leben können. Und wir brauchen niemanden, der uns sagt, wie wir unseren Konflikt beenden sollen. Und wir brauchen euch, weil wir gemeinsam etwas verändern können.

Renate Clauss

ist internationalistisch sowie antirassistisch aktiv und seit Oktober 2021 bei der Seebrücke.

Anmerkung:

1) Araber*innen, die länger als drei Jahre außerhalb der Grenzen Jerusalems leben, dürfen dorthin nicht zurückkehren.