»Unser Ziel ist der libertäre Sozialismus«
Autor Gabriel Kuhn über seine Wahl zum Generalsekretär der syndikalistischen Zentralorganisation der Arbeiter*innen in Schweden und seine Ziele
Interview: Guido Speckmann
ak-Leser*innen kennen Gabriel Kuhn als Autor, der aus Stockholm über schwedische Politik, Sport und gewerkschaftliche Themen schreibt. Am 1. Juni hat er den Posten des Generalsekretärs der syndikalistischen Gewerkschaft SAC, der Zentralorganisation der Arbeiter*innen in Schweden, übernommen. Im Gespräch mit ak erläutert er, wie es dazu kam und welche Rolle die SAC in Schweden spielt.
Gabriel, werden ak-Leser*innen in Zukunft weniger von dir zu lesen bekommen? Ein Job als Generalsekretär wird sicher Zeit in Anspruch nehmen.
Gabriel Kuhn: Der wird schon zeitintensiv sein. Schließlich ist das eine voll bezahlte Stelle, eine von sechs in der SAC. Aber es ist gut, zum Ausgleich etwas anderes zu machen, und für ak schreibt man gerne.
Sehr gut! Wie kam es denn dazu, dass du zum Generalsekretär gewählt worden bist? Warst du schon lange in der SAC aktiv?
Mitglied bin ich geworden, als ich 2007 nach Schweden gezogen bin. Zehn Jahre lang war ich dann in der Stockholmer Ortsgruppe der SAC aktiv, wo ich relativ viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht habe. 2018 bin ich in das Zentralkomitee der SAC gewählt worden, das zwischen den alle drei bis vier Jahren stattfindenden Kongressen die Leitung der Gewerkschaft übernimmt. Letztes Jahr schlitterte die SAC in eine interne Krise. Der Grund war die Nachbesetzung des Chefredakteurspostens von Arbetaren, einer seit 1922 von der SAC herausgegebenen Zeitung. Im Zuge dessen legten einige Leute ihren Posten nieder, unter anderem der Generalsekretär. Da habe ich mich auf die Nachfolge beworben und bin per Referendum, an dem alle Ortsgruppen teilnehmen, gewählt worden. Normalerweise wird der Generalsekretär auf Kongressen gewählt.
In Deutschland ist die SAC eher unbekannt. Kannst du erläutern, um was für eine Gewerkschaft es sich handelt?
Die SAC wurde 1910 gegründet. Sie ist eine der ganz wenigen Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten syndikalistischen Gewerkschaften, die kontinuierlich bis heute arbeiten. Es gab keine Verbote oder Spaltungen. Was Mitgliederzahl, Ressourcen oder die öffentliche Wahrnehmung anbelangt, ist sie nur mit der CGT in Spanien zu vergleichen. Diese hat immer noch fast 100.000 Mitglieder. In Deutschland ist die Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) ideologisch unsere Schwesterorganisation. Aber die FAU ist um einiges kleiner als die SAC.
Gabriel Kuhn
wurde 1972 in Innsbruck geboren. Er ist Autor von Büchern, die sich mit sozialistischer Theorie und Geschichte und sozialen Bewegungen beschäftigen. Seit Juni ist Kuhn Generalsekretär der schwedischen syndikalistischen Gewerkschaft SAC. Foto: Annie Hellquist
Die FAU soll ca. 1.400 Mitglieder haben. Wie viele habt ihr?
Wir nähern uns gerade wieder der 4.000er-Marke.
Wie sind diese Mitglieder denn organisiert?
Wir haben eine parallele Organisationsstruktur, d.h. es gibt Ortsgruppen, derzeit sind es 25, und Betriebsgruppen. Betriebsgruppen der gleichen Branche werden in Syndikaten zusammengefasst. Als Mitglied ist man also in einer Ortsgruppe und gleichzeitig in einem Syndikat aktiv.
Den Bauarbeiter *innen oder Pfleger *innen fällt es leichter, sich bei uns zu organisieren und aktiv zu werden.
In welchen Branchen seid ihr besonders gut vertreten, wo gibt es das größte Syndikat?
Momentan in der Bauindustrie, wo viele Arbeitskräfte aus Osteuropa beschäftigt sind. Unsere Aktivität dort wird auch in der schwedischen Öffentlichkeit stark wahrgenommen. Gut vertreten sind wir auch im Pflege- und Bildungsbereich, in der Kultur-, Medien- und IT-Branche sowie bei den Reinigungskräften, wo fast ausschließlich Migrant*innen arbeiten.
Wie kommt es, dass ihr in Branchen stark seid, in denen viele Migrant*innen beschäftigt sind?
Das liegt an der Art, wie wir arbeiten. Den Bauarbeiter*innen oder Pfleger*innen fällt es leichter, sich bei uns zu organisieren und aktiv zu werden. Im Gegensatz zu den großen schwedischen Gewerkschaften sind wir besser aufgestellt, Leuten spontan helfen zu können.
