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Was heißt Internationalismus im Krieg?

Ein Streitgespräch über die Gründe des Ukraine-Krieges, sein mögliches Ende und die Aufgabe der Linken

Von Jan Ole Arps, Projekt Revolutionäre Perspektive und Ingar Solty

gestapelte Plastikstühle stehen um einen Tisch mit grünen plastikdecke in einem verstaubtem Raum
Nicht viel los: Kriege sind schwere Zeiten für Internationalismus. Foto: Philipp Fröhlich

Wie sich zum Ukraine-Krieg positionieren? Diese Frage spaltet seit über einem Jahr auch die hiesige Linke. Das Projekt Revolutionäre Perspektive aus Hamburg hat Anfang Juni ein Streitgespräch zwischen Ingar Solty von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ak-Redakteur Jan Ole Arps über diese Frage moderiert. Das folgende Gespräch basiert auf dieser Diskussion.

Projekt Revolutionäre Perspektive: Bevor wir über linke Positionen zum Krieg in der Ukraine diskutieren, würde ich gern über den Charakter des Krieges mit euch sprechen. Worum geht es bei diesem Krieg?

Ingar Solty: Zunächst ist er eine völkerrechtswidrige Invasion Russlands. Gleichzeitig ist er zu einem Stellvertreterkrieg geworden, der sich im Kontext geopolitischer Rivalitäten abspielt. Erschwerend kommt hinzu, dass er aus einem Bürgerkrieg entstanden ist. Was Russlands Kriegsziele anbelangt, sind es, glaube ich, zwei. Der russische Staat war wegen des Scheiterns seiner wirtschaftlichen Diversifizierungsstrategie in den letzten Jahren zu Sozialkürzungen gezwungen. Insbesondere die Rentenreform von 2019 war extrem unpopulär. Ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung lehnten sie ab. Es gab Massenproteste. Putins außenpolitische Position, dass der Westen versucht, Russland einzukreisen, wiederum wird von ebenfalls ungefähr 70 bis 80 Prozent geteilt. Die Konfrontation nach außen dient daher auch der Stabilisierung der Herrschaft nach innen. Zudem gibt es Sicherheitsinteressen. Die russische Regierung will nicht hinnehmen, dass die Nato weiter vordringt.

Ingar Solty

ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und hat im letzten Jahr viel zum Krieg in der Ukraine publiziert.

Nicht überzeugend ist die grünliberale Ideologie: »Schaut euch Putins Reden an, die sind völkisch, großrussisch, er spricht der Ukraine das Existenzrecht ab, das ist ein Vernichtungskrieg.« Das gibt das militärstrategische Vorgehen gar nicht her. Man kontrolliert ein Land mit einer Bevölkerung von damals 43 Millionen und mehr als 600.000 Quadratkilometern nicht mit 190.000 Soldaten. Ich glaube, die ursprünglichen Kriegsziele waren die Herbeiführung eines Regime-Change und die militärische Stabilisierung des Donbass. Auch im Westen dachte man, dass die ukrainischen Streitkräfte innerhalb weniger Tage zusammenbrechen würden, und legte Selenskij die Flucht nahe. Putin glaubte wohl, bei einem schnellen Vorstoß auf Kiew würde die Regierung außer Landes gehen und ein Machtvakuum entstehen. Dann hätte man Viktor Medwedtschuk als russlandfreundlichen Präsidenten eingesetzt, der die Bündnisneutralität der Ukraine garantiert. Diese Politik ist krachend gescheitert. Jetzt versucht Russland Schadensbegrenzung: die Sicherung des Landzugangs zur Krim und des bisher eroberten Territoriums.

