Was wäre der beste denkbare Ausgang des Krieges?
Zur linken Debatte um die russische Invasion der Ukraine, Imperialismus und die Rolle des Westens
Von Karmína
Für alle, die sich auf Lenin berufen, sollte die aktuelle russische Invasion in der Ukraine keine große theoretische Herausforderung darstellen. Die Ukraine kämpft einen »nationalen Verteidigungskrieg« und ist zu unterstützen, wie Lenin in seiner Polemik gegen den späteren Linkskommunisten und Linksoppositionellen Kiewski (Pjatakow) nahelegt. Für jene, die fürchten, in innerimperialistische Rivalitäten verwickelt zu werden, hatte Trotzki 1938 eine Antwort:
»Nehmen wir an, dass morgen in der französischen Kolonie Algerien unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit ein Aufstand ausbricht und dass die italienische Regierung aus ihren eigenen imperialistischen Interessen heraus Waffenlieferungen an die Rebellen vorbereitet. Welche Haltung sollten die italienischen Arbeiter in diesem Falle einnehmen? Ich habe bewusst als Beispiel einen Aufstand gegen ein demokratisches imperialistisches Land gewählt, wobei die Intervention auf Seiten der Aufständischen von einem faschistischen Land ausgeht. Sollten die italienischen Arbeiter die Schiffsladungen mit Waffen an die Algerier aufhalten? Mögen die Ultralinken diese Frage zu bejahen wagen. Jeder Revolutionär würde gemeinsam mit den italienischen Arbeitern und algerischen Aufständischen eine solche Antwort empört von sich weisen.«
Wir sind weder Leninist*innen noch Trotzkist*innen (obwohl wir uns hier um Offenheit bemühen, vor allem, was die Originaltexte betrifft, nicht so sehr die heutigen Huldigungen), es reicht also nicht aus, die Klassiker zu zitieren, um uns zu überzeugen. Wer sich jedoch in diese politischen Traditionen stellt und eine andere Position zum gegenwärtigen Krieg vertritt, sollte sich Mühe geben, seinen »Revisionismus« gut zu begründen.
Linke Denktraditionen zum kapitalistischen Krieg
Was die Ultralinken betrifft, für die der »revolutionäre Defätismus« die einzige denkbare Antwort auf jeden Krieg und unter allen Umständen ist, so würden einige von ihnen immer noch gern behaupten, in der Tradition Lenins zu argumentieren. Sie versuchen, den Widerspruch zu umschiffen, indem sie auf Perioden der kapitalistischen Entwicklung verweisen, in denen innerkapitalistische Konflikte vor 1914 fortschrittlich, pro-demokratisch usw. sein konnten (Marx hatte also Recht mit Polen, Lenin mit dem russisch-japanischen Krieg usw.), aber alle solchen Konflikte nach 1914 notwendigerweise imperialistisch sind. Daher ist es nicht nur verboten, praktisch Partei zu ergreifen (soweit in Ordnung), sondern auch nur darüber nachzudenken, welcher Ausgang eines Krieges vom Standpunkt der Arbeiter*innenklasse aus vorzuziehen wäre. Solche Überlegungen werden als geopolitische »Wahrsagerei« bezeichnet. Die materialistische Methode scheint also auf alles anwendbar zu sein, außer auf den Bereich der internationalen Beziehungen, denn dann könnte man sich der »Parteinahme« schuldig machen!
Wie dem auch sei, Marx und Engels haben zu ihrer Zeit eine Menge »Wahrsagerei« betrieben. Ohne auf die Details einzugehen, sind wir der Meinung, dass die zugrundeliegende Periodisierung, die auf Vorstellungen von langfristigem kapitalistischem »Niedergang« oder seiner »Fäulnis« und einem falschen Verständnis von formeller und reeller Subsumtion (als unterschiedliche Stufen der kapitalistischen Entwicklung) beruht, aus Gründen, die nichts mit irgendeinem Krieg zu tun haben, abzulehnen ist. Damit verliert die Unterscheidung zwischen der Zeit vor und nach 1914 an Bedeutung. (1)
Für alle, die sich auf Lenin berufen, sollte die russische Invasion in der Ukraine keine große theoretische Herausforderung darstellen.
Diejenigen, die sich als Erben des anderen Strangs des linken Kommunismus sehen, können auf die rätekommunistische Haltung zum Zweiten Weltkrieg verweisen, wie sie etwa von Otto Rühle vertreten wurde. Es ist interessant, seinen Text von 1940 nochmal ganz zu lesen. Rühle glaubte, dass die Zukunft staatskapitalistisch und nicht privatkapitalistisch sei, und erwartete, dass die »Demokratie« den Krieg militärisch verlieren und der Faschismus gewinnen würde. Da die Geschichte anders verlief, sollten vielleicht auch die praktischen Schlussfolgerungen, die er aus dieser Analyse zog, auf den Prüfstand kommen. In der deutsch-niederländischen Tradition gibt es viele wichtige Beiträge, aber viele ihrer Analysen sind von der Erwartung einer finalen Krise oder einer bevorstehenden Weltrevolution geprägt.
