VW = Verkehrswende
In Wolfsburg setzen sich Aktivist*innen seit 2019 für eine Produktionsumstellung und Vergesellschaftung der Autoindustrie ein
Von Tatjana Söding
In der deutschen Linken wird aktuell darüber diskutiert, wie eine ökosoziale Bewegung Legitimität und veränderndes Potenzial erlangen kann: Auf der einen Seite stehen jene Linke, die der klassischen marxistischen Idee treu bleiben, und sagen, dass es die Masse der Arbeiter*innen braucht, um ein revolutionäres Momentum zu schaffen. Ihre konkreten Strategien führen jedoch selten zum eskalativen Moment: Gewerkschaften klammern sich ganz überwiegend an bestehende Arbeitsplätze, anstatt eine Transformation mitzutragen, die bessere Arbeit für die Zukunft schafft.
Auf der anderen Seite positionieren sich etwa die Sympathisant*innen der aktuell rund 900 Menschen starken Letzten Generation. Ihr zentrales Argument lautet: Die meisten historischen Errungenschaften sind aufgrund des radikalen Protestes von Minderheiten erkämpft worden. Oft genanntes Beispiel sind die Suffragetten, radikale Feminist*innen, die im Großbritannien des frühen 20. Jahrhunderts das Frauenwahlrecht (mit)erkämpften.
In zwei Jahren zum Ziel?
Wolfsburg, das Herz der Autoproduktion des Volkswagenkonzerns, ist ein Ort, an dem sich diese Diskussion in der Praxis kristallisiert. Seit 2019 organisieren zugezogene und lokale Aktivist*innen sich hier, damit das Akronym VW zukünftig mit dem Wort Verkehrswende assoziiert wird. Vor vier Jahren fing ihr Widerstand mit einem Protestcamp auf dem Gelände an, auf dem der damalige VW-Vorstandsvorsitzende Herbert Diess das Trinity-Werk bauen wollte. Das elektrobetriebene Trinity-Modell war das Prestigeprojekt des bekennenden Elon-Musk-Fan Diess und sollte dem Konzern nach dem hausgemachten Dieselskandal ein progressives Image verleihen: Anstatt sich von in den USA und China ansässigen Unternehmen abhängig zu machen, plante Diess eine Zentralisierung und Standardisierung der Entwicklung der für E-Autos notwendigen Software. Und weil Diess keinen Stein auf dem alten belassen wollte, sollte die Trinity Soft- und Hardware in einem brandneuen Werk in Wolfsburg gebaut werden. Doch Trinity scheiterte. Die eigens für dieses Vorhaben gegründete Tochterfirma Cariad lieferte die benötigte Software nicht plangemäß. Ohne Software, keine Trinity-Flotte. Für Diess bedeutete dies das Ende seiner Karriere bei VW. Sein Nachfolger Oliver Blume legte den Bau des Trinity-Werks vorerst auf Eis.
Obgleich sie wussten, dass der lokale Protest nicht den ausschlaggebenden Anstoß gegeben hatte, verbuchten die Aktivist*innen dies als ihren ersten Erfolg – und es motivierte sie für den nächsten Schritt. 2022 kauften sie ein Reihenhaus im Wolfsburger Amselweg, um ihrer Idee von einer Verkehrswende ein »Zuhause« zu geben. Der Zeitrahmen für ihr Vorhaben ist ambitioniert: Innerhalb von zwei Jahren soll Wolfsburg »von der Autostadt zur Verkehrswendestadt« werden. Was das genau bedeutet, haben sie in Zielen festgehalten. Ihre weitreichendste Forderung: die Vergesellschaftung des Volkswagenkonzerns und die komplette Umstrukturierung der Produktion auf Straßenbahnen und E-Busse. Dieses Ziel hat für die »labellose und überregionale Runde von Kreativaktivist*innen«, wie Mitstreiter Jörg die Gruppe im Gespräch mit ak nennt, ökologische und sozialpolitische Beweggründe.
Die IG Metall zu erreichen, ist das kurzfristige Ziel für die Mobilitätswende in Wolfsburg.
Der Verkehr ist bekanntlich das Problemkind der deutschen Klimapolitik: Jahr für Jahr werden in diesem Sektor die Emissionsziele gerissen. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat unlängst dafür gesorgt, dass die spezifischen Sektorziele des deutschen Klimaschutzgesetzes wohl fallen werden. Für die Klimabewegung ist das Thema Mobilität auch über die technokratisch-poltische Ebene hinaus bedeutsam. Denn die derzeit proklamierte Elektroantriebswende ist keine ökologische: Für die Produktion und Nutzung von E-Autos werden übermäßig viel Energie und seltene Erden benötigt, die unter menschenunwürdigen und naturzerstörerischen Bedingungen abgebaut werden.
Die Umstellung der VW-eigenen Produktion hingegen, das betonen die Aktivist*innen in Wolfsburg immer wieder, habe insbesondere arbeitspolitische Vorteile. Jörg erklärt, dass der Bau von Straßenbahnen mehr und bessere Arbeitsplätze sichere als die Produktion von E-Autos. Denn die Produktion von Straßenbahnen sei aufgrund ihres differenzierten Designs und dem höheren Komponentenanteil sehr komplex.