Jan Ole Arps: Ich glaube auch, dass Putin sich den Verlauf der Invasion wohl sehr anders vorgestellt hat. Die Ukraine hat 2013/14, seit dem Maidan-Aufstand und dem folgenden Regierungswechsel, begonnen, sich aus der russischen Einflusssphäre zu lösen und nach Westen zu orientieren, sie hat die EU-Mitgliedschaft angestrebt. Die Krim-Annexion und die russische Militärintervention im Donbass waren Versuche Putins, diese Entwicklung zu stoppen. Das hat nicht geklappt. Der marxistische Autor Ilya Matveev beschreibt aus meiner Sicht gut, wie sich seither das Handeln Putins von den Interessen des russischen Kapitals abgekoppelt hat. 2020 und 2021 gab es dann massive Proteste in Belarus, die den dortigen Machthaber Lukaschenko, Putins Verbündeten, in schwere Bedrängnis brachten. Nur wenige Wochen vor der Invasion gab es einen Aufstand vor allem der Arbeiter*innenklasse in Kasachstan, der nur durch das Zuhilferufen russischer Truppen beendet wurde. Das, was Russland als seinen Hinterhof betrachtet, war dabei auseinanderzubrechen. Putin wollte dem einen Riegel vorschieben und in der Ukraine Fakten schaffen.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak und war 2022 zweimal in der Ukraine, um mehr über die ukrainische Linke und ihre Haltung zum Krieg zu erfahren.

Auch wenn in dem Krieg unterschiedliche Elemente eine Rolle spielen – imperialistischer Überfall, Stellvertreterkrieg, Verteidigungskrieg –, darf eine linke Haltung nicht relativieren, dass Putin ohne Provokation einmarschiert ist. Ausgangspunkt muss daher die Solidarität mit der angegriffenen Bevölkerung sein. Anders als zu Beginn des Krieges, als die Erschütterung über die eigenen Fehleinschätzungen bei vielen Linken groß war, sind inzwischen viele wieder in alte Positionen zurückgefallen und betonen das Stellvertreterkrieg-Element, um die Verantwortung doch bei der Nato suchen zu können.

Was ist mit den klassischen imperialistischen Staaten, sprich den USA? Und was ist mit China? Was ist deren Rolle in diesem Krieg?

Ingar Solty: Man kann den Krieg nicht ohne den USA-China-Konflikt, also den Großkonflikt des 21. Jahrhunderts, begreifen. Die USA sind nach 1945 zur hegemonialen Weltmacht geworden. Als solche haben sie auch die Spielregeln bestimmt, unter denen der Kapitalismus sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion globalisierte. Der Hochtechnologierivale China ist nun die Riesenherausforderung. Den USA geht es darum, ihren relativen Abstieg zu verhindern und Chinas Aufstieg einzudämmen.

Wenn Leute sagen, der Krieg sei von den USA provoziert worden, ist das Verschwörungsglauben. Aber er ist für sie eine »glückliche Fundsache«. Sie sind der einzige Gewinner. Den USA geht es dabei nicht nur um die »dauerhafte Schwächung« Russlands, sondern um die Spaltung und Schwächung Europas, darum, eine transatlantische Arbeitsteilung und neue Blockkonfrontation gegen China zu erzwingen. Deshalb buttern die USA so viel Geld in diesen Krieg. Der Ukraine-Krieg ist Katalysator einer neuen Weltordnung.

Jan Ole Arps: Ich würde Ingar zustimmen, dass die USA aktuell die einzigen Gewinner des Krieges sind. Auf dieser Ebene haben wir, glaube ich, keinen großen Widerspruch.

Projekt Revolutionäre Perspektive

ist eine linke Gruppe aus Hamburg, sie organisiert regelmäßig den Roten Abend, eine Diskussionsreihe zu aktuellen Themen: prp-hamburg.org

Es ist jetzt über ein Jahr her, dass der Krieg ausgebrochen ist. Was sind Perspektiven, wie er aufhören wird?

Jan Ole Arps: Das wüsste ich auch gern. Wahrscheinlich wird er irgendwann mit Verhandlungen enden, wenn nicht durch unerwartete Ereignisse eine Seite völlig zusammenbricht. Putin kann diesen Krieg nicht mit einem schlechten Ergebnis beenden, das würde sein Ende bedeuten. Und für die große Mehrheit in der Ukraine ist ein Leben unter russischer Besatzung eine viel zu schlimme Perspektive. So schrecklich es ist, ich kann mir derzeit keine Situation vorstellen, in der dieser Krieg bald endet. Er wird absehbar nur enden, wenn eine oder beide Seiten zu einem nachteiligen Waffenstillstand gezwungen wären. Das kann passieren, wenn für die Ukraine die Kriegslast zu hoch wird – schon jetzt sterben jeden Tag Hunderte Soldaten – oder wenn in Russland eine große innere Krise ausbricht. Ansonsten könnten allenfalls die Großmächte, also die USA, ohne deren Unterstützung die Ukraine nicht erfolgreich weiter Krieg führen kann, oder China, von denen Russland abhängiger geworden ist, vielleicht einen Waffenstillstand erzwingen. Wer dagegen nicht in der Lage ist, diesen Krieg zu beenden, ist die deutsche Linke.

