Zwangsverwalterregime
Der Kampf um Istanbuls Boğaziçi-Uni ist eine weitere Barrikade gegen Faschisierung
Von Max Zirngast
Im Westen ist der Blick auf die Türkei geprägt von Recep Tayyip Erdoğan. Eine Einmannherrschaft, der Sultan, der das Land islamisieren und ins Osmanische Reich zurückführen will. Opposition unmöglich, wer den Mund aufmacht, wird verhaftet oder muss sich ins Exil flüchten.
Aus mindestens zwei Gründen ist das eine falsche Sichtweise. Erdoğan ist kein Alleinherrscher, der alles kontrolliert. Er regierte immer im Verbund mit anderen Staats- und Kapitalfraktionen. Das von ihm an der Spitze forcierte politisch-gesellschaftliche Projekt steht in der Tradition des despotischen Staates, war und ist immer noch im Interesse des Kapitals, auch wenn sich vor allem das westlich orientierte Finanzkapital seit einigen Jahren nach Alternativen umschaut.
Zweitens sind trotz aller Repression die Möglichkeiten zu Widerstand und alternativer Politik noch immer nicht gebrochen. Viele populare Bewegungen in der Türkei kämpfen aufopfernd für eine bessere Gesellschaft. So zu tun, als ginge »gar nichts mehr«, ist ein Affront gegen sie, die tagtäglich das Gegenteil beweisen. Während der Prozess der Faschisierung vom Regime brachial forciert wird, bauen etwa die kurdische Bewegung, die Frauenbewegung, Jugendliche, Protestierende gegen ökologischen Raubbau und kämpfende Arbeiter*innen täglich Barrikaden gegen diese Faschisierungstendenz.
Auch die jüngsten Proteste an der Boğaziçi-Universität in Istanbul sind ein Beispiel dafür. Als am 1. Januar Melih Bulu von Erdoğan zum Rektor der Universität ernannt wurde, formierte sich schnell Widerstand. Dass bei Rektoratsbestellungen zwar gewählt wird, dann aber der Präsident bestimmt, ist paradigmatisch für den Übergangscharakter des Regimes. Vermutlich nahm Erdoğan an, dass es zwar kleinere Proteste geben, diese sich aber verlaufen würden. Doch weder gaben die Studierenden auf noch die Lehrenden, und so geriet vieles ins Wanken. Als nach fast einem Monat der Protest weiter andauerte, versuchte das Regime, die Karte Islam und Hass auf LGBTI+ Personen auszuspielen und löste damit eine Welle an Protest weit über die Uni hinaus aus. In mehreren Städten gehen vor allem junge Menschen in Solidarität mit der Boğaziçi auf die Straße, es gab hunderte von Festnahmen.
Vermutlich nahm Erdoğan an, dass es zwar kleinere Proteste geben, diese sich aber verlaufen würden. Doch weder gaben die Studierenden auf noch die Lehrenden, und so geriet vieles ins Wanken.
Der Protest richtet sich gegen den neuen Rektor, ist aber auch gegen die despotische Politik der Bestellung von Zwangsverwaltern durch den Präsidenten gerichtet, wie sie auch bei fast allen von der linken kurdischen HDP gewonnenen Städte- und Gemeindeverwaltungen praktiziert wurde.
Allerdings wäre es falsch, von einer Wiederholung der Gezi-Bewegung von 2013 zu sprechen oder die aktuellen Proteste an Gezi zu messen. Die Bedingungen haben sich verändert, das Regime ist despotischer, die Repression heftiger. Die damals ausgelöste Hegemoniekrise dauert indes an, die Krise des türkischen Akkumulationsmodells ebenso. Die vielen Widersprüche der türkischen Gesellschaft sind ungelöst. Und das wird sich auch in näherer Zukunft nicht ändern – der Rahmen der herrschenden Politik kann dies strukturell gar nicht schaffen, ohne die popularen Dynamiken zu zerschlagen oder ins System integrierend zu passivieren.
Die bürgerliche Opposition – angeführt von der kemalistischen CHP, der MHP-Abspaltung IYI Parti und neu gegründeten Parteien rund um die Ex-AKP-Politiker Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan – ist genauso von den Protesten getroffen worden wie das Regime. Seit Jahren stellt der Oppositionsblock die Rechnung auf, bei den nächsten Wahlen an die Macht zu kommen, so als sei dies ein Naturgesetz und als fände der Staats- und Gesellschaftsumbau nicht statt. Proteste aller Art stören dabei nur. Es blieb dieser »Opposition«, darunter auch der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem Imamoğlu, nichts übrig, als die Studierenden zu unterstützen – aber im Nachhinein und widerwillig. Letztendlich stehen Politiker*innen wie er für nichts anderes als das Regime Erdoğans, nur eben mit liberalem Anstrich und etwas freundlicher gegenüber dem internationalen Kapital eingestellt. Der Weg zu einer wirklichen Demokratisierung der Türkei geht über die in sich freilich nicht homogenen, aber in wesentlichen perspektivischen Zielen vereinten popularen Bewegungen.