Neue Lage, alte Fragen
Den digitalen Kapitalismus gibt es längst. Aber was ist mit dem digitalen Sozialismus?
Von Georg Fülberth
Immer wieder und wohl zutreffend wird behauptet, die gegenwärtige digitale Durchdringung von Produktion, Waren- und Geldzirkulation, Speicherung von Informationen sowie Kommunikation werde die Welt ebenso verändern wie die Erste Industrielle Revolution des 18. und des 19. Jahrhunderts. Sie gehört zu den grandiosen Hervorbringungen des Kapitalismus. Hat er mit den »im Schoß der alten Gesellschaft« (Marx) herangewachsenen neuen Produktivkräften seine Überlegenheit über jede andere denkbare Ordnung bewiesen und ist damit endgültig alternativlos geworden? Oder sind sie imstande, ihn aufzuheben, da seine Grenzen zu eng für sie geworden sind? Diese Frage ist ziemlich alt und stellt sich jetzt unter neuen Bedingungen.
Es begann vor über hundert Jahren: in der sogenannten Kalkulationsdebatte. Ausgerechnet bürgerliche, nicht sozialistische Ökonom*innen hatten sich als Erste Gedanken darüber gemacht, ob eine auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den zentralen Produktionsmitteln beruhende Planwirtschaft ebenso gut imstande sei, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen wie eine kapitalistische Marktwirtschaft.
Für die Sozialist*innen war diese Frage im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert schon beantwortet, bevor sie gestellt war: Gemeinwirtschaft sei der Privatwirtschaft nicht etwa ebenbürtig, sondern ihr überlegen. Das ergab sich aus der Logik sozialistischer Theorie und Politik: Ihre Forderungen nach einer anderen Gesellschaft resultierten aus der Kritik am Kapitalismus, zielten also auf die im Verhältnis zu diesem bessere Gesellschaft. Eine darüber hinausgehende Erörterung, durch welche konkreten Maßnahmen Produktion und Verteilung zu organisieren seien, lehnten zumindest die Marxist*innen als utopistische Modellschreinerei ab.
Anders einige bürgerliche Ökonomen: Alarmiert durch den Aufstieg der Arbeiterbewegung vor 1914, versuchten sie die Realitätstüchtigkeit gemeinwirtschaftlicher Vorstellungen zu überprüfen. Für sie war der Markt der Ort für die Regulierung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage. Es war herauszufinden, ob dies auch möglich sei, wenn in einer Planwirtschaft nicht private, sondern öffentliche Eigentümer an den Produktionsmitteln als Anbieter auftraten.
Der Italiener Enrico Barone (1859-1924) kam 1908 zu dem Ergebnis: Das könne im Prinzip klappen. Auch politische Instanzen in einer sozialistischen Gesellschaft seien in der Lage, die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder festzustellen und Verteilungsmechanismen zu deren Befriedigung zu ermitteln. Wie das im Einzelnen zu machen war, musste die Praxis zeigen.
Dieser Ernstfall trat 1917 – mit der Oktoberrevolution – ein, und die Diskussion begann neu, wieder zunächst von bürgerlicher Seite. Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises (1881-1973) veröffentlichte 1920 einen Aufsatz »Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen«, in dem er nachzuweisen versuchte, dass dieses, also das »sozialistische Gemeinwesen«, nicht imstande sei, den Menschen das jeweils beste, billigste und begehrteste Produkt zu beschaffen: Überfluss an unerwünschten Waren und Mangel an benötigten stünden sich stattdessen gegenüber.
Misesʼ Meisterschüler war Friedrich August von Hayek (1899-1992). Er gab 1935 einen Band mit dem Titel »Collectivist Economic Planning« heraus, in dem die Beweisführung seines Lehrers ausgearbeitet wurde. Der sozialistische Theoretiker Oskar Lange (1904-1965) nahm diese Herausforderung erstaunlich defensiv an: Der Staat könne als »Auktionator« von Angeboten miteinander konkurrierender gemeinwirtschaftlicher Unternehmen auftreten. Auch der Ökonom Abba P. Lerner (1903-1982) entwickelte ein solches Modell einer sozialistischen Marktwirtschaft.