Warum seid ihr da besser aufgestellt?
Zum einen ist Schweden sehr bürokratisch aufgebaut; das gilt auch für die großen Gewerkschaften. Um bei ihnen aufgenommen zu werden, braucht es bestimmte Arbeits- und Aufenthaltspapiere. Das ist bei uns nicht Voraussetzung. Zum anderen sind wir im Gegensatz zu den anderen Gewerkschaften eher bereit, spontane Aktionen und Protestmaßnahmen von Arbeiter*innen zu unterstützen. Und wir sind bereit, schnell in Verhandlungen zu gehen, etwa, wenn es um ausstehende Löhne geht.
Ruft ihr auch schneller zum Streik auf?
An sich ja. Obwohl wir eine vergleichsweise kleine Gewerkschaft sind, führen wir immer wieder die Liste der Streiktage pro Jahr in Schweden an. Allerdings hat sich das in den letzten Jahren verändert, da das Streikrecht massiv eingeschränkt wurde. Fast jeder Streik birgt jetzt juristische Risiken. Verhandlungsaufforderungen an Unternehmen erweisen sich da als effektive Alternative. Aber bei uns gibt es natürlich Diskussionen, ob diese Form einer relativ individuellen Problemlösung langfristig und politisch gesehen richtig ist – oder ob man nicht eher auf kollektive Aktionen und auf häufigere Streiks setzen sollte.
Was waren die größten Erfolge der SAC in den letzten Jahren?
Zalando, der deutsche Online-Versandhändler für Mode, hat vor ein paar Jahren in Stockholm ein Lager eröffnet mit zum großen Teil migrantischen Arbeiter*innen. Innerhalb relativ kurzer Zeit waren wir dort die Mehrheitsgewerkschaft. Das hat es möglich gemacht, dass wir viele der dortigen Missstände öffentlich machen und zumindest graduell die Arbeitsbedingungen bei Zalando verbessern konnten. Unsere Organisierung unter den Bauarbeiter*innen ist auch ein großer Erfolg. Er hat uns sogar Kontakte zu den großen Gewerkschaften in Schweden beschert, die ansonsten nichts mit uns zu tun haben wollen. Die waren neugierig, wie uns das gelungen ist. Manchmal gibt es auch Einzelfälle, die große Aufmerksamkeit erregen, wie den einer Reinigungskraft, die bei der ehemaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidentin gearbeitet hat und keine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Sie ist Mitglied bei uns. Die SAC begann schon Anfang der 2000er Jahre, undokumentierte Arbeiter*innen zu organisieren, und nahm damit in Schweden eine führende Rolle ein.
Was sind deine Ziele als Generalsekretär?
Wir müssen die organisatorische Krise in den Griff bekommen und die Kommunikationsstrukturen verbessern. Eine besondere Herausforderung ist es, die SAC wieder breiter aufzustellen. Sie ist derzeit sehr auf die großen Städte konzentriert. Auch den internationalen Austausch mit anderen syndikalistischen Gewerkschaften müssen wir intensivieren. Viele Arbeitsmigrant*innen arbeiten nur drei Monate in Schweden, dann in Norwegen, Deutschland oder sonst wo. Schließlich ist natürlich das Klassenbewusstsein für die Revolution zu stärken! In unserer Prinzipienerklärung steht immer noch, dass das Ziel der libertäre Sozialismus ist.
In Deutschland hatten die Gewerkschaften bis vor kurzem sinkende Mitgliedszahlen. Jetzt hat ver.di durch Streiks und Kampagnen eine Menge neuer Mitglieder gewinnen können. Gibt es in Schweden eine ähnliche Entwicklung?
In Schweden lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad vor 20, 30 Jahren bei 90 Prozent. Das hat sich durch neue Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, Migration, Privatisierung usw. geändert. Aber auch durch die sozialdemokratische Integration der Gewerkschaften in den Staatsapparat. Gewerkschaften wurden nicht mehr als Kampforganisationen wahrgenommen – und verloren an Bedeutung. Das ändert sich jetzt, weil sich auch in Schweden die Klassenkonflikte verschärfen und die Arbeitsbedingungen schlechter werden. So gab es jüngst einen wilden Streik der S-Bahnfahrer*innen in Stockholm, weil Personal, in diesem Fall die Zugbegleiter*innen, eingespart werden sollte. Für Schweden war das ein bemerkenswertes Ereignis. Ich glaube, dass sowohl die SAC als auch andere Gewerkschaften in den nächsten Jahren wieder mehr Zulauf haben werden – vorausgesetzt, sie engagieren sich stärker in Arbeitskämpfen, anstatt im vorauseilenden Gehorsam zu beschwichtigen.