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Festnahmen, eine Auslieferung und ein Vorwurf des »versuchten Mordes« – ein Überblick über die neue Dimension der Repression gegen Antifaschist*innen
Von Carina Book
In der Bundesrepublik ist wirklich gar nichts mehr gucci: In zwei Verfahrenskomplexen ermitteln die Behörden gegen Antifas – dem Antifa-Ost-Verfahren und dem Budapest-Komplex. Nach der Festnahme von Johann G. am 8. November und von Nanuk am 21. Oktober ist es Zeit, sich einen Überblick zu verschaffen.
Wie ist der Stand des Revisionsverfahrens im Fall Lina E.?
Im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren wurde Lina E. im Mai 2023 nach einem knapp 100-tägigen Indizienprozess unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Auch die Mitangeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und fünf Monaten und drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Während die erste Prozesshälfte mit »Wie Sie sehen, sehen Sie nichts« hätte überschrieben werden können, spielte die Bundesanwaltschaft in der zweiten Hälfte mit dem vermeintlichen »Kronzeugen« Johannes Domhöver ihren Trumpf. Domhöver, der ebenfalls im Antifa-Ost-Verfahren beschuldigt worden war, ergoss sich vor Gericht in wilden Interpretationen und Spekulationen, die letztlich zur Basis für die Verurteilung wurden. Sowohl die Bundesanwaltschaft als auch die Verteidigung haben Revision eingelegt.
Am 8. Februar 2025 soll beim Bundesgerichtshof eine mündliche Revisionsverhandlung stattfinden, bei der beide verhandelt werden. »Wenn der Bundesgerichtshof im Urteil des Oberlandesgerichts Dresden Rechtsfehler feststellt, so kann es zu einer Verweisung zur erneuten Verhandlung vor einen anderen Senat des Oberlandesgerichts Dresden kommen. Der Rechtsfehler muss dabei so bedeutsam sein, dass er sich auf das neue Urteil auch auswirken kann. Je nachdem, welche der beiden Revisionen Erfolg hat, kann es sich positiv oder auch negativ für Lina auswirken. Wenn beide Revisionen zurückgewiesen werden, dann ist das Urteil des Oberlandesgerichts rechtskräftig und Lina wird ihre Reststrafe antreten müssen«, ordnet Ulrich von Klinggräff ein, der Lina E. als Strafverteidiger vertritt.
Werden Lina E. und die Mitangeklagten gegen andere Beschuldigte vor Gericht aussagen müssen?
Noch gibt es keine Anklage für eine »zweite Runde« im Antifa-Ost-Verfahren, dass es jedoch zu einem weiteren Prozess kommen wird, ist vor dem Hintergrund des ungebrochenen staatlichen Verfolgungswillens mehr als wahrscheinlich. Strafverteidiger Ulrich von Klinggräff geht davon aus, dass auch die rechtskräftig Verurteilten, etwa im Verfahren gegen den gerade festgenommenen Johann G., ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach Paragraf 55 (Gefahr der Selbstbelastung) behalten werden. »Dies liegt insbesondere daran, dass es noch weitere Taten gibt, die der Vereinigung zugerechnet werden, aber bislang unaufgeklärt sind«, so von Klinggräff.
Wer ist Johann G.?
Johann G. wird gemeinsam mit Lina E. eine »herausgehobene Stellung« in einer kriminellen Vereinigung zugeschrieben. Seit 2020 war er für die Behörden nicht greifbar; im September 2023 startete der Generalbundesanwalt zusammen mit dem LKA Sachsen bundesweite Öffentlichkeitsfahndung und setzte ein Kopfgeld von bis zu 10.000 Euro auf ihn aus, die neonazistischen Freien Sachsen sekundierten und setzten ihrerseits ein weiteres Kopfgeld von 5.000 Euro aus. Zahlreiche Neonazis riefen im Internet dazu auf, nach Johann G. zu suchen und ihn zu ergreifen. Ende November 2023 flimmerte G. für Millionen deutsche Hilfssheriffs in der Sendung Aktenzeichen XY ungelöst über die TV-Bildschirme. Festgenommen wurde er schließlich am 8. November 2024 in einem Regionalzug in Thüringen durch das LKA Sachsen. Er ist sowohl im Antifa-Ost-Verfahren als auch im Budapest-Komplex beschuldigt.