Chile unter Allende: Cybersyn koordiniert Fabriken
Im sowjetischen Machtbereich widersprach dieses Konzept einem politischen Kontrollanspruch. Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung in der DDR ab 1963 (NÖSPL) verlagerte zwar Kompetenzen auf die betriebliche Ebene, doch auch hier war der Staat mehr als nur ein »Auktionator«. Im kapitalistischen Westen hatte eine sozialistische Marktwirtschaft ohnehin keine Chance, denn zuvor hätten die Betriebe, die ihre Angebote gemäß den Bedürfnissen potenzieller Kundschaft ausarbeiten und Preise kalkulieren sollten, ja erst dem Kapital entrissen werden müssen. In beiden Fällen standen Machtverhältnisse im Wege. Das merken wir uns jetzt schon einmal für den weiteren Fortgang unserer Überlegungen.
In Chile wurde während der Präsidentschaft Salvador Allendes (1970-1973) ein Versuch der Kombination von Plan und Markt begonnen – und zwar sogar noch vor der Realisierung einer dominanten sozialistischen Eigentumsordnung. Unter der Leitung des britischen Unternehmenstheoretikers Stafford Beer koordinierte das Projekt »Cybersyn« (Cybernetic Synergy) über ein System von Computern und Fernschreibern Fabriken mit der staatlichen Zentrale in Santiago. Seine Leistungsfähigkeit bewies es 1971, als es einen Streik von Fuhrunternehmern mit Hilfe von loyalen Konkurrenten, deren Angebote sie anforderte und nutzte, zumindest teilweise unterlaufen konnte. Der Putsch vom September 1973 verhinderte, dass weitere Erfahrungen gemacht werden konnten.
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischen Typs 1989 wurde ein weiterer Versuch unternommen, die Möglichkeiten einer bedarfsdeckenden Wirtschaft auf der Basis gesellschaftlichen Eigentums auszuloten, jetzt einerseits in Auswertung einer Niederlage, andererseits in Wahrnehmung von Chancen, die die inzwischen noch mehr fortgeschrittene Digitalisierung eröffnen könnte.
1993 veröffentlichten Paul Cockshott und Allin Cottrell das Buch »Towards a New Socialism«, seine deutsche Übersetzung erschien 2006 unter dem Titel »Alternativen aus dem Rechner. Sozialistische Planung und direkte Demokratie«. Neue mathematische Methoden und hohe Rechnerleistung machten es ihrer Meinung nach möglich, den Preis von Waren nicht länger aufgrund des Auspendelns von Angebot und Nachfrage auf dem Markt zu ermitteln, sondern ihn auf den Input von Arbeit, die für ihre Herstellung nötig ist, zurückzuführen.
Dies war ja schon der Ansatz von Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx gewesen, doch stand ihnen damals noch nicht die erforderliche Informationstechnologie zur Verfügung. Heute sei es möglich, die Nachfrage der Verbraucher(innen) abzurufen, sie mit den Angebotspotenzialen abzugleichen und beide dann in einen Prozess demokratischer Planung mittels Arbeitswerten einzubeziehen. Voraussetzung sei das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Darauf kann wiederum – wie schon in den beiden ersten Kalkulationsdebatten – gefragt werden: Muss das denn sein?
Zweiter Atem des Kapitalismus
Bevor über einen etwaigen digitalen Sozialismus geredet wird, sollte der digitale Kapitalismus betrachtet werden. Den gibt es nämlich schon, und er hat sich längst dem Problem der Abstimmung von Angebot und Nachfrage mithilfe der Informationstechnologie zugewandt. (Siehe ak 648) Das Ergebnis entspricht auf der formalen Ebene erstaunlich weitgehend dem Modell von Cockschott/Cottrell. Die koordinierende Instanz ist das Warenhandlungskapital.
Vorab eine begriffliche Klärung: Marx unterscheidet das industrielle, das zinstragende und das Warenhandlungskapital. Das industrielle Kapital ist heute so produktiv, dass, um Überakkumulation zu vermeiden, der Absatz in großem Maßstab organisiert und Nachfrage ständig neu angereizt werden muss. Hierzu ist die Sammlung von Datenmassen über potenzielle Verbraucher(innen) vonnöten, nach Möglichkeit hochgradig individualisiert sowohl nach Kund*innen und Waren. Dies besorgen die großen Internetfirmen. Weiterhin werden Profite gemacht, und zwar hohe. Auch Lohnarbeit findet statt. So lange die abhängig Beschäftigten und solche Selbständige, die keine fremde Arbeitskraft ausbeuten, keinen Anlass sehen, den Kapitalismus zu überwinden, stellt sich die Frage eines revolutionären Übergangs in eine neue Gesellschaft nicht.
