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|ak 667 | Ökologie

Waren verstopfen die Straße

Über einen wenig beachteten Aspekt in der Verkehrswende-Debatte: den Güterverkehr

Von Nico Graack

Foto: Max Titov/Unsplash

Aktivist*innen in schwindelerregenden Höhen und riesige Polizeiaufgebote: Die spektakulären Bilder von der Besetzung und Räumung des Dannenröder Waldes haben maßgeblich mit dazu beigetragen, dass das Thema Verkehrswende zu einem der bestimmenden Themen der deutschen Politik geworden ist. Die Debatte allerdings wird meist unter Vorzeichen geführt, für die ein großer Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) beispielhaft ist. »Wie gelingt es, die Blechlawine zu stoppen und Städte für Menschen zu gestalten?«, wird in dem Text gefragt. Gemeint ist die Lawine aus Autos, die sich morgens und nachmittags an den städtischen Ampeln staut und Anwohner*innen wie Autofahrenden gleichermaßen das Leben zur Hölle macht.

Die Debatte kreist somit zumeist um den motorisierten Individualverkehr, das heißt um Fragen nach lebenswerten Städten, sozialer Gerechtigkeit, um die Frage, wie der vorhandene Raum genutzt werden soll und welche Zerstörung unserer Lebensgrundlagen wir für individuelle Mobilität in Kauf zu nehmen bereit sind. Fast der gesamte Diskurs zur Verkehrswende spielt sich auf dieser Ebene ab. Das gilt umso mehr für die Gegner*innen einer solchen Verkehrswende: Stets geht es dort um persönliche Freiheit und die Verteidigung der Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren müssen, gegen den Angriff der privilegierten Klimaspinner. Der »einfache Mann«, zumeist Handwerker und Dorfbewohner, ist der liebste Protagonist dieses Narrativs. So polterte etwa CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak mit Bezug auf die ohnehin nicht ernst gemeinte Forderung der Bundes-Grünen nach einem Autobahn-Moratorium los: »Die lebensfremden Spinnereien bedeuten nichts anderes als das Abkoppeln der Menschen im ländlichen Raum.«

Der Bundesverkehrswegeplan (BVWP) hingegen, der die großen Weichen in der deutschen Verkehrspolitik stellt, schlägt einen ganz anderen Ton an: Um volkswirtschaftlichen Nutzen geht es dort. Und der BVWP 2030 verspricht große, positive volkswirtschaftliche Effekte: »Große Wirkungen entstehen insbesondere aus eingesparten Betriebs- und Transportkosten im Güterverkehr und Personenverkehr, aus Transportzeitnutzen der Ladung, aus der Verbesserung der Zuverlässigkeit sowie aus Reisezeiten im gewerblichen und nicht-gewerblichen Personenverkehr.« (1) Der nicht-gewerbliche Personenverkehr ist hier nicht viel mehr als ein Zusatz.

Darin äußert sich der reale ökonomische Druck des stetig steigenden Güterverkehrs. Allein für Deutschland prognostiziert eine vom Verkehrsministerium beauftragte Studie von 2014 einen Anstieg des jährlichen Güterverkehrsaufkommens von 17,6 Prozent bis 2030 im Vergleich zum Bezugsjahr 2010, für die Transportleistung sogar einen Anstieg von 38 Prozent. Immer mehr Waren also, die immer noch weitere Strecken zurücklegen. Nebenbei zerschlägt die Studie die Pseudohoffnungen der Wachstumsideolog*innen, die von einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Verkehrsleistung träumen: »Eine Entkoppelung von Wirtschafts- und Verkehrsleistungswachstum findet demzufolge nicht statt.« (2) Dabei bleibt der Anteil des Güterverkehrsaufkommens, der auf der Straße transportiert wird, recht konstant bei circa 80 Prozent.

Verkehrswende und Kapitalismus

Es ist offensichtlich, dass Produktion und Logistik unmittelbar zusammenhängen: Wenn ein Unternehmen Waren produziert, müssen die auch irgendwann vom Produktionsort zur Konsument*in transportiert werden, wenn das Unternehmen überleben möchte. Zugleich ist es schlicht eine empirische Tatsache, dass jedes Jahr noch mehr Waren produziert werden, was sich ökonometrisch im Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder eben des Verkehrsaufkommens ausdrückt.

Das BIP-Wachstum ist kein Zufall, seine Sicherung gehört zu den wichtigsten wirtschaftspolitischen Zielvorgaben. Es ist aber auch nicht einfach nur eine politische Notwendigkeit dergestalt, dass wegen der aus technologischem Fortschritt resultierenden Arbeitslosigkeit das Wachstum auf staatlicher Ebene durchgesetzt werden muss. Und erst recht ist es kein bloß subjektives Problem konsumgeiler Trottel, von denen es gleichwohl genügend gibt. Vielmehr handelt es sich um eine zwangsläufige Folge unserer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur. Das aufgezeigt zu haben ist wohl eine der unumstößlichen Einsichten der Marxschen Theorie.

Bei den Straßenbauprojekten geht es darum, der Flut an Lkw Herr zu werden und die Ansprüche einer automatisierten Just-in-time-Produktion zu erfüllen.