Wer ist Nanuk?
Ebenfalls erst kürzlich verhaftet wurde Nanuk. Zielfahnder des BKA und des LKA Sachsen setzten ihn am 21. Oktober 2024 in Berlin fest. Er sitzt mittlerweile in der JVA Moabit in Berlin. Der Generalbundesanwalt wirft ihm die Unterstützung einer »kriminellen Vereinigung« vor – jene, wegen der Lina E. und die drei Mitangeklagten bereits verurteilt wurden. Hinzu kommt der Vorwurf der »gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung« und »Sachbeschädigung«. Konkret soll er sich der Gruppe um Lina E. und Johann G. »als Kampftrainer zur Verfügung« gestellt und mindestens ein »Kampfsporttraining« für die Gruppe veranstaltet haben. Außerdem wird ihm vorgeworfen, sich an einem Angriff auf die Nazikneipe »Bull’s Eye« in Eisenach beteiligt zu haben.
Worauf basieren die »Ermittlungsergebnisse« der Strafverfolgung?
Unvergessen ist in diesem Zusammenhang die Aussage des sogenannten »Kronzeugen« Johannes Domhöver, der Nanuk im Lina E. Prozess belastete und als Trainer der Gruppe exponierte. Überdies nannte er mehr als vierzig weitere Personennamen und brachte sie mit jeder Menge Hörensagen und Spekulationen in Zusammenhang. Dass es Domhövers Hauptinteresse war, in den Zeugenschutz zu kommen und sich selbst eine Strafmilderung zu organisieren, veranlasste weder die BAW noch den Senat des OLG Dresden, die Glaubwürdigkeit des Zeugen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Auch nach dem Lina E. Prozess tätigte Domhöver weitere Aussagen. Ein Großteil der vorgeblichen »Erkenntnisse« der Ermittlungsbehörden stützen sich auf seine Aussagen und spielen nun in verschiedenen Verfahren gegen Beschuldigte eine Rolle.
Wie kam Maja T. nach Ungarn?
Maja T. wird beschuldigt, sich an körperlichen Angriffen auf Neonazis in Budapest beteiligt zu haben. Im Dezember 2023 wurde Maja T. in Berlin festgenommen und in der Nacht auf den 28. Juni 2024 unter skandalösen Umständen nach Ungarn ausgeliefert. Tags zuvor hatte das Berliner Kammergericht die Auslieferung der non-binären Person in den queerfeindlichen EU-Staat für zulässig erklärt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion begann die Soko Linx mit der Überstellung, obwohl die Entscheidung über einen Eilantrag, den die Anwälte von Maja T. beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatten, noch ausstand. Gegen 11 Uhr morgens entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Maja T. nicht ausgeliefert werden dürfe, doch da war es schon zu spät. Seitdem sitzt Maja T. unter unmenschlichen Bedingungen in ungarischer Isolationshaft.
Wie geht es Maja T. in ungarischer Haft?
Maja darf nur zwei Stunden im Monat, getrennt durch eine Scheibe, Besuch sehen, zweimal eine Stunde skypen und 80 Minuten pro Woche telefonieren. Welche Folgen das hat, beschreibt Maja T. in einem Brief im Juli dieses Jahres so: »Ich bin vollkommen isoliert, was für mich psychisch eine sehr belastende Situation ist. Bis auf den Hofgang verbringe ich den ganzen Tag alleine in meiner Zelle.« In mehreren Briefen berichtet Maja T. zudem von Bettwanzen und Kakerlaken in der Zelle: »Heute habe ich entdeckt, dass mein Körper übersät ist mit roten Punkten, die jucken.« Gegen den Befall werde ohne Erfolg, dafür aber mit gesundheitlichen Folgen für Maja T. mit chemischen Insektiziden vorgegangen. So heißt es in einem weiteren Brief von Anfang August 2024: »Am Vormittag (Dienstag) fand das zweite Mal eine chemische Behandlung der Zelle statt. (…) Als ich danach wieder in die Zelle musste, war alles klitschnass. Zwar hatte ich bereits am Morgen Kopfschmerzen, doch danach hatte ich zusätzlich ein Gefühl der starken Schwäche, mir war übel und schwindlig.«
Was wird unternommen, um Maja T. zurückzuholen?