Ingar Solty: Ich teile das meiste, was Jan Ole sagt. Der Krieg ist in eine Phase eingetreten, wo keine Seite ohne den Zusammenbruch der Front des Gegenübers siegreich sein kann. Er ist nun ein blutiger Stellungs- und Abnutzungskrieg. Vor allem auf russischer Seite sind es die Ärmsten der Armen aus den äußersten Provinzen, die verheizt werden, damit niemand in Moskau und Sankt Petersburg merkt, was für ein grausamer Krieg das ist. Auch auf ukrainischer Seite haben Zehntausende versucht, über die Grenze in die EU zu kommen, um dem Kriegsdienst zu entgehen, und wurden zurückgeschickt. Es gibt Zwangsrekrutierungen auf offener Straße, das kann Linke nicht kalt lassen. Das eine ist also das Blutvergießen, das andere das enorme Eskalationspotenzial in der Ukraine und über ihre Grenzen hinaus, in einen atomar geführten Dritten Weltkrieg. Russland hat schon das fürchterliche Kriegsverbrechen begangen, die Infrastruktur für Energie und Wasser mitten im Winter zu zerstören. Und was zum Beispiel bedeutet es, wenn der ukrainische Staat Neonazis mit Nato-Militärgerät auf russisches Gebiet vordringen lässt? Hinzu kommen die Folgen für die Arbeiterklassen weltweit.

Der Krieg muss so schnell wie möglich beendet werden, wegen des Blutvergießens, aber auch wegen des enormen Eskalationspotenzials in einen atomar geführten Dritten Weltkrieg.

Ingar Solty

Wenn man fragt, was kann die Linke tun, dann nicht, darauf zu warten, dass Washington oder Moskau irgendwann einsehen, dass sie militärisch nicht weiterkommen. Wir haben tatsächlich keinen Einfluss darauf, wie viele Waffen die USA liefern oder wie viel Militär Russland zusammenzieht, um den Krieg fortzusetzen. Aber wir haben andere Handlungsoptionen. Internationale Solidarität beginnt mit der Botschaft: Der Krieg muss so schnell wie möglich enden im Namen derer, auf deren Rücken er ausgetragen wird, im Namen derer, die in diesem Krieg verheizt werden, aber auch im Namen derer, die weltweit durch die Inflation die Kosten des Krieges tragen. Selbst in Deutschland verfügt ein Drittel über keine Ersparnisse, fast zwei Drittel brauchen gerade ihr gesamtes Monatseinkommen zur Deckung der laufenden Kosten auf. In diesem reichen Staat kann die Regierung wenigstens temporär noch den Energiepreis deckeln. Für Südeuropa gilt das weniger, für afrikanische Staaten überhaupt nicht. Ihre Arbeiterklassen trifft die Inflation ungebremst, weswegen sie ja auch so auf Verhandlungen drängen. Da entstehen extreme Verteilungskonflikte, und die Regierungen werden sich nur an der Macht halten, wenn sie Ethnisierung und Konfessionalisierung vorantreiben, also bestimmte Gruppen auf Kosten anderer schützen. Auch deshalb muss dieser Krieg so schnell wie möglich enden, und deshalb ist Friedenspolitik Voraussetzung von internationalistischer Klassenpolitik.

Jan Ole, du vertrittst eine andere Position in der linken Debatte.

