Viele solcher Mittel haben wir nicht
Die großen Gewerkschaften werden sich kaum radikalisieren, sie abzuschreiben ist dennoch nicht produktiv
Von Gabriel Kuhn
In ak 651 plädierte Torsten Bewernitz für ein Engagement radikaler Linker in den großen Gewerkschaften. In ak 652 meinte Christian Frings, dies sei vergeudete Zeit. In ak 654 betonte Nelli Tügel die anhaltende Bedeutung der Gewerkschaften »als Werkzeug der in ihr zusammengeschlossenen Lohnabhängigen«.
Dramaturgisch ergeben sich daraus zur Fortsetzung der gewerkschaftspolitischen Diskussionsreihe zwei Möglichkeiten. Erstens könnte ich das Pendel noch einmal in die andere Richtung ausschlagen lassen und gegen jedwede Form von Gewerkschaftsromantik wettern. Das wäre allerdings wenig glaubwürdig angesichts der Tatsache, dass ich gegenwärtig den größten Teil meines politischen Engagements der Gewerkschaftsarbeit widme. Bleibt die andere Möglichkeit: der Versuch einer synthetischen Aufhebung zuvor formulierter Positionen. Das ist zwar prätentiös, zeugt jedoch von gutem Willen.
Es mag von Bedeutung sein, etwas mehr zu der Gewerkschaft zu sagen, in der ich tätig bin. Ich sitze im (tatsächlich so genannten) Zentralkomitee der (tatsächlich so genannten) »Zentralorganisation der Arbeiter*innen in Schweden«, kurz SAC. Die SAC ist eine syndikalistische Gewerkschaft, die wenig mit den in Bewernitz‘ Text ins Spiel gebrachten syndikalistischen »Sekten« zu tun hat. Zwar ist die einst stolze Mitgliederzahl von 30.000 auf 3000 gesunken, aber die Organisation spielt nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle in der schwedischen Arbeitsmarktpolitik.
Im Juni 2018 wurde in Schweden ein neues Gesetz verabschiedet, das das Streikrecht massiv einschränkt. Die Gesetzesvorlage, ausgearbeitet vom sozialdemokratisch geleiteten Arbeitsministerium, zitiert ausführlich aus einem Bericht, den die schwedische Behörde zur Schlichtung von Arbeitskonflikten (»Medlingsinstitutet«) im Jahr 2017 publizierte. Die SAC wird darin über 50 Mal erwähnt, mehr als jede andere Gewerkschaft. Dies überrascht nicht, denn die SAC führt fast jedes Jahr die Liste der von Mitgliedern in Anspruch genommenen Streiktage an. Die SAC ist also eine ernst zu nehmende Akteurin im Kampf zwischen Kapital und Arbeit, gleichzeitig jedoch über jede Kritik erhaben, die an die großen Gewerkschaften gerichtet wird: Es gibt keine parteipolitische Einflussnahme, keine Gewerkschaftsbonzen, keine stillen Übereinkommen mit dem Kapital. Also alles eitel Wonne?
Systemkonformität und Ausgrenzung
Nein. Es gibt interne Querelen, verkrustete Organisationsstrukturen, ein Übermaß an Bürokratie, zu viele Männer in Machtpositionen und vieles mehr, was die Begeisterung radikaler Linker bremsen sollte. Und doch zeigt die SAC, dass die Gewerkschaft als Organisationsform für radikale Linke tauglich sein kann, um sich, wie Christian Frings es formuliert, »an Klassenkämpfen zu beteiligen, zu ihrer Radikalisierung beizutragen, und zu helfen, dass Menschen sich als Subjekte der Geschichte und nicht nur als deren Opfer erfahren«.
