Wie Gewerkschaften über Krieg und Frieden streiten
Im Vorfeld der Bundeskongresse von ver.di und der IG Metall ist eine Kontroverse zum Umgang mit Waffenlieferungen ausgebrochen
Von Laura Six
Spätestens seit auf dem DGB-Bundeskongress im vergangenen Jahr ein Beschluss bestätigt wurde, der Waffenlieferungen an die Ukraine befürwortet, wird innerhalb der Gewerkschaften um antimilitaristische Grundsätze gerungen. Linke Gewerkschafter*innen befürchten eine Aufweichung gewerkschaftlicher Prinzipien. Unbegründet sind diese Sorgen nicht. Bereits im Februar 2023 hieß es aus dem Bundesvorstand der IG Metall mit Blick auf den bevorstehenden Gewerkschaftstag Ende Oktober, dass die eigenen Beschlusslagen anlässlich des DGB-Beschlusses zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen seien.
Ein solcher möglicher Kurswechsel bahnt sich auch in der zweitgrößten Gewerkschaft innerhalb des DGB an. Auf dem Bundeskongress von ver.di vom 17. bis zum 22. September in Berlin steht ein kontrovers diskutierter Grundsatzantrag zur Abstimmung, der bereits vorab die Kritik linker Gewerkschafter*innen auf sich zieht.
Was steht zur Debatte?
Unter dem Titel »Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch« liegt den Delegierten des Bundeskongresses ein Leitantrag zur Abstimmung vor, der um eine Positionierung zum andauernden Angriffskrieg in der Ukraine ringt. Grundlage des Antrags ist das Bewusstsein um die fundamentalen Dilemmata in dieser Angelegenheit wie auch die unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Mitgliedschaft. Während der Antrag in einigen Punkten, etwa in der Frage der Notwendigkeit atomarer Abrüstung, einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur oder der bedingungslosen Unterstützung von Flüchtenden und Vertriebenen, an bestehende Beschlusslagen anknüpft, gibt es zwei Punkte, in denen Linke eine Auflösung bisheriger friedens- und sicherheitspolitischer Positionen befürchten.
Es geht einerseits um die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine, andererseits um das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr. Wie schon in der Beschlusslage des DGB werden auch im vorliegenden ver.di-Leitantrag Waffenlieferungen an die Ukraine als völkerrechtlich zulässig und, mit Blick auf die Verteidigungsfähigkeit gegen den russischen Angriff, als politisch unterstützenswert bewertet. Für Staaten wie Deutschland ergebe sich daraus laut Antrag die besondere Verpflichtung, nicht selbst Kriegspartei zu werden, nicht zuletzt mit Blick auf das »Wohl der eigenen Bevölkerung«. Trotz der grundsätzlichen Zustimmung kritisiert der Antrag die übermäßige Fixierung auf Waffenlieferungen und das Denken in »Kategorien wie ›Sieg‹ oder ›Niederlage‹« und fordert den Einsatz für diplomatische Lösungen.
Verwirrend ist auch die Positionierung zum sogenannten »Sondervermögen« für die Bundeswehr. Abgelehnt wird es in dem Antrag mit der Begründung, dass »ad hoc Schulden in Form eines Sondervermögens ausschließlich für die Bundeswehr« aus dem Ärmel geschüttelt würden, während dieselbe Investitionsfreude in sozial- und bildungspolitischen Bereichen ausbleibe. Gleichzeitig wird der Bedarf finanzieller Mittel zur »Behebung bestehender Mängel« bei der Bundeswehr grundsätzlich anerkannt.
Mit Verweis auf die ver.di-Satzung erinnern die Kritiker*innen an die Verpflichtung, militaristischen Entwicklungen entgegenzutreten, und fordern ein Nein zu Waffenlieferungen.
Der Gewerkschaftsrat brachte den Antrag auf Initiative des Bundesvorstands ein. Dabei ist die Beschäftigung mit dem Krieg in der Ukraine keine, die allein auf die Führungsetagen der Gewerkschaft beschränkt wäre. Auch innerhalb der Mitgliedschaft gibt es viele, die sich nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine für Fragen von Frieden und Abrüstung interessieren. Einige von ihnen versammelten sich auf einer gewerkschaftlichen Friedenskonferenz unter dem Motto »Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg« am letzten Juniwochenende in Hanau. Rund 200 Gewerkschafter*innen waren der Einladung der IG-Metall-Geschäftsstelle Hanau-Fulda und der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefolgt, um zwei Tage über die Rolle von Gewerkschaften in Zeiten des Krieges in Europa zu diskutieren. Ziel der Veranstaltung war nicht zuletzt der Versuch einer gemeinsamen Positionsbildung anlässlich der bevorstehenden Auseinandersetzungen auf dem ver.di-Bundeskongress und dem Gewerkschaftstag der IG Metall.
Unter einer Petition mit dem Titel »Sagt Nein! Gewerkschafter*innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden« vereinigen sich nun Teile der gewerkschaftlichen Linken in ver.di, um die Delegierten des Bundeskongresses zur Ablehnung des Leitantrags aufzufordern. Die Petition kritisiert, der Antrag bereite »unter dem Deckmantel eines sogenannten ›umfassenden Sicherheitsbegriffs‹« einer Auf- und Hochrüstung den Weg, statt für friedenspolitische Grundsätze und konsequente Abrüstung einzustehen. Mit Verweis auf die ver.di-Satzung erinnern die Kritiker*innen an die Verpflichtung, militaristischen Entwicklungen entgegenzutreten, und fordern das »Nein« zu Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete sowie zum 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr. Statt in der Tradition des Burgfriedens den Schulterschluss mit der deutschen Regierung zu suchen, gelte es, sich an die Seite derjenigen zu stellen, die »gegen die Waffenlieferung kämpfen und gegen den Krieg und die Abwälzung der Krisenkosten auf uns alle streiken«, sowie diejenigen zu unterstützen, die sich dem Dienst an der Waffe entziehen und vor dem Krieg flüchten. Bis Mitte September haben etwa 11.000 Menschen die Petition unterzeichnet.