Jan Ole Arps: Die Folgen und Gefahren, die Ingar beschreibt, sind ja real. Zum Kontext gibt es aber noch mehr zu sagen. Ich gehe davon aus, dass die kapitalistische Konkurrenz die Staaten systematisch in den Konflikt, damit letztlich auch in den Krieg miteinander treibt. Ingar hat schon darauf hingewiesen: Wir hatten eine gewalttätige, aber halbwegs stabile Situation, in der die USA die Spielregeln der kapitalistischen Konkurrenz entscheidend bestimmen konnten. Diese Zeit ist zu Ende, das erhöht das Potenzial großer Kriege enorm. Wir erleben einen verschärften Konkurrenzkampf um knapper werdende Ressourcen zwischen den Kapitalen und den Staaten. Dazu kommt der Klimawandel, der den Kuchen kleiner macht, um den man sich streiten kann. Ich bin daher überzeugt, dass die einzige Möglichkeit, Kriege jetzt und in Zukunft aufzuhalten, eine international organisierte Linke ist, die den Kapitalismus überwindet. Das klingt erstmal sehr weit weg, aber ich sehe einfach keine Alternative dazu. Wir werden nicht weit kommen, wenn wir versuchen, die bestehende internationale Ordnung zu verteidigen. Es ist erstens aussichtslos, weil die Umbrüche durch die Dynamik des Kapitalismus und die fortschreitende Erderhitzung angetrieben werden. Und zweitens, das hat Rosa Luxemburg mal sinngemäß gesagt: Wenn man auf die internationalen Institutionen baut, verteidigt man den Imperialismus von gestern gegen den Imperialismus von heute. Das kann aus kommunistischer Sicht nicht die Lösung sein.

Bei einem imperialistischen Angriffskrieg muss die Botschaft der Linken Solidarität mit den Angegriffenen sein, nicht Verständnis für den Aggressor.

Jan Ole Arps

Was ich mir deshalb wünsche, ist, dass Linke anfangen, daran zu arbeiten, dass so etwas wie eine linke Internationale wieder entsteht, die gemeinsam Positionen überhaupt erarbeiten und daraus irgendwann auch gemeinsame Handlungen ableiten kann. Das ist mein politischer Kompass bei der Frage, was sollten Linke in internationalen Konflikten und Kriegen tun. Der zweite Kompass wäre, dass bei Lösungen von Konflikten diejenigen mitreden sollten, die es betrifft. Ich weiß, dass Konflikte, in die Großmächte involviert sind, nur selten von den Menschen entschieden werden, die es betrifft. Aber um glaubwürdig an einer internationalen Vernetzung zu arbeiten, ist als erster Schritt Solidarität mit und Interesse an den Genoss*innen vor Ort nötig. Und weil es um die Botschaft ging: Bei einem imperialistischen Angriffskrieg muss die Botschaft der Linken Solidarität mit den Angegriffenen sein, nicht Verständnis für den Aggressor. Natürlich können und sollten wir uns auch von unseren Schreibtischen in Deutschland aus Gedanken machen, wie der konkrete Krieg beendet werden könnte. Aber wir können doch nicht Parolen ausgeben, ohne darüber mit den Genoss*innen in der Ukraine geredet zu haben.

Du hast mit Genoss*innen vor Ort gesprochen. Was ist es, was sie sich wünschen? Und was sind deine Schlüsse daraus?

Jan Ole Arps: Die Linken, mit denen ich gesprochen habe, betonen den Wunsch nach Selbstbestimmung und den Schrecken, unter dem Terrorregime russischer Besatzung zu leben. Die Erinnerungen an die Verbrechen in Butscha und anderen Orten sind ja noch frisch. Es gibt einen großen Wunsch nach Unterstützung des Kampfes gegen die Invasion, durch Waffenlieferungen, aber auch durch politische Solidarität. Daraus ist aus meiner Sicht nicht abzuleiten, dass Linke hier sich für Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzen müssen. Ich denke aber, die hiesige Diskussion über Waffenlieferungen folgt in erster Linie einem Bedürfnis, bestehende Positionen beibehalten zu können und sich die störenden Forderungen ukrainischer Genoss*innen vom Leib zu halten, indem man sie als nationalistisch und kriegslüstern abstempelt.

Läuft es am Ende nicht auf die zentrale Frage raus, wie wir als radikale Linke uns dazu verhalten, dass unsere Regierung Waffen liefert?