Wir arbeiten im Grunde seit der ersten Woche der Invasion an einem Artikel über den russisch-ukrainischen Krieg. Diese Arbeit hat sich als schwierig erwiesen, voller Dilemmata und Kontroversen, ganz zu schweigen von den dramatischen Veränderungen, die der Konflikt in seinem Verlauf genommen hat. Die folgenden Ausführungen stellen einen groben vorläufigen Konsens dar, wenn auch in Form eher verstreuter Notizen.
Bankrotte theoretische Bezüge
Wir glauben nicht, dass das, was in der Ukraine geschieht, von sich aus eine Weltrevolution auslösen wird. Wir sehen keine Bewegung, die in der Lage wäre, wirklich revolutionären Defätismus auf beiden Seiten praktisch zu organisieren. Wir sind auch nicht geneigt, in den wenigen Fälle von Plünderung und Desertion auf ukrainischer Seite einen Grund für weltgeschichtliche Hoffnungen zu sehen. Da wir uns nicht auf die in unseren Augen bankrotten theoretischen Bezüge eines »imperialistischen Stadiums«, der »Fäulnis« oder der »finalen Krise« des Kapitals beziehen, sehen wir nichts Falsches daran, erstens zu fragen, welcher der (realistisch möglichen) Ausgänge des Krieges wahrscheinlich erscheint und welcher vorzuziehen wäre. Erst dann kann man zweitens fragen, was Kommunist*innen tun sollten, und drittens, was die Arbeiter*innenklasse tun sollte. Die beiden letztgenannten Fragen sind nicht identisch, und zwar aus einfachen Gründen der Masse: Es kann ein nützlicher Rat für ein paar politische Aktivist*innen sein, aus einem Land zu fliehen, das sich im Krieg befindet, aber sicher nicht für die gesamte Arbeiter*innenklasse einer Bevölkerung von 40 Millionen.
Egal, wie die Aggression des russischen Staates ausgeht, sie hat bereits jetzt einen schrecklichen Preis: bis zu einer Viertelmillion Tote (das ist eine Schätzung der bisherigen Opferzahlen), Zehntausende Verstümmelte und Millionen Traumatisierte, Vertriebene und Enteignete. Wie viele noch hinzukommen, wissen wir nicht. In diesem Sinne wird jeder Ausgang schrecklich sein. Nach allem, was wir wissen, ist es jedoch vorzuziehen, wenn Russlands militärische Anstrengungen aufgrund von Desertion, Meuterei und »Fragging« (2) implodieren. Das ist insofern ein realistisches Szenario, als es Anzeichen für eine allmähliche Zersetzung der Invasionsstreitkräfte gibt, auch wenn dieser Prozess allenfalls an seinem Anfang steht. Einer der möglichen darauf folgenden Schritte wäre eine demokratische, antimilitaristische Revolution in Russland, hoffentlich unter massiver Beteiligung der Arbeiter*innenklasse.
Wie wir im Interview mit Sozial.Geschichte Online erörtert haben, könnte dies Schockwellen in der gesamten GUS-Region auslösen und die autoritären kapitalistischen Regime in Belarus, Kasachstan usw. ins Wanken bringen. Im besten Fall könnte sich ein solcher Ablauf der Ereignisse zu einer Art 1905 des 21. Jahrhunderts entwickeln. Natürlich gibt es an jeder Stelle auch andere Entwicklungsmöglichkeiten, einschließlich der Bildung einer vollwertigen militärisch-nationalistischen Diktatur in Russland als Reaktion auf eine Niederlage und der Vorbereitung des nächsten (und möglicherweise letzten) Krieges.
Dieses Szenario wäre vom Tisch, wenn das ukrainische Militär aufhören würde zu kämpfen oder der Westen seine Hilfe einstellen würde. Trotz aller bisherigen Unterstützung ist der Unterschied bei der militärischen Ausrüstung und der Munition immer noch enorm. Russland würde seine Anstrengungen gegen eine geschwächte Ukraine schnell wieder verstärken und gleichzeitig seine Herrschaft im Innern festigen.