Die Berichte über die Haftbedingungen erinnern an jene der Italienerin Ilaria S., die ebenfalls im Budapest-Komplex angeklagt war und während ihrer U-Haft mit einem schockierenden Brief auf ihre Haftbedingungen aufmerksam gemacht hatte. Darin beschrieb sie, wie ihr Bettwanzen, Kakerlaken, Mäuse in den Zellen und Fluren, Unterernährung und Demütigungen zusetzten. Ihre Schilderungen hatten mit dazu geführt, dass Italien die Auslieferung eines weiteren Beschuldigten nach Ungarn abgelehnte, wegen der »Gefahr unmenschlicher Behandlung in ungarischen Gefängnissen« und den »berechtigten Befürchtungen hinsichtlich realer Risiken einer Verletzung von Grundrechten«.
In Deutschland ist indes nur Gleichgültigkeit wahrnehmbar: Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Generalstaatsanwaltschaft Berlin angewiesen hatte, Majas »Rückführung in die Bundesrepublik Deutschland zu erwirken« und die dramatischen Zustände in den ungarischen Gefängnissen auch den deutschen Behörden hinlänglich bekannt sind, sind bis heute keinerlei Bemühungen – auch keine diplomatischen – erkennbar, eine Rückführung nach Deutschland zu erreichen. Ende Oktober erfolgte in Ungarn eine Haftprüfung. »Dort wurde die Untersuchungshaft um weitere zwei Monate verlängert.«, erklärt Sven Richwin, der Anwalt von Maja T. gegenüber ak.
Wer ist Hanna S.?
Sieben Stunden lang durchsuchten sächsische Beamte in Zusammenarbeit mit der bayerischen Spezialeinheit USK am 6. Mai 2024 die Privaträume der Antifaschistin Hanna S. in Nürnberg. Auch sie soll sich an zwei Angriffen auf Neonazis am »Tag der Ehre« 2023 in Budapest beteiligt haben. Die damals 29-Jährige wurde festgenommen; inzwischen sitzt sie in U-Haft. Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) wirft ihr die Mitgliedschaft in einer »kriminellen Vereinigung« sowie »gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen« und mittlerweile auch »versuchten Mord« vor. Ähnlich wie bei Maja T. lehnte das Ermittlungsgericht diesen Vorwurf ab. »Das hielt die Generalbundesanwaltschaft aber nicht davon ab, die Anklage weiterhin auf Mordversuch zu stützen«, sagt Yunus Ziyal, der Strafverteidiger von Hanna S. auf Nachfrage. »Das OLG München muss über die Zulassung der Anklage entscheiden und auch, in welchem Umfang sie zugelassen wird. Eine Entscheidung steht noch aus.«, so Ziyal.
Warum versucht die Generalbundesanwaltschaft mit aller Kraft, den Vorwurf des versuchten Mordes in Stellung zu bringen?
Mord ist der einzige Tatbestand des Strafgesetzbuches, der eine lebenslängliche Freiheitsstrafe – ohne Strafrahmen – vorsieht. Dadurch verjährt die Tat nicht. »Das kann natürlich als Signal an Untergetauchte gelesen werden, dass eine Verfolgung bis in alle Ewigkeit erfolge. Es reiht sich aber auch ein in die Strategie politischer Dämonisierung antifaschistischer Beschuldigter. Das gilt auch für die Tatsache, dass der Komplex Antifa-Ost, wie auch jetzt der Budapest-Komplex, von der Generalbundesanwaltschaft bearbeitet wird«, schätzt Anwalt Yunus Ziyal ein.