Jan Ole Arps: Ich denke nicht, dass das die zentrale Frage ist. Die zentrale Frage ist: Wie kommen wir einer internationalen linken Organisierung näher? Es gibt noch viele weitere wichtige Fragen: Wie verhindern wir die deutsche Aufrüstung? Wie gehen wir gegen die Geschichtsklitterung an, die um dieses Aufrüstungsprojekt herum betrieben wird? Oder gegen das Peacewashing der Nato? Die Nato ist kein Friedensbündnis, sondern ein Kriegsbündnis. Was tun wir gegen den Energiehunger der deutschen Wirtschaft? Das deutsche Exportmodell basiert auf billiger Energie, die bisher aus Russland kam und jetzt auf dem Weltmarkt zusammengekauft wurde auf Kosten vor allem ärmerer Länder, damit deutsche Unternehmen weiter produzieren und Profite machen können wie bisher. Da gibt es für radikale Linke viele Ansatzmöglichkeiten. Es gibt auch ganz praktische Dinge, die wir tun können. Wir können uns für Asylsuchende, Deserteure oder Kriegsdienstverweigerer einsetzen. Ich bin dafür, dass wir uns weniger über staatliche Waffenlieferungen unterhalten und mehr darüber, wie wir die ukrainischen Genoss*innen unterstützen können, zum Beispiel in ihren Kämpfen gegen den Abbau von Arbeitsrechten, in ihrer Forderung nach Schuldenschnitt oder indem wir die Beutezüge deutscher Unternehmen auf dem ukrainischen Markt skandalisieren.

Was sind deine Handlungsvorschläge für die Linke, Ingar?

Ingar Solty: Ich teile, dass man die vom IWF orchestrierte Ausplünderung der Ukraine durch westliche Konzerne skandalisieren muss. Man muss sich aber auch klarmachen: Waffenlieferungen verlängern den Krieg. Es sterben mehr Menschen, obwohl die Grenzen wahrscheinlich nicht mehr weit verschoben werden gegenüber dem jetzigen Frontverlauf. Hinzu kommt: Wer Waffenlieferungen sagt, hat nicht nur keine Argumente gegen die Aufrüstung, die die geleerten Arsenale des Westens wieder auffüllt. Wer Waffenlieferungen sagt, sagt letzten Endes auch Nato-Truppen und damit Dritter Weltkrieg. Nicht, weil Russland unbedingt eskaliert, wenn die Nato weiter Waffen liefert, sondern weil es schlicht nicht genug Menschen gibt, die die Waffen bedienen und von der Ukraine als Kanonenfutter verheizt werden können. Das ist auch der Grund, warum jetzt westliche (Militär-)Eliten skeptisch werden, sogar mit Russlands Außenminister Lawrow geheimverhandeln und diskutieren, ob Washington Selenskij ein Ultimatum setzt. Egal, ob man meint, dass die Ukraine das entscheiden sollte, es wird in Washington entschieden.

Natürlich will man solidarisch sein. Für die westlichen Staaten heißt das Unterstützung der ukrainischen Regierung. Für Linke muss es Solidarität mit der Bevölkerungsmehrheit sein, ja. Und es ist ein Dilemma für internationale Solidarität, dass auch viele ukrainische Linke immer noch Waffenlieferungen fordern. Es gibt aber eine Dialektik des Krieges. Am Anfang dominiert eine patriotische Stimmung, vor allem die Meinung machenden Intellektuellen sind dafür, ähnlich wie 1914. Aber je mehr die Menschen die Kriegsfolgen zu spüren bekommen, je mehr Soldaten psychisch zerrüttet, körperlich versehrt oder tot im Zinksarg nach Hause kommen, desto mehr sinkt die Bereitschaft, den Krieg weiter mitzutragen. Das war im Ersten Weltkrieg nicht anders: Erst kamen Inflation und Steckrübenwinter, dann die von Frauen getragenen Krawalle gegen Butter- und Brotpreise, dann die Streiks in den Rüstungsfabriken und schließlich Antikriegsrevolutionen von Irland bis Ostasien.

Die Linke muss den Staat zwingen, die Friedensvorschläge aus Brasilien, Afrika und China aufzugreifen und Verhandlungen zu vermitteln, um eine neue Blockkonfrontation zu verhindern.

Ingar Solty

Wenn Liebknecht 1914 so gehandelt hätte: Was will die angegriffene Bevölkerung, als die zaristischen Truppen in Ostpreußen einmarschiert sind? Wollte sie sich verteidigen? Klar. Gab es Kriegsverbrechen gegen Zivilbevölkerung? Natürlich. Gab es Besatzung und Pläne für territoriale Aneignung? Ja. Auch damals war die Linke gespalten, Kriegsgegner waren nicht mehrheitsfähig. Aber hätte Liebknecht deswegen sagen sollen: Gut, dann müssen wir für Krieg und Kriegskredite sein? Hätte Luxemburg zum Krieg schweigen sollen? Wenn das richtig gewesen wäre, dann würde die Rosa-Luxemburg-Stiftung heute Eduard-David-Stiftung heißen. David kennt heute jedoch niemand mehr, Luxemburg die ganze Welt. Weil sie Recht behielt. Deshalb muss man den Widerspruch jetzt aushalten. Den Gesprächsfaden mit den ukrainischen Genoss*innen aufrechterhalten ist gut. Aber man muss auch sagen: We beg to differ. Um hoffentlich irgendwann wieder zu einer gemeinsamen Position zu finden.