Was Linke tun und was sie lassen könnten
Dazu zwei Anmerkungen. Erstens bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass Kommunist*innen oder sogar »die Linke« offen zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine aufrufen müssen. Die Positionen oder Wünsche von politischen Randgruppen sind hier ohnehin nicht ausschlaggebend. Aber selbst ein Schweigen (um sich nicht als Defätist zu diskreditieren) wäre besser als einige der völlig realitätsfernen pseudo-internationalistischen Vorschläge, die derzeit kursieren. Darüber hinaus bedeutet das Eingeständnis, dass die (immer noch begrenzte) Militärhilfe des Westens im Moment dazu beiträgt, Zerstörungen und den Verlust von Menschenleben in noch größerem Ausmaß zu begrenzen, nicht, dass man alles, was die ukrainischen Streitkräfte tun oder in Zukunft zu tun versuchen, bedingungslos unterstützt. Die Situation verändert sich, und eine ehrliche und realistische Analyse wird sich mit ihr verändern müssen.
Zweitens bedeutet dies nicht, dass wir nicht solidarisch mit ukrainischen Kriegsdienstverweigerer*innen sein oder dass wir uns gegen die Verbrüderung mit russischen Wehrpflichtigen oder Kriegsgefangenen stellen sollten, einschließlich der Männer, die von den beiden (jetzt annektierten) »Volksrepubliken« zwangsmobilisiert wurden. Beides ist auch auf einer grundlegenden, vorpolitischen Ebene eine gute Sache. Leider haben die ukrainischen Gerichte trotz der offiziellen Position der Regierung keine Nachsicht mit den Zwangsmobilisierten geübt. Auch die ukrainischen Aktivist*innen, die deren Rechte verteidigen, verdienen Unterstützung.
Gleichzeitig sind unsere Ansichten und das oben skizzierte Szenario eindeutig unvereinbar mit Aktionen wie der auf einem italienischen Flughafen im März 2022, als die dortige Gewerkschaft sich weigerte, eine Waffenlieferung an die Ukraine zu verladen. (Nicht, dass dies wirklich Auswirkungen gehabt hätte, die über die Erwärmung einiger Herzen hinausging. Und es ist natürlich reiner Zufall, dass ein Vertreter der besagten Gewerkschaft, der die Aktion verteidigte, 2017 auch an einer stalinistisch anmutenden Maiparade in der sogenannten Volksrepublik Luhansk teilnahm, die Arbeiter*innenproteste rücksichtslos unterdrückt.)
Was die Ukraine selbst betrifft, so machen wir uns auch im Falle eines Sieges keine großen Hoffnungen über ihre nahe Zukunft. Glücklicherweise scheint die extreme Rechte bisher nicht allzu sehr gestärkt worden zu sein, obwohl wir anmerken sollten, dass wir die Lage nur aus einer Außenperspektive betrachten können. Andererseits haben mildere Varianten des Nationalismus sicherlich an Popularität gewonnen – daher auch all das westliche Gerede von der »Geburt« der »Ukraine als moderne Nation«. Der Drang, angebliche »Kollaborateure« hart zu bestrafen – zu denen für manche auch Menschen gehören, die einfach russische humanitäre Hilfe angenommen oder ihre Arbeit im öffentlichen Dienst fortgesetzt haben –, wird hoffentlich abebben. Die Zerstörung und das Chaos, das der Krieg angerichtet hat, sind immens, und in den nächsten Jahren oder gar Jahrzehnten wird die Ukraine vollständig auf Hilfe von außen angewiesen sein, möglicherweise auch auf russische Reparationen. Wir sollten nicht erwarten, dass Menschen, die unter solchen Bedingungen um ihr Überleben kämpfen müssen, als Hoffnungsträger für den Rest der Welt herhalten müssen.
Eine Kolonie des Westens?
Im Gegensatz zu einigen Genoss*innen macht uns das »westliche Kapital«, das in die Ukraine strömt, um »ihre Ressourcen zu plündern« und »ihre billige Arbeitskraft auszubeuten«, eher wenig Sorge. Zum einen hat die Ukraine ihre Erfahrungen mit einem national ausgerichteten kapitalistischen Entwicklungsmodell gemacht, das sie nicht nur ausgeplündert und ausgebeutet hat, sondern auch sehr wenig für die Entwicklung der Wirtschaft in einem »rationalen kapitalistischen« Sinne getan hat. Die Jahre seit 2014 brachten allenfalls kleine Verbesserungen. Auch wegen des andauernden Krieges im Donbass konnte die Ukraine nicht vom Wirtschaftsboom dieser Jahre profitieren (anders als die benachbarte Slowakei, wo die Arbeitslosigkeit zum ersten Mal seit 1990 auf fünf Prozent sank).
Auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, einschließlich unseres Landes, wurde Anfang der 1990er mit Modellen eines »nationalen Kapitalismus« experimentiert. Als dieses Modell zusammenbrach, öffneten sich die Länder für westliche Direktinvestitionen und führten, oft im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt, »neoliberale« Reformen durch.
