Texte zur Antisemitenfrage
In einem neuen Sammelband diskutieren 23 Autor*innen Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft
Von Jens Renner
Bislang sind alle Versuche einer allgemein akzeptierten Definition von Antisemitismus gescheitert. Statt neue Formulierungen zu suchen, behandeln die 23 Autor*innen des vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung herausgegeben Sammelbandes »Was ist Antisemitismus?« unterschiedliche »Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft«. So lautet der Untertitel ihres Handbuchs. Auf die Einleitung folgen drei Kapitel über Grundbegriffe, Problemfelder und Positionen. Am Schluss steht ein längerer Text, in dem Peter Ullrich »Probleme der Begriffsbildung und Definition von Antisemitismus« erörtert.
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird zur Projektionsfläche von Antisemitismus.
Alle anderen Texte sind deutlich kürzer. Auf wenigen Seiten erklärt Klaus Holz den sekundären Antisemitismus, die Judenfeindschaft nach dem Holocaust. Deren zentrales Motiv ist die Abwehr von Schuld, geboren aus dem »narzisstischen Wunsch, einem guten Kollektiv anzugehören« – trotz Auschwitz. Vor allem deutsche Antisemit*innen (die keine mehr sein wollen) banalisieren das präzedenzlose Menschheitsverbrechen und beschuldigen »die Juden«, ihre Leidensgeschichte zum eigenen Vorteil zu instrumentalisieren. Diese klassische Täter-Opfer-Umkehr kennzeichnet oft auch den Verweis auf das israelische Besatzungsregime oder die angeblichen Machenschaften geheimer Mächte zu Lasten souveräner Völker. Dafür reichen häufig Andeutungen. So wird aus der »Judenpresse« der Nazis die »Lügenpresse« der AfD oder aus dem »Weltjudentum« der »Zionismus«.
Postkoloniale »Verkennung«
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird dabei zur Projektionsfläche von Antisemitismus. Zugleich aber handelt es sich um einen »Realkonflikt«, wie Peter Lintl und Peter Ullrich hervorheben: »Antisemitismus oder Israelfeindschaft kann, aber muss nicht zwingend antisemitisch sein.« Bei der Beurteilung konkreter Fälle allerdings gehen die Meinungen bekanntlich weit auseinander, nicht nur in der politischen Debatte, sondern auch in der Wissenschaft.
Das gilt ebenso für den »postkolonialen Antisemitismus«, einen Begriff, den Jan Weyand durchgehend in Anführungszeichen setzt. In der »polemisch geführten Debatte« um die Documenta 2022, den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, die BDS-Bewegung und kontroverse Antisemitismusdefinitionen gehe es im Kern um drei Fragen: die Singularität der Shoah, das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus und die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen. Statt von »postkolonialem Antisemitismus« sei eher von einer »typischen postkolonialen Verkennung von Antisemitismus« zu sprechen, schlägt Weyand vor.
Aus dieser Verkennung werden dann, besonders in Deutschland, regelmäßig Skandale. Das zeigt Judith Butlers »Kritik instrumentalisierter Antisemitismusvorwürfe«, die Hans-Joachim Hahn vorstellt. Allerdings hat der*die US-amerikanische Philosoph*in heftige Reaktionen auch selbst provoziert, etwa als they Hisbollah und Hamas als »Teil der globalen Linken« adelte. Hahn, der diese grobe Fehleinschätzung zitiert, hebt zugleich positiv hervor, dass Butler die Identifizierung von Jüdinnen und Juden mit dem Staat Israel und dessen Politik zurückweist.
Die Auseinandersetzung mit Butler ist Teil des vierten Kapitels (»Positionen«), in denen die Arbeiten von 14 Theoretiker*innen vorgestellt werden, darunter Klassiker*innen wie Arendt, Horkheimer/Adorno und Sartre. Hannah Arendt erkannte als eine der ersten, dass die antisemitische Ideologie »verquickt (sei) mit Problemen, die so gut wie keinen Bezug mehr zu den Realitäten der modernen jüdischen Geschichte haben«. Auf Horkheimer/Adorno gehen Einsichten über den postnazistischen Antisemitismus zurück. Adorno prägte zudem die Formel vom Antisemitismus als »Gerücht über die Juden«, und von Sartre stammt der viel zitierte Satz: »Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden.« Durchgehend würdigen die Autor*innen vor allem den Erkenntnisgewinn, der den vorgestellten Denker*innen zu verdanken ist.
Einen »Lackmustest« kann es nicht geben
Am Ende des Kapitels »Positionen« skizziert Stefanie Schüler-Springorum Überlegungen des Historikers Jonathan Judaken. Dieser schlägt vor, den Begriff Antisemitismus durch »Judeophobie« zu ersetzen. »Judenhass als Wahnvorstellung oszilliert demnach zwischen Furcht und Faszination und sei daher im Begriff der Phobie am umfassendsten aufgehoben«, umschreibt Schüler-Springorum diesen Vorschlag. Anregend findet sie Judakens Appell, in die Antisemitismusforschung auch Anstöße des Postkolonialismus und der Critical Race Theory aufzunehmen.
Es folgt auf mehr als 70 Seiten Peter Ullrichs »zusammenführender Blick« auf die in dem Buch versammelten Beiträge. Eine Art »Lackmustest« für Antisemitismus könne es nicht geben, in der politischen wie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dürfe man aber weder in »Beliebigkeit« noch in »feindliche Konfrontation« verfallen. Zugleich hält Ullrich fest, was heute als wissenschaftlicher Konsens gelten kann. Der vielleicht wichtigste: dass Antisemitismus wenig bis gar nichts mit dem Verhalten von Jüdinnen und Juden zu tun hat. Die angebliche »Judenfrage« ist eine »Antisemit*innenfrage«.
Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Herausgegeben von Peter Ullrich, Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel und Jan Weyand. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 315 Seiten, 24 EUR.