Jan Ole Arps: Der Vergleich mit 1914 haut meines Erachtens nicht hin. Bevor die zaristische Armee in Ostpreußen einmarschiert ist, hatte das Deutsche Reich bereits Russland und Frankreich den Krieg erklärt und Belgien überfallen, und die SPD hatte den Kriegskrediten zugestimmt. Die Ukraine ist im Gegensatz zum Deutschen Reich und dem Zarenreich keine Großmacht, sie ist ein abhängiges Land mit einer langen, grausamen Geschichte der Beherrschung durch größere europäische Mächte, nicht zuletzt durch Russland. Es hat keine Großmacht eine andere angegriffen, sondern Putin hat die Ukraine überfallen, weil sie sich aus Russlands Einflusszone hinausbewegt hat.

Ich denke, für die Menschen in der Ukraine gibt es keine gute Lösung, sie haben wenn überhaupt die Wahl zwischen zwei fürchterlichen Lösungen: unter russischer Besatzungsherrschaft zu leben oder dass der Krieg lange weiter geht und noch viel mehr Menschen sterben. Natürlich verlängern Waffenlieferungen den Krieg, weil sie die Ukraine in die Lage versetzen, sich überhaupt gegen die Invasion zu verteidigen. Ohne die Waffen aus dem Westen wäre das nicht möglich, auch dem Raketenbeschuss wäre die Ukraine schutzlos ausgeliefert. Das heißt wie gesagt nicht, dass Linke so tun sollten, als wären Waffenlieferungen die einfache Lösung. Die Waffen verschwinden nicht, wenn der Krieg vorbei ist. Und die angekurbelte Waffenproduktion hier wird die Herausbildung eines militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland begünstigen, der auch für die deutsche Aufrüstung nötig ist. Man sollte nicht so tun, als wären das keine gravierenden politischen Probleme. Aber man kann auch nicht ausblenden, dass ohne die Waffen kein erfolgreicher Widerstand möglich gewesen wäre und dass es heute für die Ukraine nichts zu verhandeln geben würde, nur die Möglichkeit, sich früher oder später der Besatzung auszuliefern.

Ingar Solty: Dass man mit der Ablehnung von Waffenlieferungen die Ukraine zur Kapitulation zwingt, ist der Versuch einer moralischen Erpressung und überzeugt auch nicht: Im Vergleich zum Volumen der US-Waffenlieferungen sind die deutschen ein Tropfen auf den heißen Stein. Von ihnen hängt der Ausgang des Krieges nicht ab. Und erst recht nicht von Linksradikalen, die ihren imperialistischen Staat auffordern, Waffen an einen anderen kapitalistischen Staat zu senden, der auch seine Arbeiterklasse verheizt.

Die einzige Möglichkeit, Kriege zu verhindern, ist eine international organisierte Linke. Wenn wir nicht daran arbeiten, einer solchen Organisierung näherzukommen, sind alle Parolen wertlos.

Jan Ole Arps

Also keine Einigkeit in der Frage?

Jan Ole Arps: Bei der Frage, wo radikale Linke ansetzen sollten, sprechen wir, glaube ich, auf unterschiedlichen Ebenen. Es ist eine begründbare Position, dass eine Weiterführung des Krieges für die Ukraine nicht viel Aussicht auf Erfolg hat und ein früheres Ende, egal zu welchen Bedingungen, mehr Leid verhindert. Aber dann sollte man diese Diskussion mit den ukrainischen Genoss*innen führen und auch ihre Argumente hören. Sonst gibt man als Linke den internationalistischen Anspruch auf und macht Politik vor allem für sich selbst. Ich wiederhole das nochmal, denn es ist mein zentraler Punkt, und ich möchte, dass das verstanden wird: Wenn wir nicht mit Priorität an einer internationalen Organisierung arbeiten, sind alle Parolen wertlos. Seit anderthalb Jahren haben wir die Möglichkeit, hier voranzukommen. Es ist nicht passiert, und ich verstehe nicht, warum. Es ist ein krasses politisches Versäumnis und eine Bankrotterklärung für Internationalist*innen.