Die Bundesanwaltschaft ist eigentlich zuständig für die dicken Bretter: Hochverrat, Landesverrat sowie für terroristische Vereinigungen oder bei Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verfolgung von weiteren staatsschutzrelevanten Straftaten übernehmen. »Auch über den konstruierten Staatsschutzbezug jazzt die Gegenseite die Verfahren hoch. Das setzt sich fort in Anklageerhebungen an Oberlandesgerichten, obwohl die angeklagten Taten normalerweise in die Zuständigkeit von Landgerichten fallen könnten«, so Ziyal weiter.
Was bedeutet das für die Gesuchten?
Weiterhin sucht das LKA Sachsen nach Antifaschist*innen, die beschuldigt werden, sich an Angriffen auf Neonazis in Budapest beteiligt zu haben und/oder Teil des Antifa-Ost-Verfahrens zu sein. Der Leipziger Volkszeitung sagte der Soko-Linx-Chef Denis Kuhne: »Wir lassen in unserer Ermittlungsarbeit nicht nach. Uns war und ist es auch ein Anliegen, dadurch einer möglichen weiteren Radikalisierung der Untergetauchten vorzubeugen«. Der Fahndungsdruck auf die gesuchten Antifaschist*innen bleibt also weiterhin extrem hoch. Die Eltern der Gesuchten organisieren sich derweil in einer Elterninitiative. Über ihre Kinder schreiben sie auf ihrer Webseite: »Viele von ihnen sind bereit, sich einem rechtsstaatlichen Verfahren hier in Deutschland zu stellen. Dies ist rechtlich auch möglich, wird aber bisher von der Generalbundesanwaltschaft abgelehnt.« Mit einer Petition appellieren sie an die Bundesregierung: »Unsere Kinder und andere Betroffene haben ein Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, Schutz und Würde.« Es läge auch in der Verantwortung der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass diese Rechte nicht verletzt und Menschen nicht an Autokraten ausgeliefert würden. Die Petition wurde inzwischen von 78.528 Menschen unterzeichnet.
Was ist eigentlich mit Tobias E.?
Tobias E. war sowohl Beschuldigter im Antifa-Ost-Verfahren als auch im Budapest-Komplex. Im Zusammenhang mit dem »Tag der Ehre« im Februar 2023 wurde er in Ungarn festgenommen und angeklagt. Der Prozess gegen ihn und die beiden Mitangeklagten Anna M. aus Deutschland und Ilaria S. aus Italien begann im Januar dieses Jahres in Budapest. Bei einer Vorverhandlung bekannte sich E. überraschend, Mitglied in einer »kriminellen Vereinigung« zu sein und erhielt zunächst eine Freiheitsstrafe von drei Jahren. Mit einer Berufung erreichte er, dass seine Freiheitsstrafe auf ein Jahr und zehn Monate verkürzt wurde. Unter Anrechnung der U-Haft dürfte Tobias E. mit einer zeitnahen Freilassung rechnen.
Die Europäische Grundrechtecharta verbietet die Doppelbestrafung: Ist jemand wegen einer Straftat in der Europäischen Union bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden, darf er wegen derselben Tat in einem anderen Staat nicht erneut verfolgt werden. Das Verfahren gegen Tobias E. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung müsste daher in Deutschland eingestellt werden.
Wie geht es weiter?
Angesichts der fortgesetzten Hochstilisierung von Verfahren zu »Staatsschutzangelegenheiten« und der intensiven Zusammenarbeit mit dem autoritären Regime in Ungarn wird der politische Druck auf Antifaschist*innen eher zunehmen. Mittelfristig muss sich zeigen, ob der Widerstand gegen diese Repression – etwa durch Proteste, juristische Schritte und die Solidarisierung in der Zivilgesellschaft – eine Gegenbewegung entstehen lassen kann, die dies infrage stellt. Sollte die Generalbundesanwaltschaft ihre Linie der maximalen Kriminalisierung beibehalten, dürfte diese »Shitshow« nicht nur andauern, sondern sich weiter zuspitzen.