So weit also stimme ich Bewernitz und Tügel zu. Der Unterschied liegt eher im Detail, nämlich im Verhältnis zu den großen Gewerkschaften – den »DGB-Gewerkschaften« in Deutschland oder den »LO-Gewerkschaften« in Schweden. Bewernitz meint, es gebe »einen Bedarf unter linken Gewerkschaftsfunktionär*innen nach Ansprache von radikalen Initiativen«. Tügel zitiert Klaus Dörre mit den Worten: »Wenn die Rechten die Systemfrage stellen, dann können sich die Gewerkschaften nicht damit begnügen, sich auf Betrieb und Unternehmen zurückzuziehen. Dann müssen sie die Systemfrage selbst stellen und beantworten.«
Die Frage ist: Tun sie das auch? Zu den Verhältnissen in Deutschland wage ich mich nicht zu äußern, aber in Schweden gilt das sicherlich nicht. Alle LO-Gewerkschaften standen hinter dem Gesetzentwurf zur Einschränkung des Streikrechts. Mehr Systemkonformität geht kaum.
Was den »Bedarf linker Gewerkschaftsfunktionär*innen nach Ansprache von radikalen Initiativen« angeht, so mag es diesen geben, nur, wie drückt er sich in der Praxis aus? Wenn ich mich mit linken Gewerkschaftsfunktionär*innen unterhalte, mündet das in der Regel in Aussagen wie: »Mobilisiert gerne eure Mitglieder für unsere Demo nächste Woche – aber sie dürfen nicht als SAC auftreten, das schafft Probleme!« Ansprache ist also gut, Anerkennung nicht.
Die schwedische Tageszeitung »Svenska Dagbladet« veröffentlichte im Zuge der Streikrechtsdebatte einen offenen Brief, der den Gesetzentwurf kritisierte und den rund 100 gewerkschaftliche Basisaktivist*innen unterschrieben hatten. Verfasst worden war der Brief von einem Genossen aus der SAC. Ausgewiesen werden durfte das aber nicht. Es hätte die Unterschriften und die Veröffentlichung verunmöglicht.
Die Gewerkschaften sind Orte, an denen Lohnabhängige unabhängig von Milieu, Ideologie oder subkulturellen Vorlieben zusammenfinden können.
Auf politischer Ebene verhält es sich ähnlich. Vor wenigen Wochen traf ich mich im Parlamentsgebäude in Stockholm mit einem Freund, der sich einst in trotzkistischen Kleingruppen tummelte. Mittlerweile arbeitet er für den Parlamentsklub der schwedischen Linkspartei und ist dort für gewerkschaftliche Fragen zuständig. Vertreter*innen der Linkspartei sind uns gegenüber meist freundlich. Sie zeigten Verständnis, als wir sie aufforderten, die Einschränkung des Streikrechts zu verhindern. Handlungsbedarf sahen sie freilich nicht, obgleich die Möglichkeit bestanden hätte, tätig zu werden: Die gegenwärtige Minderheitsregierung aus Sozialdemokrat*innen und Grünen ist von der Unterstützung durch die Linkspartei abhängig. Wenigstens machten sie aus den Beweggründen keinen Hehl. In der linken Wochenzeitung »Flamman« schrieb Ali Esbati, seines Zeichens Arbeitsmarktsprecher der Linkspartei: »Kurzfristig werden die Effekte des neuen Gesetzes für die meisten Arbeitnehmer keinen Unterschied machen. Würden wir aufgrund dieser Frage eine Regierungskrise heraufbeschwören, könnten wir das der Bevölkerung nicht erklären.« Ähnlich argumentierte mein Freund, der anderen Linken einst mit Vorliebe »opportunistisches Verhalten« vorwarf. Die SAC sei letztlich für die Linkspartei nicht besonders interessant. 3000 Mitglieder brächten nicht viele Wählerstimmen. Bei den LO-Gewerkschaften gäbe es da bedeutend mehr zu holen, vor allem angesichts der gegenwärtigen Stoßrichtung der Partei: sozialdemokratische Politik, um enttäuschte Sozialdemokrat*innen abzuholen.