Doch weder die Wolfsburger Arbeiter*innenschaft noch die IG Metall scheinen die positive Zukunftsvision der Aktivist*innen zu teilen. Die fünf Belegschaftsmitglieder, die sich seit 2019 hinter die Transformationsziele stellen, sind die Ausnahme. »Man könnte denken, es wäre naheliegend, dass die IG Metall sich hinter unsere Forderungen stellt, wenn wir aktiv zeigen, wie wir sozialökologische Arbeitsplätze für die Zukunft absichern wollen«, erklärt Ruben, der sich innerhalb der »non-label« Gruppe aktiv darum kümmert, Unterstützung seitens der Arbeiter*innen und der Gewerkschaft zu rekrutieren. »Aber die IG Metall will in der Jetztzeit Arbeitsplätze sichern, um ihre Mitgliederschaft sowohl zu erhalten als auch auszuweiten.« Und die Arbeiter*innen, die er in der Tunnelschenke direkt am Werktor 17 nach ihrer Schicht antreffe, seien von ihrer Schicht oft zu fertig, um zu diskutieren. Doch das Potenzial, die Arbeiter*innenschaft zu gewinnen, sei durchaus dar, so der Konsens der Aktivist*innen.
Tortenwurf und blutige Geldscheine
Über interne Onlineportale tauschten sich etwa 200 Menschen stetig über Klimakrise und Mobilitätswende aus, und in Gesprächen mit Einzelpersonen gebe es wenig Kontroverse. »Doch obwohl das Thema Mobilitätswende jedes einzelne Belegschaftsmitglied umtreibt, können wir nicht über individuelle Gespräche mobilisieren«, hält VW-Angestellter Toto fest. Die IG Metall zu erreichen, sei das kurzfristige Ziel für die Mobilitätswende in Wolfsburg. Das erweist sich jedoch als schwierig: Einerseits genieße die Gewerkschaft in Wolfsburg großes Vertrauen und könnte durch einen ersten Schritt dafür sorgen, dass weite Teile der Belegschaft die Forderung nach Vergesellschaftung und Produktionsumstellung mittragen. Andererseits werde die Gewerkschaft durch die Industrie dazu gedrängt, »E-Autos zu verteidigen und so den Profit von VW-Aktionär*innen zu sichern«, so Ruben.
Um der Angst vor dem industriellen Niedergang in Wolfsburg etwas entgegenzusetzen, betonen die Aktivist*innen immer wieder die Vorteile für die Belegschaft und das Stadtklima. Überdies haben sie einen Plan entworfen, wie auch die lokale Verkehrswende vorangetrieben werden kann. Autofreie Zonen, stadtweite Radwegnetze und eine Regio-Tram-Trasse, die sowohl in als auch zwischen Städten fahren kann, wurden hier eingezeichnet. Auf dem Stadtfest, das die Aktivist*innen Anfang Mai im Rahmen des Verkehrswendecamps in der Innenstadt Wolfsburg organisierten, hängt diese Karte aus. Besucher*innen sind eingeladen, ihre eigenen Wünsche für ein anderes Wolfsburg einzutragen. Doch solche gibt es an diesem stürmisch-grauen Tag kaum, und nur wenige Passant*innen interessieren sich für das Geschehen.
Vier Tage nach dem Stadtfest endete das Verkehrswendecamp mit der aktiven Störung der Aktionär*innenversammlung von VW in Berlin, die von einem breiten Aktionsbündnis aus Interventionistischer Linke, Scientist Rebellion, dem Bündnis »Wer hat, der gibt« und dem Weltkongress der Uiguren mitgetragen wurde. Wolfgang Porsche wurde mit einer Torte beworfen, blutige Geldscheine wurden verteilt. Während Oliver Blume vor den Hauptaktionär*innen beschwört, dass die Nachhaltigkeit für ihn »eine übergeordnete Rolle bei sämtlichen Entscheidungen im Konzern« spiele, schreit eine nackte Aktivistin, dass Uiguren im chinesischen VW-Werk Zwangsarbeit leisten und die Produktion in Mexiko den Grundwasserspiegel sinken lasse.
Man wolle alle Strategien verfolgen, um die Verkehrswende möglichst schnell voranzubringen, erklärt Ruben. Bislang wurden die Aktivist*innen jedoch zu keinem offiziellen Gespräch mit VW oder der Stadt Wolfsburg eingeladen. Dabei gäbe es viel zu besprechen: Können Straßenbahnen wirklich auf den Produktionsstraßen eines Autowerkes gebaut werden? Wie können qualifizierte Arbeitskräfte des Verkehrssektors in jenen Bereichen Anstellung finden, die händeringend nach Fachkräften suchen? Und könnten nicht modernste Straßenbahnen ein neues deutsches Kultprodukt werden? Vielleicht könnte so gar die Dynamik gebrochen werden, dass die Produktionsstätten der deutschen Autoindustrie vermehrt ins Ausland verlagert werden.