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Urteil im Fall Kenan Ayaz

Bei der Verfolgung kurdischer Aktivist*innen in Europa übernimmt Deutschland die führende Rolle

Von Hêlîn Dirik

Foto von Kenan Ayaz im Gerichtssaal, er schaut in die Kamera und zeigt das Victory-Zeichen
Kenan Ayaz ist einer von sieben kurdischen Aktivisten, die in den letzten zwei Jahren an Deutschland ausgeliefert wurden. Foto: Mehmet Zahit Ekinci / Yeni Özgür Politika

Nach einem zehnmonatigen Prozess vor dem Oberlandesgericht Hamburg wurde am 2. September das Urteil gegen Kenan Ayaz gefällt: Vier Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach Paragraf 129b. Dem 50-jährigen kurdischen Aktivisten wurde vorgeworfen, 2018 und 2019 Verantwortlicher der PKK für Hamburg und anschließend bis 2020 für Teile Nordrhein-Westfalens gewesen zu sein. Im März 2023 wurde er am Flughafen Larnaka in Südzypern festgenommen – auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls und Auslieferungsantrags durch deutsche Behörden.

Ayaz hatte in der Türkei schon zwölf Jahre im Gefängnis gesessen und erlebte dort schwere Folter. Im Alter von 18 Jahren nahm man ihn und seinen 13-jährigen Bruder fest, weil ein anderer Gefangener ihn unter Folter mit einer falschen Aussage belastet hatte. In Zypern bekam Kenan Ayaz Asyl, ab 2013 lebte er dort als anerkannter politischer Geflüchteter. Solidaritätsgruppen in und außerhalb Zyperns versuchten, seine Überstellung an die deutsche Justiz zu verhindern. Ayaz selbst trat im Mai 2023 aus Protest in den Hungerstreik. Trotzdem erfolgte im Juni 2023 seine Auslieferung an Deutschland, wo aktuell vierzehn kurdische Aktivisten wegen des Vorwurfs der PKK-Mitgliedschaft in Untersuchungs- oder Strafhaft sind.

Fragwürdige Beweislage

Als »Dienstleistung für das Erdoğan-Regime« hatte Ayaz das Auslieferungsersuchen Deutschlands damals bezeichnet. Tatsächlich äußerte sich der türkische Präsident in Bezug auf den Prozessbeginn in Hamburg zufrieden, und die größtenteils staatsnahen türkischen Medien bejubelten die Auslieferung. In seinen Erklärungen vor dem Oberlandesgericht, bei denen er laut Berichten von Prozessbeobachter*innen immer wieder von der Richterin unterbrochen wurde, kritisierte Ayaz das Vorgehen Deutschlands gegen kurdische Aktivist*innen. »Er stellte vor Gericht eindrücklich die Geschichte der Kurd*innen dar, er erzählte von hundert Jahren Unterdrückung und den gezielten Vernichtungsoperationen der Türkei in Nordkurdistan. Die Politik Europas und Deutschlands, das betonte er mehrmals, sei dabei ein großes Hindernis für die Lösung der kurdischen Frage«, erklärt Anja Flach, Autorin und Aktivistin aus Hamburg, die das Verfahren beobachtet hat.

Im Kontext der engen Zusammenarbeit der Türkei und Deutschlands ist auch das Urteil gegen Kenan Ayaz zu bewerten – die Anklage war politisch motiviert. Die vermeintlichen Beweise und die Handlungen, die Gegenstand des Verfahrens waren, stehen in keinem Verhältnis zum hohen Strafmaß oder zur Veranlassung eines Europäischen Haftbefehls. Auf Grundlage von SMS-Inhalten wie »Ich gehe spazieren« und »Das Essen ist da« bastelte sich die Staatsanwaltschaft den Vorwurf zurecht, Ayaz habe Spendensammlungen für die PKK koordiniert. Gewalttaten oder Vorstrafen lagen nicht vor. Die Beschuldigungen basierten lediglich auf Telefonprotokollen und darüber hinaus auf einem geheimen Behördenzeugnis des Verfassungsschutzes, zu dem seitens der Verteidigung keinerlei Nachfragen gestellt werden durften – zwecks Informant*innenschutz, da die PKK »besonders gefährlich« sei.