Ingar Solty: Du räumst ja selbst ein, dass Kriege nicht von unten beendet werden. Bzw. nur dann, wenn die unten nicht mehr kämpfen wollen, wie die oben es verlangen. Daher kann man sich nicht um die Frage der den Krieg verlängernden Waffenlieferungen und Verhandlungen herumdrücken. Das ist entscheidend, auch im Interesse des internationalen Bündnisses von unten, das du möchtest. Wie gesagt: Wenn dieser Krieg noch länger dauert, werden wir katastrophale Staatszerfallsprozesse in Afrika erleben. Die europäischen Asylgesetze wurden bereits verschärft, die extreme Rechte in Europa ist auf dem Vormarsch. Auch deshalb muss man laut sagen: Dieser Krieg muss schnellstmöglich beendet werden. Und den Staat dazu zwingen, die Friedensvorschläge aus Brasilien, Afrika und China aufzugreifen und Verhandlungen zu vermitteln. Dass selbst der ehemalige Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, sagt, die Regierung müsse auf diesen Zug aufspringen, hat auch damit zu tun, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht der in den Medien veröffentlichten Meinung folgt und für Verhandlungen ist. Das sind doch gute Ausgangsbedingungen. Ich halte es für falsch, sich da nicht positionieren zu wollen.

Ist euer Widerspruch letztlich der zwischen einem eher geopolitisch-analytischen und einem eher bewegungspolitischen Blick?

Ingar Solty: Ich bin auch für eine konsequent internationalistische Klassenpolitik von unten. Aber die Möglichkeit dazu hängt in allen Ländern von der Weltordnung und der Frage der neuen Blockkonfrontation ab. Du sagst, die Umbrüche können wir nicht verhindern. Was du sagst, Jan Ole, würde, wenn ich dich richtig verstehe, bedeuten, dass man eine Äquidistanz hält zum chinesischen Staat und zu den Nato-Staaten, nach dem Motto: Die sind alle imperialistisch, und wir machen nur noch Solidarität mit kleinen Gruppen von kämpfenden Arbeitern in China, in Russland, in der Ukraine. Aber gleichzeitig verschlechtern sich überall die Bedingungen, unter denen diese kleinen Gruppen kämpfen, wenn es eine Blockkonfrontation gibt. Ich überspitze mal: Eine neue Blockkonfrontantion bedeutet in Deutschland Deindustrialisierung. Deindustrialisierung bedeutet das Ende der IG Metall, also der mächtigsten Beschäftigtengruppen. Aus dem Ende von IG Metall und industrieller Wertschöpfung folgt das Ende des Sozialstaats, und aus seinem Ende das Ende der Demokratie. Dann ist die AfD hier bei 60 Prozent.

Titelseite des Sonderhefts. Titel: Ukraine-Krieg. Unterzeile: Russlands Invasion und die Debatte um Imperialismus und Internationalismus

ak Sonderheft zum Ukraine-Krieg

Wie verändert Russlands Angriff auf die Ukraine die internationale Politik und das linke Verständnis von Imperialismus und Internationalismus?

Politisch bin ich bei Engels, der vor seinem Tod sagte, wenn wir den Weltkrieg verhindern, dann ist der Sozialismus unaufhaltsam, denn dann entfalten sich die Widersprüche im Innern und werden nicht von außen verdeckt. Wir haben natürlich aktuell nicht die starken Bewegungen, die vom Sozialismus träumen lassen, aber wir wissen um die Innen-Außen-Dialektik. Die neue Kalte Kriegs-Ideologie ist »Demokratien vs. Autokratien«, gespiegelt durch ein »Entwicklungsländer vs. Neokolonialisten«. Der Autoritarismus kommt jedoch nicht von außen, sondern von innen: Die neue Blockkonfrontation wird überall auf der Welt mit Entdemokratisierung, Illiberalisierung und Entzivilisierung einhergehen und die Bedingungen für Klassenpolitik verschlechtern, und sie wird die Klimakatastrophe eskalieren. Deshalb ist der Kampf gegen die neue Blockkonfrontation und für das, was ich im isw report »Die neue Blockkonfrontation: Hochtechnologie. (De-)Globalisierung. Geopolitik« die »Neue Neue Ostpolitik« nenne, in meinen Augen die Hauptaufgabe sozialistischer Politik heute.

