Territoriale Neuordnung in Mexiko
Im Süden des Landes wehren sich indigene Gemeinschaften gegen den Bau des »Tren Maya«, der Mensch und Natur bedroht
Von Leon Maack
In der Bundesrepublik sorgte die Deutsche Bahn zuletzt für Aufsehen, indem sie einen angekündigten Streik für Lohnerhöhungen gerichtlich verbieten ließ. Während das Unternehmen im laufenden Tarifkonflikt weiterhin auf Verweigerungstaktik setzt, erregt die DB Engineering & Consulting, eine der unzähligen Tochtergesellschaften der Deutschen Bahn, kaum Aufmerksamkeit. Das Geschäftsmodell des Unternehmens besteht darin, wie es auf der Firmenwebsite heißt, weltweit gefragtes Know-how anzubieten.
Für beratende Funktionen beim Infrastrukturprojekt »Tren Maya« im Süden Mexikos erhält die DB Engineering & Consulting vom mexikanischen Staat 8,6 Millionen Euro. Da der Bau der Zugstrecke nachweislich mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und großflächiger Umweltzerstörung einhergeht, ist es kaum verwunderlich, dass auf der Website des Unternehmens kein Verweis auf die Beteiligung am Streckenbau zu finden ist und sich die DB auch ansonsten weigert, genaue Angaben zu ihren Geschäften in Mexiko zu machen. Zuvor hatte die Entwicklungshilfeorganisation Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit unterschiedlichen Projekten zur »Nachhaltigkeit« in der Region bereits Vorarbeit geleistet.
Gemäß der zapatistischen Losung, zu »kämpfen, wo mensch steht«, haben deswegen im Rahmen des internationalen Aktionstages zum Start der Karawane »El Sur Resiste« (der Süden wehrt sich) in Mexiko am 25. April zahlreiche Aktivist*innen in mehreren deutschen Städten Kundgebungen abgehalten und das sofortige Ende der Beteiligung der staatseigenen Deutschen Bahn und anderer europäischer Unternehmen am Tren Maya und damit verbundenen Infrastrukturprojekten gefordert.
Schneisen durch den Regenwald
Die aktuell noch im Bau befindliche Bahnstrecke soll bis Ende des Jahres fertiggestellt werden und fünf Bundesstaaten im bislang relativ infrastrukturschwachen Südosten Mexikos verbinden. Für den über 1.500 Kilometer langen Schienenweg werden Schneisen durch einen der größten zusammenhängenden Regenwälder des Kontinents geschlagen. Der Tren Maya dient vorgeblich der Verbindung archäologischer Maya-Stätten und soll die Region touristisch weiter erschließen. Maya-Restaurants und Maya-Hotels gibt es hier schon länger; und nun soll es auch einen Maya-Zug geben.
Der Name selbst ist blanker Hohn: Viele indigene Gemeinden wehren sich gegen den Bau, wurden enteignet und vertrieben und berichten, nicht in die Planung des Projekts miteinbezogen worden zu sein. Die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sieht eine Konsultation von indigenen Gemeinschaften bei derartigen Bauvorhaben vor. Dass die Vorgaben der ILO, wie die mexikanische Regierung beteuert, tatsächlich eingehalten wurden, bestreiten lokale Beobachter*innen ebenso wie UN-Institutionen. Es gibt zahlreiche Berichte über Stimmfälschungen und Morddrohungen. Diese sind durchaus ernst zu nehmen; immer wieder werden Menschenrechts- und Umweltverteidiger*innen ermordet.
Der Tren Maya geht mit dem Ausbau der Autobahninfrastruktur einher, ist direkt mit dem sogenannten interozeanischen Korridor, der zum »zweiten Panamakanal« avancieren soll, verbunden und damit Teil eines groß angelegten Infrastrukturprojekts. Nicht umsonst wird in diesem Zusammenhang von einer »territorialen Neuordnung« Mexikos gesprochen. 70-80 Prozent aller Züge des Tren Maya sind für den Warentransport vorgesehen; Sinn und Zweck des Projekts ist also in erster Linie die Erschließung von Rohstoffvorkommen und eine stärkere Integration in den Weltmarkt.
Das Ganze ist ein Prestigeprojekt des sozialdemokratischen Präsidenten López Obrador. Der seit 2018 regierende Obrador hat sich als »linker« Hoffnungsträger soziale Gerechtigkeit und Fortschritt auf die Fahne geschrieben und ist bestrebt, den Zug vor Ende seiner Amtszeit 2024 fertigzustellen. In linkspopulistischer Manier propagiert er einen Rohstoffextraktivismus, der nun nicht allein den transnationalen Großkonzernen, sondern der Lokalbevölkerung zugutekommen soll. Ein Wirtschaftsmodell, das auf dem Abbau und dem Export von endlichen Rohstoffen basiert, ist strukturell nicht nachhaltig.
