Unerfüllte Forderungen
Sechs Monate nach dem Anschlag in Hanau kämpfen die gut organisierten Opferfamilien gegen eine Rückkehr zur »Normalität«
Von Dîlan Karacadağ
Zermürbt. Ein Gefühl, das viele Menschen mit Migrationsgeschichte seit dem Anschlag von Hanau hin und wieder mal empfinden. Zermürbt, weil der Schmerz und zugleich der Zwang, politisch zu handeln, einem die Energie aufsaugen. Wir sind die Hinterbliebenen, die im Fadenkreuz der Nazis kämpfen. Weiße Menschen empfinden die etablierte rassistische Struktur als surreal. Während deren Gefahren weiter heruntergespielt werden, gibt es schon die nächsten Angriffe.
Am 19. Februar erschoss der Rassist Tobias Rathjen in Hanau neun Menschen. In der Bar La Votre den 33-jährigen Wirt Kaloyan Velkov, in der Shisha-Bar Midnight den 30-jährigen Inhaber Sedat Gürbüz und zwischen beiden Lokalen auf der Straße den 34-jährigen Fatih Saraçoğlu. Den 37-jährigen Maurer Gökhan Gültekin, die 35-jährige alleinerziehende Mutter Mercedes Kierpacz, den 23-jährigen Installateur Ferhat Unvar, den 21-jährigen Said Nesar Hashemi und den 22-jährigen Hamza Kurtović in der Arena Bar im benachbarten Stadtteil Kesselstadt. Den 22-jährigen Vili Viorel Păun in seinem Auto vor der Bar. Er hatte den Täter vom ersten Tatort auf eigene Faust verfolgt, um ihn aufzuhalten.
Viele haben schwer verletzt überlebt – unter ihnen der Bruder von Said Nesar. Was ist seit dem Anschlag von Hanau passiert? Welche Handlungen und Erkenntnisse haben uns gestärkt, geschwächt oder auch in den Wahnsinn getrieben? In diesem Text möchte ich einen Blick auf die letzten sechs Monate werfen.
Spekulationen und Instrumentalisierung
Schon in den Stunden unmittelbar nach der Tat von Hanau gab es die ersten rassistischen Spekulationen: »Man spricht von einem Streit zwischen Kurden und russischer Mafia«, war in der Bild nachzulesen. Mit allen Mitteln wurde versucht, die Tat als alles außer rassistisch darzustellen. Der Hanauer Anzeiger nannte es »Amoklauf«, Focus berichtete unter der Überschrift »Shisha-Morde«, zahlreiche Medien verharmlosten das Rassismusproblem unter dem Begriff »Fremdenfeindlichkeit«. Zu lange wurde von einem verwirrten Einzeltäter gesprochen. Der antifaschistische Widerstand hingegen wies darauf hin, dass auch achtlose Wortwahl Rassismus den Boden bereitet, und erreichte damit auch, dass es ein gewisses mediales Umdenken gab.
Direkt am Abend des 20. Februar war eine Mahnwache angekündigt worden und drei Tage später eine Demo, zu der bundesweit mobilisiert worden war und an der sich Tausende beteiligten. Die Botschaft lautete: »Wir sind mehr«. Anhänger*innen und Repräsentant*innen der türkischen Regierungspartei AKP allerdings instrumentalisierten diese Botschaft für sich. Die gebürtigen Hanauer mit kurdischen Wurzeln Ferhat und Gökhan wurden in den türkischen Medien als »Türken« bezeichnet. Bei Kundgebungen und Demos hielten türkisch-rassistische Organisationen wie Millî Görüş und DİTİB Reden. »Allahu Akbar«-Rufe waren auf einem Trauermarsch, der am Sonntag nach der Tat aus der Kesselstadt in die Innenstadt zog, zu hören, bei dem auch viele türkische Flaggen geschwenkt wurden. Die Bundeskanzlerin Merkel telefonierte mit Erdoğan.
Fünf Tage nach dem Anschlag wurden die ersten Opfer von Hanau beerdigt. In der selben Woche feierten Menschen in Köln sowie in vielen anderen Städten Karneval. Auch in Halle, wo vier Monate zuvor zwei Menschen durch einen rassistisch-antisemitischen Anschlag ums Leben gekommen waren.
»Karnevalslust« und Politikversprechen
Doch das störte die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht. Zahlreiche Politiker*innen wiederum hatten in den ersten Tagen ihre Forderungen auf parlamentarischer Ebene ausgesprochen, stundenlange Gespräche mit den Angehörigen geführt, an Trauerfeier, Kundgebungen und anderen Veranstaltungen teilgenommen und das Versprechen gegeben, sie würden sich solidarisieren und engagieren. Doch dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Anscheinend wollten viele sich in den Tagen, als Hanau medial sehr präsent war, vor der »großen Presse« vor allem profilieren. Minimales Engagement wie Reden im Land- und Bundestag oder kleine Anfragen war kaum sichtbar.