Jan Ole Arps: Das sind mir zu viele Ketten: Wenn das passiert, passiert das. Das sind alles Setzungen, die du machst. Aber das ist nicht mein Haupteinwand. Der ist, dass wir unsere Rolle nicht verwechseln sollten. Als Linke können wir es uns nicht leisten, die Konflikte auf der Welt mit den Augen der Großmächte zu betrachten. Wir wollen an dem Zustand etwas ändern. Wenn wir als Linke nicht versuchen, handlungsfähig für ein eigenes Projekt zu werden, können wir einpacken. Wir können aktuell nur Solidarität mit unseren Genoss*innen üben und gucken, wie wir in eine Zusammenarbeit kommen. Wenn wir unsere Positionen zuerst am innenpolitischen Gefüge oder am Szenario einer neuen Blockkonfrontation ausrichten, verspielen wir die Grundlage für einen Internationalismus von unten. Und der ist, angesichts der durch die Klimakrise noch verschärften Konkurrenz- und Kriegsdynamik, unsere einzige Hoffnung.

Auch mit Blick auf die deutsche Innenpolitik muss das unser Maßstab sein, zum Beispiel in der Frage von Energieversorgung und Inflation: Unsere politischen Vorschläge können nicht darauf zielen, den Status Quo zu stabilisieren, der auf billiger Energie für die deutsche Wirtschaft basiert, damit die produziert und exportiert, damit es im deutschen Sozialstaat etwas zu verteilen gibt. Dieses Modell zerstört die ökologische Lebensgrundlage. Wir müssen stattdessen dafür kämpfen, dass die fossile Infrastruktur zurückgefahren wird und Mittel in ökologisch weniger zerstörerische Bereiche fließen, letztlich für Klimareparationen und den ökosozialistischen Umbau der Wirtschaft. Das wäre internationalistische Klassenpolitik. Und natürlich müssen wir dafür kämpfen, dass das nicht von den unteren Klassen bezahlt wird, sondern von den wahnsinnigen Profiten, die die fossilen Unternehmen und andere Kapitale auch während des Kriegs gemacht haben. Die Inflation basiert zu einem guten Teil auf diesen Extra-Gewinnen. Das ist der Widerspruch, den wir betonen müssen, nicht das Zurück zum Status Quo auf Kosten der Menschen und unserer Genoss*innen in der Ukraine und anderswo.

Ingar Solty: Wir haben im Frühjahr in Westeuropa beeindruckende Streikbewegungen erlebt. Trotzdem konnten selbst die mächtigsten Beschäftigtengruppen bestenfalls die Inflation ausgleichen. Die Gewerkschaftsbewegung ist daher gezwungen, den Lebensstandard der Arbeiterklasse über den Umweg der Außenpolitik – die Verhinderung von Krieg und Blockkonfrontation als Haupttriebkräfte der Inflation – zu verteidigen. Auch die Klimabewegung kommt ohne diese Frage nicht mehr aus. Kommt die neue Blockkonfrontation, kann man sich die Abwendung der Klimakatastrophe abschminken. Minimale Chancen hierfür wird es nur mit China geben. Es braucht also einen neuen Klima-Multilateralismus, ganz neue Institutionen. Da können wir als antikapitalistische Linke nicht sagen, wir bleiben unterhalb der staatlichen, rein auf der Bewegungsebene. Das heißt, in der dramatischen Zuspitzung der Weltordnungskonflikte, die wir gerade erleben, konvergieren plötzlich Fragen, die lange getrennt behandelt wurden: soziale, Friedens- und Klimafrage. Aus der politischen Defensive kommen wir nur mit der Einheit von Betrieb, Straße und Parlament, Staatsmacht. Auf der Straße sehe ich die Hauptaufgabe darin, aus der strukturellen Konvergenz von sozialer, Friedens- und Klimafrage aktiv die Konvergenz von Gewerkschafts-, Friedens- und Klimabewegung herzustellen und eben alle Anstrengungen darauf zu richten, die neue Blockkonfrontation zu verhindern.

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