Es ist paternalistisch, aus einer Position des EU-Lebensstandards und der EU-Freiheiten über die Gefahren einer Kolonisierung durch die EU zu predigen.
Diese Periode brachte viel Leid mit sich, insbesondere für manche Schichten der Arbeiter*innenklasse: Teile des öffentlichen Sektors, »postsozialistische« Industrien, Arbeitslose und rassistisch Ausgegrenzte. Auf der anderen Seite war der Prozess auch nicht eindeutig. Es sind seither die Reallöhne kontinuierlich gestiegen, und die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen, was sich in einem steigenden Lebensstandard niederschlägt. Mit anderen Worten: Die Westintegration führte zu einer »normalen«, widersprüchlichen kapitalistischen Entwicklung. Dies ist eine etwas andere Entwicklung als etwa in Deutschland, wo die Reallöhne in den letzten zwei Jahrzehnten weitgehend stagnierten. Dies sollte man berücksichtigen, wenn man darüber nachdenkt, worauf die Arbeiter*innenklasse in unserer Region hoffen kann, und welche wirtschaftlichen Interessen sie bezüglich der weiteren kapitalistischen Entwicklung hat.
Diejenigen, die nun davor warnen, dass der Ukraine das Gleiche bevorsteht, sollten auch klar die Alternativen auflisten: a) Weltrevolution und Kommunismus (2023 wohl nicht zu erwarten), b) eine weitere »Entwicklung nach nirgendwo«, also die Fantasie einer starken, unabhängigen Volkswirtschaft, die als »Brücke zwischen Ost und West« fungiert, oder c) eine Orientierung an Russland in der Position eines subalternen Satellitenstaats. Mischformen aus b) und c) wurden in der Ukraine bereits ausprobiert – mit wenig Erfolg, selbst im Vergleich zu anderen postsowjetischen Ländern, was die Standardindikatoren kapitalistischer Entwicklung angeht.
Kein Wunder also, dass sich viele Ukrainer*innen aus der Arbeiter*innenklasse ein »Modell Polen« wünschen, damit sie nicht zu Wanderarbeiter*innen werden, die ihre Familie nur alle paar Monate sehen können. Ob ein »ukrainisches Polen« wirklich möglich ist, selbst im Fall eines EU-Beitritts, steht auf einem anderen Blatt. Es ist nicht 2004, das Jahr des EU-Beitritts vieler mittel- und osteuropäischer Länder, und die EU steht vor einem Haufen eigener Probleme. Aber wer sich darüber aufregt, dass die rund 1.000 noch arbeitenden ukrainischen Staatsbetriebe privatisiert werden, sollte uns (und den Ukrainer*innen) einen Weg zu a) aufzeigen können – und zwar einen, bei dem von den arbeitenden Menschen in der Ukraine nicht erwartet wird, dass sie die ganze Arbeit machen, einschließlich der Konfrontation beider kriegführenden Staaten gleichzeitig zwecks Beendigung des Krieges. Alternativ sollte man immerhin sagen können, wie b) dieses Mal – unter den Bedingungen des Weltmarktes – funktionieren und eine tatsächliche kapitalistische Entwicklung sichergestellt werden soll. Woher soll das Kapital kommen, das benötigt wird, um nicht nur die verfallene industrielle Basis der ukrainischen Wirtschaft vor 2022, sondern vor allem die durch den Krieg verursachten Zerstörungen zu reparieren?
Nochmal, nichts davon bedeutet, dass wir Cheerleader für den EU-Beitritt werden oder anfangen müssten, Investitionsforen für westliche Unternehmen zu organisieren, die an der Ukraine als nächstem Renditeobjekt interessiert sind. Aber wenn unsere Analysen für die Menschen in der Region, wenn schon nicht überzeugend, dann doch zumindest nachvollziehbar und realitätsbezogen sein sollen, müssen diese Bedingungen, Möglichkeiten und Hoffnungen berücksichtigt werden. Es ist arrogant und paternalistisch, aus einer Position des EU-Lebensstandards und der EU-Freiheiten über die Gefahren einer »Kolonisierung« durch die EU zu predigen.
Eine längere englische Fassung dieses Artikels erschien Ende Dezember unter dem Titel »Response to John Garvey’s ›Against the Russian Invasion of Ukraine, for the Successful Resistance of the Ukrainian People‹« im Magazin Insurgent Notes. Übersetzung: Jan Ole Arps
Anmerkungen:
1) Lenin selbst hat in seinem Artikel »Über die Junius-Broschüre« von 1916 die Idee zurückgewiesen, dass »nationale Kriege« in der Periode des Imperialismus unmöglich seien.
2) Militärischer Ausdruck für Mordanschläge von Soldat*innen auf eigene Offiziere.