Revolutionsersatz? Wie wäre es mit einem nicht-revolutionären? Hier stoßen wir auf Behauptungen von Theoretiker*innen, wonach der Kapitalismus drauf und dran sei, sich infolge seiner Digitalisierung selbst abzuschaffen. Der US-Amerikaner Jeremy Rifkin spricht von einer kommenden »Null-Grenzkosten-Gesellschaft«: Die Digitalisierung mache immer mehr Güter so wohlfeil, dass deren Hersteller kaum noch Gewinne machen könnten. Als »Grenzkosten« bezeichnen Marktwirtschaftler*innen den Preis eines Produktes, für das Verbraucher*innen gerade noch bereit sind, Geld auszugeben. Jede zusätzliche Ware bleibt liegen, hat also keinen Wert mehr. Diese Güter, so Rifkin, nähmen zu und könnten dann umsonst angeeignet werden.
Es gibt ein paar Indizien für diese These, zum Beispiel den Niedergang der Musikindustrie, deren Erzeugnisse kostenlos heruntergeladen werden können und deren frühere Position auch durch juristische Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums nicht wiedergewonnen werden kann.
Andere Eigentumsverhältnisse durch das Internet?
In seinem 2016 erschienenen Buch »Postkapitalismus« sieht der britische Journalist Paul Mason in Übereinstimmung mit Rifkin eine sich immer weiter ausbreitende Allmende (Commons) entstehen: Gemeingüter, die von allen genutzt werden. Wikipedia ist ein Beispiel. Durch das Internet könnten alte Eigentumsverhältnisse unterspült werden.
Gegenargument: Der Kapitalismus verschwindet dadurch noch lange nicht. Werden ganze Produktionszweige »außer Wert gesetzt« (Elmar Altvater), bedeutet das zwar im Einzelnen Kapitalvernichtung, aber nicht unbedingt im Ganzen. Die Quellen des Profits werden dann woanders gesucht, und die neuen Commons können zur Voraussetzung von Profiten in diesen Branchen werden. Beispiel: Das kostenlose Internet ist die technische Geschäftsgrundlage von Amazon.
Der Kapitalismus verschwindet durch digitale Commons noch lange nicht.
Paul Mason ist nicht naiv. Er konstatiert einen Widerspruch »zwischen der Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebots an kostenlosen Gütern und einem System von Monopolen, Banken und Staaten, die alles tun, damit diese Güter knapp, kommerziell nutzbar und im Privatbesitz bleiben.« Es handele sich um eine »Auseinandersetzung zwischen dem Netzwerk und der Hierarchie«. Subjekt auf der Seite des Fortschritts sei »die vernetzte Menschheit.« Offenbar ist sie identisch mit der »Multitude«, die Michael Hardt und Toni Negri bereits 2001 in ihrem Buch »Empire« proklamierten. Für Mason sind heute »alle Menschen auf der Erde potenzielle Agenten der Veränderung«. Sie ersetzen in dieser Funktion die Marxsche Arbeiterklasse. Ob die Menschheit die ihr angetragene Rolle als revolutionäres Subjekt freudiger annehmen werde als das alte Proletariat, ist, vorsichtig gesagt, offen. Immerhin räumt Mason implizit ein, dass die Digitalisierung alleine den Kapitalismus nicht beseitigen wird.
Man muss unterscheiden: Die Digitalisierung, durch den Kapitalismus heute in seinem Interesse genutzt, könnte einer künftigen sozialistischen Gesellschaft ebenso große Dienste leisten, nämlich bei der Planung, der Feststellung des individuellen und gesellschaftlichen Bedarfs und der Bereitstellung von Gütern zu dessen Deckung. Die Kalkulationsdebatte von Barone über Mises, v. Hayek bis Oskar Lange und Abba P. Lerner hat sich spätestens seit Cockshott/Cottrell erledigt. Anders ist es mit dem Übergang von der kapitalistischen zur »postkapitalistischen« Gesellschaft. Die »Informationsgesellschaft« ist nicht sein Vehikel, sondern ein Kampfplatz, auf dem diese Auseinandersetzung stattfinden muss.