»Es war schmerzhaft, mit anzusehen. Wir wissen, dass sich die kurdische Bewegung für Frauenbefreiung einsetzt und für uns alle kämpft. Wir wissen, wie viele im Kampf gegen den Islamischen Staat verletzt wurden oder ihr Leben ließen«, so Anja Flach. »Kenan Ayaz hat den Befreiungskampf und die Ungerechtigkeiten in allen Facetten dargestellt, und dann sehen wir, wie gnadenlos er vor Gericht gezerrt und verurteilt wird. Und wie darauf beharrt wird, es handele sich um Terrorismus, wenn man sich gegen staatliche Gewalt, gegen die Zerstörung von Dörfern und Drohnenkriege stellt.« Ayaz äußerte sich in seiner letzten Erklärung vor Gericht auch zum jüngsten Anschlag in Solingen, den der Islamische Staat für sich reklamiert. Er verwies darauf, dass es die Guerilla der PKK war, die vor zehn Jahren nach Shingal zog, um ein größeres Ausmaß des Genozids an den Êzîd*innen durch den von der Türkei unterstützen IS zu verhindern, und problematisierte vor diesem Hintergrund die Zusammenarbeit Deutschlands mit der Türkei.

Die Gerichtstermine waren bis zum Ende gut besucht. Neben Aktivist*innen aus linken und feministischen Bewegungen in Deutschland und der kurdischen Bewegung reisten auch Politiker*innen und Aktivist*innen aus Zypern zum Prozess an, um Solidarität zu zeigen. Auf der Webseite kenanwatch.org wurde der Prozess auf griechisch, deutsch und englisch laufend dokumentiert. Parallel wurde am OLG Hamburg am 15. Juli ein weiterer Prozess eröffnet, gegen den kurdischen Aktivisten Kadri Saka, der ebenfalls der PKK-Mitgliedschaft beschuldigt wird.

Auslieferungen nehmen zu

Mit der Kriminalisierung und Verfolgung von kurdischen Aktivist*innen verfolgt der deutsche Staat politische Interessen. Wie Antonia von der Behrens, Verteidigerin von Kenan Ayaz, Anfang des Jahres im ak-Interview (ak 700) ausführte, lagen nur wenige Wochen zwischen der Beantragung des Haftbefehls gegen Ayaz und dem Treffen des damaligen Generalbundesanwalts Peter Frank mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Kurz danach fand auch der Nato-Gipfel statt, auf dem unter anderem der Beitritt Finnlands und Schwedens in die Nato thematisiert wurde. Deren Aufnahme wurde in den Monaten davor durch die Türkei blockiert. Ankara warf den Ländern vor, Terrorist*innen zu beherbergen und in Schutz zu nehmen, da sie den Auslieferungsersuchen der Türkei in Bezug auf vermeintliche PKK-Mitglieder nicht nachgekommen waren. Das hat sich seitdem geändert, Schweden führte ein verschärftes Anti-Terror-Gesetz ein und begann erstmals mit Auslieferungen von Kurd*innen an Deutschland und an die Türkei.

Europäische Staaten kooperieren immer enger miteinander, um Kurd*innen zu kriminalisieren.

In den letzten zwei Jahren hat sich die Zahl der Auslieferungen aus dem europäischen Ausland an Deutschland erhöht – insgesamt verzeichnet der Azadî Rechtshilfefonds sieben Fälle innerhalb dieser Zeit. Noch am 5. September, drei Tage nach dem Urteil gegen Kenan Ayaz, wurde der 67-jährige Mehmet Ali Yılmaz aus Spanien an Deutschland ausgeliefert; am 16. August der 52-jährige Selahattin K. aus Italien; am 12. Juni der 36-jährige Ferit Çelik aus Schweden. Gülhatun Kara, eine Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E), befindet sich derzeit in Frankreich in Haft, auch ihr droht gerade die Überstellung an Deutschland.

Europäische Staaten kooperieren immer enger miteinander, um Kurd*innen zu kriminalisieren. Diese »Europäisierung der Repression«, bei der Deutschland in diesen Fällen die Führung übernehme, werde allerdings nicht nur die kurdische Bewegung, sondern auch andere linke Bewegungen und emanzipatorische Kämpfe betreffen, erklärt Arno-Jermaine Laffin, Mitarbeiter des Azadî Rechtshilfefonds, gegenüber ak: »Deutschland hat dabei nicht nur außenpolitische Interessen, sondern auch innenpolitische, und versucht durch die Kriminalisierung auch, Bewegungen in Europa klein zu halten. Es ist wichtig, diese Entwicklungen als Linke und solidarische Kreise im Blick zu behalten.«

Hêlîn Dirik

ist Redakteurin bei ak.