Ein Unternehmen kann es sich schlicht nicht aussuchen, ob es den Druck der Konkurrenz und/oder der Shareholder ignorieren möchte und lieber kein Geld in neue Technologien und optimierte Arbeitsstrukturen – kurz: in höhere Produktivität – reinvestiert. Ignoriert es diesen Druck dennoch, wird der gute Wille ziemlich schnell mit der ökonomischen Realität konfrontiert. Höhere Produktivität jedoch äußert sich nicht einfach in geringerem Ressourceneinsatz, wie man annehmen könnte. Im Gegenteil, es äußert sich in einer größeren Produktionsmenge. Das beobachtete bereits der Ökonom William Stanley Jevons (1835-1882), nach dem das Jevons-Paradoxon benannt ist; heute wird es im erweiterten Sinne als Rebound-Effekt bezeichnet (siehe ak 642). Erklärungsansätze für dieses Paradoxon bietet die Marxsche Arbeitswerttheorie. Dieser zufolge bestimmt sich der Wert einer Ware nach der zu ihrer Produktion durchschnittlich nötigen Arbeitszeit. Steigt die Produktivität, sinkt der Wert einer einzelnen Ware und es müssen mehr Waren für denselben Profit verkauft werden – oder es müssen Lohnkosten eingespart werden.

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Dynamik nahm die Logistik in den 1970er Jahren zunehmend eine Schlüsselrolle im Weltmarkt ein. In diesen Zeiten der Inflation entstand die »Just-in-time«-Produktion, um dem Wertverfall der Waren während der Lagerung zu begegnen. Die dafür nötigen Optimierungen entlang der ganzen Produktionskette erlangten durch das Internet noch einmal ungeahnte Dimensionen. Zunehmend wurde die Logistik ein riesiger Markt mit großen Akteur*innen, an die große Unternehmen viele Arbeitsfelder auslagern konnten. Für dieses neue Paradigma erwies sich der Güterverkehr auf der Schiene als zu unflexibel, der Lkw-Verkehr erlangte die Bedeutung, die er heute hat. (3)

Wenn also gegenwärtig die Rufe nach einer Verkehrswende laut werden, stoßen wir damit unmittelbar ins Herz einer der Widersprüche unseres Wirtschaftssystems. Gemeint ist nicht nur der Widerspruch zwischen einer endlichen Natur und einer unendlich steigenden Warenproduktion, sondern auch der zwischen einer endlichen Aufnahmefähigkeit der Straßen und jener Warenproduktion, den wir tagtäglich auf den Autobahnen erleben. Das lässt sich auch so ausdrücken: Die Verkehrswende ist längst nicht nur eine verkehrspolitische Frage.

Autofahrende gegen »Klimaspinner«

Diesen einfachen, ganz unmittelbar erlebbaren Widerspruch müssen wir, die linke Klimagerechtigkeitsbewegung, in unseren Aktionen benennen. Die ganzen unsinnigen Straßenbauprojekte des aktuellen BVWP werden viel zu oft im Kontext des Individualverkehrs verkauft. Aber es geht nicht darum, dass Heinz-Uwe – Handwerker und Dorfbewohner – wieder ohne Stau seinen Arbeitsweg bestreiten kann. Es geht darum, für die Flut an immer noch mehr Lkw Platz zu machen und die harten Ansprüche an automatisierte Just-in-time-Produktion zu erfüllen. Da es Heinz-Uwe aber plausibel verkauft werden kann, dass die neue Straße auch seine Frusterfahrungen am frühen Morgen eindämmt, wird das Argument der Straßenentlastung allzu gerne auf den Individualverkehr gemünzt.

Nebenbei bauscht das einen ideologischen Konflikt auf, in dem die imaginären Interessen der Autofahrenden mit den realen Interessen der Meisten kollidieren. Wenn wir nur auf Ebene des Individualverkehrs antworten – was in der Auto-Hochburg Deutschland notwendig bleibt – lassen wir uns unnötig auf diesen ideologischen Konflikt ein. Plötzlich lässt sich das Kleinbürgertum mobilisieren, den vermeintlichen Angriff der »Klimaspinner« auf ihr liebstes Hobby abzuwehren – obwohl ihre Interessen in der deutschen Verkehrsplanung keine zentrale Rolle spielen.

Wenn wir ernsthaft eine Chance haben wollen, die Mobilität neu zu strukturieren, müssen wir also auch dem Druck aus der gesamten Warenwirtschaft etwas entgegensetzen. Dafür müssen wir also nicht nur die Blechlawine aus den Städten vertreiben, sondern auch die Warenflut stoppen!


Anmerkungen:
1) Bundesverkehrswegeplan 2030, S. 16.
2) BVU, ITP, IVV: »Verkehrsverflechtungsprognose 2030 – Schlussbericht«, S. 287.
3) Für weitere Analysen zur Rolle der Logistik im aktuellen Kapitalismus ist es bereichernd, an die Arbeiten der italienischen Genoss*innen des Operaismus anzuknüpfen, die bereits in den 1970er Jahren diese Rolle in den Blick nahmen. Siehe Sergio Bologna: Logistik und Transportwesen. Ein Feld der sichtbaren und unsichtbaren Auseinandersetzungen im digitalen, globalen Kapitalismus«, in: express 4/2019 und 5/2019.

Nico Graack

ist freier Autor und Philosoph. Er arbeitet am Institut für Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften in Berlin und engagiert sich in verschiedenen Klimakontexten.