Wenn Kämpfe überschwappen
Auszug aus dem Blog Communia über die Arbeiter*innenorganisierung in Kasachstan, die der Revolte vorausging
Von Emancipación
Die Proteste in Kasachstan finden in einem breiteren Kontext statt, als er in der Presse vorkommt. Eine der wichtigsten Entwicklungen des Jahres 2021 in Zentralasien war, dass die Arbeiter*innen von Kasachstan über Georgien bis in den Donbass in der Ukraine neue Formen der Selbstbehauptung als Klasse erprobt haben.
Es ist kein Zufall, dass nun eines der Epizentren und der Ausgangspunkt der Proteste in Kasachstan die westliche Provinz Zhanaozen (auf deutsch auch häufig »Schangaösen«) war. Die Streikwelle in Zhanaozen im Juli war ein Vorbild für ganz Zentralasien. Die Bewegung, die sich trotz gewerkschaftlicher Bremsversuche zu einem Massenstreik zu entwickeln begann, hat seither immer wieder neue Branchen und Belegschaften erfasst und eine ständige Spannung aufrechterhalten, die eine offene Niederschlagung bisher verhindert hat.
Ihr Einfluss geht jedoch weit über den lokalen Bereich hinaus. In Kasachstan gab es im ersten Halbjahr 2021 mehr Streiks als in den drei vorangegangenen Jahren zusammen, vor allem in Mangystau und Zhanaozen. Im November, als ein Unfall in den Bergwerken von Karaganda im östlichen Zentrum des Landes die Stimmung der Bergleute in Richtung eines neuen großen Streiks wie 2017 drückte, waren die Gewerkschaften zur Stelle, um ihn zu unterbinden. Praktisch zur gleichen Zeit brach der Streik in den Gaswerken von Mangystaumunaigaz in der Region Zhanaozen aus. Der räumlich Bezug führte dazu, dass der Kampf in Zhanaozen »überschwappte« und sich auch der Frust der Bergleute in einem wilden Streik entlud.
Es ist die Häufung und das Zusammenwachsen von Kämpfen, von denen immer mehr – wenn auch nicht alle – die Kontrolle durch die Gewerkschaften umgehen, die die schnelle Mobilisierung vom ersten Tag an erklärt, als die Regierung die Gaspreiserhöhung einführte. Schon am 2. Januar begannen die Bergarbeiter von Zhezkazgan in Karaganda, dem eigentlichen Epizentrum der wilden Streiks, vor dem Regierungsgebäude für eine Senkung des Rentenalters, gegen die Inflation und für Versammlungsfreiheit zu demonstrieren. Bis zum 5. Januar haben sich die lokalen politischen Vertreter nicht einmal dazu herabgelassen, die Forderungen entgegenzunehmen.
Schon die Streikwelle im westkasachischen Zhanaozen im Juli 2021 war ein Vorbild für ganz Zentralasien.
Der Auslöser dafür, dass die Streiks und Proteste in Kasachstan schließlich zusammengekommen sind, war die Erhöhung der Preise für Flüssiggas. Die Förderbetriebe liegen mitten in der Wüste, alle Güter werden importiert. Höhere Treibstoffpreise bedeuten höhere Preise insgesamt – und einen Verlust an Kaufkraft, die wegen der niedrigen Löhne ohnehin schon bis an die Grenze strapaziert war.
Werksleiter, Gewerkschaftsvertreter und der Regionspräsident versuchten, den Arbeitern zu »erklären«, warum sie die Preise erhöhen »mussten«. Das übliche Argument: Das Unternehmen würde sonst in die Verlustzone geraten, die Arbeitsplätze würden verloren gehen. Die Arbeiter*innen entgegneten, dass »Märchen« ihre Probleme nicht lösen würden. Die Politiker, Gewerkschafter und Manager zogen ab, ohne jemanden zu überzeugen. Die Arbeiter*innen hatten ihre Lektion aus den vorangegangenen Kämpfen gelernt.
»Letztes Jahr fing es an, dass diese Unternehmen im großem Stil optimiert werden«, berichtet Ainur Kurmanow von der Sozialistischen Bewegung Kasachstans. »Jobs wurden gestrichen, die Arbeiter*innen verloren ihre Löhne und Prämien, viele Unternehmen wurden zu reinen Dienstleistern. Als die Ölgesellschaft Tengiz in der Region Atirau 40.000 Arbeiter*innen auf einmal entließ, war das ein echter Schock für ganz Westkasachstan. Der Staat unternahm nichts, um die Massenentlassungen zu verhindern. Man muss wissen, dass ein Ölarbeiter 5–10 Familienmitglieder ernährt. Die Entlassung eines Arbeiters verurteilt automatisch die ganze Familie zum Hungern. Es gibt hier keine Jobs, außer im Ölsektor und seinen Zulieferbranchen.«
Bei den Protesten in Kasachstan handelt es sich nicht um eine Revolution, sondern um einen Massenstreik, der zwar noch nicht zum Erfolg geführt hat, aber dennoch ausgereicht hat, um den Repressionsapparat des kasachischen Staates an den Rand des Kollaps zu bringen.
Mit Ausnahme einiger Betriebe in Zhanaozen haben sich die Kämpfe miteinander verbunden, nicht aber die Versammlungen und die von ihnen gewählten Komitees. Insgesamt ist der Kampf noch weit vom Niveau der Arbeiter*innenselbstorganisation entfernt, das wir etwa im Iran erlebt haben.
Dennoch haben die Lohnabhängigen ihre eigene Stärke entdeckt und sind als politisches Subjekt auf nationaler Ebene in Erscheinung getreten. Aber sie hatten noch nicht die Fähigkeit, die Macht zu übernehmen, als diese eine zeitlang brach lag. Diese organisatorische Schwäche der Proteste geht notwendig auch mit einer programmatischen Schwäche einher. Wir haben es in Aktau gesehen. Die Gewerkschaftsführer übernahmen mit Duldung der Repressionsorgane und der Regionalregierung die Führung der Proteste, bekräftigten die grundlegenden Forderungen, die sie noch kurz zuvor abgelehnt hatten, und riefen zur Ordnung auf. Symbolischerweise hissten sie die Landesflagge – das Symbol jener Interessen, gegen die die Arbeiter*innen sich erhoben haben –, sobald sie konnten.
Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Artikel »Protests in Kazakhstan: 5 clues to understand what’s going on», der am 7. Januar auf dem Communia Blog erschien. Übersetzung: Jan Ole Arps