Ein neuer Burgfrieden?
Mit der Sehnsucht nach einer Beendigung des Krieges von unten entspricht die Petition wohl einem Wunsch weiter Teile der Linken. Hier entsteht jedoch ein Dilemma – angesichts dessen, dass die Beendigung des Krieges durch einen Generalstreik in Russland derzeit eine der unwahrscheinlicheren Möglichkeiten darstellt, arbeitet sich die Linke an der Frage nach dem Für und Wider von Waffenlieferungen ab.
Dass auch die gewerkschaftliche Linke um eine Position in dieser Frage ringt, zeigen Diskussionen innerhalb des express, der Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Das skizzierte Dilemma formulierte die Redaktion in einer Stellungnahme kurz nach dem Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine folgendermaßen: »Wir maßen uns aus sicherer Entfernung nicht an, darüber zu entscheiden, ob und wie sich die Angegriffenen in der Ukraine verteidigen wollen, wenden uns aber gegen alle Vorschläge, die die Gefahr einer unkalkulierbaren Ausweitung und Eskalation des Krieges beinhalten.« Vor diesem Hintergrund konnte die Redaktion selbst sich nicht dazu durchringen den Aufruf zu unterschreiben, obwohl zu den Unterstützer*innen auch zahlreiche Gewerkschafter*innen aus dem Umfeld des express gehören. Die Meinungen dazu sind in der Redaktion gespalten.
Einig ist sich express-Redaktion hingegen in der Ablehnung des 100-Milliarden-Pakets für die Bundeswehr, genauso darin, dass der Vergleich der heutigen Situation mit dem Burgfrieden fragwürdig sei. Wer diesen Vergleich heute anstrenge, müsse sich fragen, was die Gewerkschaften im Gegenzug erhielten. Während der Burgfrieden im Jahr 1914 die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse bedeutete, sei die Situation heute eine andere. Die Zustimmung zum Kurs der Bundesregierung, die in Teilen des Leitantrags deutlich werde, scheine heute vielmehr ein Akt »freiwilliger Unterstützung« zu sein, so die Einschätzung von Torsten Bewernitz aus der express-Redaktion.
Die Anbiederung an das »Zeitenwende«-Narrativ der Bundesregierung im Antrag ist vor allem deshalb problematisch, weil sie die Gefahr birgt, sich als Gewerkschaften von der Erzählung eines nationalen »Wir« vereinnahmen zu lassen. Diese Gefahr gilt es erst recht mit Blick auf das derzeitige Umfragehoch der AfD ernst zu nehmen. In der Entwicklung einer Gegenstrategie gegen nationale Vereinnahmung wird auch die Verteilungsfrage eine Rolle spielen, in der die Gewerkschaften eine noch offensivere Position beziehen könnten. Beispielsweise, indem die kommenden Tarifkämpfe unter das Motto »Wir zahlen nicht für Krieg und Krise« gestellt werden. Den Versuch, Tarifpolitik nicht nur mit Klima-, sondern auch mit Außen- bzw. Friedenspolitik zu verknüpfen, unternahm die IG-Metall-Geschäftsstelle Hanau-Fulda, als diese in der vergangenen Tarifrunde Metall & Elektro unter Beteiligung der lokalen DGB- und ver.di-Gliederung gemeinsam mit der örtlichen Friedensbewegung für die Forderung »Waffen runter, Löhne rauf« auf die Straße ging. Damit wurde die Beschäftigung mit dem Krieg in der Ukraine auch in den betrieblichen Alltag geholt. Zweifellos nicht ohne sich dort Konflikten und Widersprüchen auszusetzen.
Woran der Antrag auf dem Bundeskongress zudem krankt, ist der Blick für die Möglichkeiten konkreter Solidarität abseits von Waffenlieferungen. Dies gilt sowohl für die Unterstützung der progressiven Kräfte in der Ukraine, die bereits vor dem russischen Angriff konsequent gegen die neoliberale Umgestaltung des ukrainischen Staats mobilisierten und bei diesen Aktivitäten nicht zuletzt immer wieder den Angriffen rechter Kräfte und staatlicher Repression ausgesetzt waren, wie auch für ukrainische wie russische Deserteur*innen sowie all jene, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind.
Die bestehende Zusammenarbeit mit verfolgten belarussischen Gewerkschafter*innen unter anderem im Rahmen des Europäischen Gewerkschaftsbundes könnte als Vorbild auch für den Umgang mit russischen Gewerkschafter*innen gelten, die sich aus Russland dem Krieg widersetzen. Dass diese Fragen innerhalb der gewerkschaftlichen Basis eine Rolle spielen, zeigen neben der Petition vor allem die vielen Anträge aus den lokalen Gliederungen von ver.di, die auf die Fragen der Legitimität von Waffenlieferung und Aufrüstung eine andere Antwort geben als der Leitantrag.