Es soll kein Vergessen geben. Kein Nachgeben. Keine Ruhe vor einer Aufklärung.
Zwei Wochen nach der Tat war im Congress Park in Hanau eine bewegende Trauerfeier organisiert worden, an der auch Bundestags- und Bundesratspräsident, Bundeskanzlerin, der hessische Ministerpräsident mit seinem Landeskabinett und Vertreter*innen von verschiedenen Organisationen teilnahmen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, überreichte der Kanzlerin dort einen an sie gerichteten Brief persönlich in die Hand. In dem Brief forderte Serpil im Namen aller Opferfamilien eine lückenlose Aufklärung des Anschlags und Unterstützung im »beschädigten Leben«. Vier Wochen später kam eine Antwort: »Die Bundesregierung zielt auf Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus.« Die Folge: nichts. Die Forderungen wurden umgangen. Migrantische Gesellschaften werden von den Sicherheitsbehörden nicht geschützt. Das kennen wir von den NSU-Morden. Mordopfer wurden damals zu mutmaßlichen Tätern, die Hinterbliebenen zu Verdächtigen. Doch diesmal war es nicht so einfach, denn diesmal haben sich die Familien schnell zusammengetan und organisiert.
»Initiative 19. Februar«
Mit der nach dem Anschlag gegründeten »Initiative 19. Februar Hanau« kamen migrantische Antifaschist*innen mit den Opferfamilien zusammen und eröffneten gemeinsam eine Anlaufstelle (auch genannt: »Laden«), die direkt gegenüber dem ersten Tatort liegt. Ziel war und ist die lückenlose Aufklärung der Tat: Wer hat versagt? Wer muss zur Rechenschaft gezogen werden? Die Familien und Aktivist*innen der Anlaufstelle sind sehr aktiv. Täglich ist der »Laden« geöffnet. Anwält*innen werden vermittelt, gemeinsam wird getrauert, Ereignisse werden diskutiert und Aktionen organisiert. Wöchentlich werden frische Blumen an den Tatorten und am zentral gelegenen Brüder-Grimm-Denkmal aufgestellt, damit beim Vorbeilaufen an die Tat erinnert werden kann. Es soll kein Vergessen geben. Kein Nachgeben. Keine Ruhe vor einer Aufklärung.
Dagegen wollen CDU-Politiker*innen wie Heiko Kasseckert oder Margret Härtel vorgehen: Anfang August forderten sie, dass die Zeichen öffentlicher Trauer aus Hanau entfernt werden sollten. Dem Brüder-Grimm-Denkmal etwa solle wieder sein »alter Stellenwert zurückgegeben« werden. Er wolle die »Maßstäbe wahren« und fordert eine »Rückkehr zur Normalität«, so Kasseckert. Was hat der »Christdemokrat« dafür getan, damit die Hinterbliebenen zur Normalität zurückfinden? Eine beschämende Aufforderung weiterzumachen, als sei nichts gewesen, ist der Wunsch nach Normalität angesichts des dadurch gestärkten Rechtsextremismus.
Doch die Familien der Opfer, vor allem Familie Kurtović, Unvar (Temiz), Gültekin, Păun, Gürbüz, Kierpacz (Goman) und Hashemi, die oft zusammenkommen, gemeinsam für eine Aufklärung und gegen Rassismus kämpfen und die auch mit der Zeit zu einer Familie wurden, werden nicht zulassen, dass dieser Anschlag respektlos umgangen und die Opfer vergessen werden. Die Familien haben im Hessischen Landtag Antworten auf ihren offenen Fragen eingefordert. Dass die Familien sich in der Anlaufstelle in Hanau mehrmals in der Woche treffen, erschwert den Sicherheitsbehörden die »Arbeit«.
Am 19. Juni wurde ein 27 Meter langes Graffiti-Gemälde unter der Friedensbrücke in Frankfurt eingeweiht. Es zeigt die Porträts der ermordeten jungen Leute. Gesprüht wurde es von einem namenlosen Kollektiv aus Künstler*innen.
Der Anschlag ist sechs Monate her, und es ist immer noch nichts passiert. Eine bundesweite Demonstration in Hanau am 22. August wird daher unter dem Motto »Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen« stehen. Alle, die sich das Recht nehmen, sich selbst zu verteidigen, können sich auf dieser Demonstration für Antifaschismus stark machen und sich gegen Nazis und Rassist*innen stellen – und damit auch gegen die Zermürbung ankämpfen, die uns zu schaffen macht.