Genug der Anekdoten. Der Punkt ist: In die Radikalisierung der großen Gewerkschaften sowie der ihnen nahestehenden politischen Organisationen hege ich keine große Hoffnung. Gleichzeitig ist es peinlich, die eigene Gewerkschaft als Allheilmittel anzupreisen. Die relative Stärke der SAC verdankt sich spezifischen historisch-gesellschaftlichen Umständen, und sie ist vor allem genau das: relativ. Revolutionäre Stärke sieht anders aus. Wenn wir tief in die Ideengeschichte von Syndikalismus und Anarchismus greifen wollen, dann stimme ich dem zu, was der italienische Anarchist Errico Malatesta in einem Brief an die spanische Zeitung »El Productor« 1925 so formulierte: »Manche glauben, dass Anarchisten die anarchistischen Arbeiter – oder zumindest die mit anarchistischen Sympathien – in eigenen Organisationen sammeln müssen. Ich jedoch würde gerne alle Lohnarbeiter, ungeachtet derer gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Ansichten (oder fehlenden Ansichten), in denselben Organisationen sehen, verbunden einzig im solidarischen Kampf gegen ihre Bosse. Die Anarchisten sollten nicht von ihren Kollegen zu unterscheiden sein, auch wenn sie diese mit ihren Ideen und ihrem Beispiel zu beeinflussen versuchen.«
Quergewerkschaftliche Verbindungen
Was heißt das konkret? Im Idealfall können Gewerkschaften wie die SAC dazu genutzt werden, wenn schon nicht die großen Gewerkschaften selbst, dann doch deren Basis zu radikalisieren. So verdoppeln sie ihre Stärke: einerseits radikale Alternative zu den großen Gewerkschaften, andererseits Mittel zur Radikalisierung der Arbeiterbewegung. Dass dies möglich ist, auch das zeigen eigene Erfahrungen. An der Basis der LO-Gewerkschaften gibt es tatsächlich viele Mitglieder, die aus unterschiedlichen – und oft sehr verständlichen – Gründen in diesen organisiert sind, ideologisch der SAC jedoch weit näherstehen. Mit ihnen gibt es fruchtbaren Austausch und konkrete Zusammenarbeit: in den Protesten gegen die Verschärfung des Streikrechts genauso wie in internationalen Solidaritätskampagnen und der Öffnung zur Klimabewegung. In diesen »quergewerkschaftlichen« Verbindungen, wie es in Schweden heißt, lässt sich das klassenkämpferische Potenzial gewerkschaftlicher Arbeit herauskitzeln.
Der naheliegende Einwand, dass dies auch ohne Gewerkschaften gelingen könne, womöglich sogar besser, ist meines Erachtens falsch. Gewerkschaften haben anderen Organisationsformen gegenüber wesentliche Vorteile, wenn es um die Betonung der Klassenfrage und die Verschärfung der kapitalistischen Krise geht. Erstens bieten sie eine Infrastruktur an (Geld, Lokale, Kontakte usw.), die breite kollektive Interventionen ermöglicht. Zweitens sind sie Orte, an denen Lohnabhängige unabhängig von Milieu, Ideologie oder subkulturellen Vorlieben zusammenfinden können. Und drittens fokussieren sie den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, ohne dessen Auflösung eine Befreiung der Gesellschaft unmöglich ist.
Ohne Gewerkschaft geht es nicht
Ob es sich dabei um »radikale« oder »systemkonforme« Gewerkschaften handelt, ist letztlich nicht entscheidend. Die Gewerkschaft ist ein Mittel zum Zweck. Alle militanten Arbeiter*innen müssen für sich selbst entscheiden, in welcher Gewerkschaft sie politisch am besten arbeiten können. Patentrezepte gibt es keine. Auch Doppelmitgliedschaften sind möglich: hier die Massenorganisation, dort die Kaderschmiede. Torsten Bewernitz hat recht, wenn er im Arbeitskampf eine Praxis fordert, die sich »nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zu Bestehendem« versteht.
Unrealistische Versprechen sind kontraproduktiv und führen leicht zu vergeudeten Kräften und Resignation. Aber Gewerkschaften als Antreiber linksradikaler Politik kategorisch abzuschreiben, ist ebenso wenig produktiv. Wir würden uns im Namen abstrakter Schlammschlachten und moralischen Puritanismus‘ eines Mittels berauben, das nach wie vor einiges an Potenzial in sich birgt. Viele solcher Mittel haben wir nicht.