Ein Wirtschaftsmodell, das auf dem Abbau und dem Export von endlichen Rohstoffen basiert, ist strukturell nicht nachhaltig.
Obradors Verständnis von Fortschritt bleibt einem überkommenen Wachstumsparadigma verhaftet und entspricht dem Entwicklungsmodell westlicher Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds. Wo aber die Anbindung an den Weltmarkt über große Häfen ausgebaut und Massentourismus und Urbanisierung vorangetrieben werden, treten in Mexiko Drogenkartelle auf den Plan. Die von Obrador angepriesene Form der »Entwicklung« geht erfahrungsgemäß, wie die Eskalation der Gewalt in der Tourismushochburg Cancún zeigt, mit einem Anstieg von Femiziden und Drogen-, Menschen- und Waffenhandel einher. Nichtsdestotrotz ist Obrador der Meinung, der Bau des Tren Maya müsse »im nationalen Interesse und für die nationale Sicherheit« vorangetrieben werden und schreckt dabei auch vor autoritären Maßnahmen nicht zurück: Prüfverfahren für staatliche Infrastrukturvorhaben wie den Tren Maya wurden 2021 mittels Präsidialdekret de facto abgeschafft. Proteste gegen derartige Projekte können seitdem leichter kriminalisiert werden.
Rohstoffe als Wirtschaftsmodell
Die örtliche Biosphäre wird durch das neokoloniale Vorhaben ebenso bedroht wie indigene Lebensweisen und Formen kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft. Ein Erbe der mexikanischen Revolution ist die weite Verbreitung von Ejidos, eine Form des gemeinschaftlichen Landbesitzes. Mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen und den damit einhergehenden neoliberalen Reformen wurde den Bäuer*innen in den 1990er Jahren die verfassungsrechtliche Grundlage für ihren kommunalen Besitz genommen. Einstige Ejido-Landstücke befinden sich heute in Privatbesitz und können dementsprechend veräußert werden.
Was vom mexikanischen Staat als »Entwicklungsstrategie« verkauft wird, kann vor diesem Hintergrund als sogenannte »ursprüngliche Akkumulation« verstanden werden. Marx hat mit diesem Begriff den historischen Prozess charakterisiert, der der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse zugrunde lag. Die Akkumulation von Arbeitskraft ist hierbei eine unerlässliche Voraussetzung; zu diesem Zweck wurden die Ejidos in Privatbesitz überführt. Wo vorher gemeinschaftlich und bedürfnisorientiert, also auch ökologisch nachhaltig, gewirtschaftet werden konnte, fehlt den Menschen nun der Zugang zu ihren Subsistenzmitteln. Daraus ergibt sich der Zwang, Lohnarbeitsverhältnisse einzugehen.
Obrador verspricht indes die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Südosten des Landes. Ob diese nun im Bauwesen oder später in der Tourismusbranche, auf Sojaplantagen und in Masttieranlagen entstehen: Ausbeuterisch und prekär werden die Arbeitsverhältnisse in jedem Fall. Im Süden Mexikos wird die Eisenbahn, nicht zum ersten Mal in der Geschichte kapitalistischer Landnahmen, zum Symbol für rücksichtslose Industrialisierung und die territoriale Erschließung jener Teile der Erdoberfläche, die vom Expansionsdrang des Kapitals bislang weitgehend verschont geblieben sind.
Auch die USA profitieren wirtschaftlich von den Infrastrukturprojekten im mexikanischen Süden, da die Industrialisierung der Region und die verkürzten Warentransportwege vielen in den Vereinigten Staaten ansässigen Unternehmen gute Geschäfte versprechen. Der Tren Maya ist für den Nachbarn im Norden jedoch auch von geostrategischer Bedeutung: Ebenso wie die EU ihre Grenzüberwachung externalisiert und mittlerweile bis nach Zentralafrika ausgeweitet hat, sollen mit dem Bau des Tren Maya auch weit jenseits der US-amerikanischen Grenze Migrationsbewegungen aus Süd- und Mittelamerika und der Karibik unterbunden werden.
Die notorisch in Korruption und Menschenrechtsverletzungen verwickelten (und nicht selten von deutschen Rüstungskonzernen ausgestatteten) mexikanischen Streitkräfte verwalten das Tren-Maya-Projekt und sollen die Bahnstrecke nach Abschluss des Baus betreiben. Mit den Aktivitäten der Armee gehen zunehmende Militarisierung und Überwachung in der Region einher. Zu den Leidtragenden zählen neben Flora und Fauna und den lokalen Gemeinschaften also auch Menschen auf der Flucht, die über Mexikos Landesgrenze zu Belize und Guatemala auf dem Weg in den Norden des Kontinents sind und zukünftig noch schlechtere Aussichten haben, ihr Ziel zu erreichen.