Zwei Ausprägungen des gleichen Weltbildes
Nach dem Terror in Wien gibt es kein Ausweichen mehr: Rassismus und Islamismus können nur zusammen bekämpft werden
Von Hannah Eberle, Niki Kubaczek und Lori Şahan
Am Abend, bevor in Wien die Ausgangssperre einsetzt, strömen Menschen noch einmal in die Bars im »Berdmuda Dreieck« am Schwedenplatz in der Innenstadt Wiens. Es ist das jüdische Viertel der Stadt, ein Ort, den junge Leute und Feierabendbiertrinker*innen aufsuchen. Am 2. November erschießt hier ein 20-jähriger Islamist in wenigen Minuten vier Menschen und verletzt 22 weitere. Vertreter der Jüdischen Kultusgemeinde in Wien weisen noch in der Nacht darauf hin, dass es keine Jüdinnen und Juden in der Synagoge oder dem dort angedockten Gemeindecafé getroffen hat; beide hatten bereits geschlossen. Das Attentat reiht sich ein, so unser vorläufiges Fazit, in die Attentate in Paris und Nizza sowie den antisemitischen Angriff auf einen Rabbiner in Graz (August 2020), den antisemitischen Angriff in Halle 2019 und auch die faschistisch-rassistischen Attentate in Hanau im Februar. Es reiht sich auch ein in die andauernden Anschläge außerhalb Europas, zuletzt an der Universität in Kabul, wo 35 Menschen vom sogenannten Islamischen Staat am selben Tag, an dem auch das Wiener Attentat stattfand, umgebracht wurden.
Am Donnerstag nach dem Anschlag rufen die österreichische Hochschüler*innenschaft, die jüdische Hochschüler*innenschaft und die muslimische Jugend Österreichs auf, gemeinsam der Opfer zu gedenken und den Zusammenhalt gegen den Terror zu zelebrieren. Am gleichen Abend mobilisieren auch die neofaschistischen Identitären, seit kurzem »die Österreicher« genannt, zu einem Fackelmarsch vom Stephans- zum Schwedenplatz. Migrantifa und Antifa verhindern mittels Blockaden, dass diese widerliche Instrumentalisierung am Schwedenplatz stattfinden kann.
Offizielle Antworten
Während die Polizei von Montag- auf Dienstagnacht noch nach weiteren Tätern sucht, ist für die Regierung am Dienstagmittag klar, dass es sich um einen einzelnen Schützen handele. Bundeskanzler Sebastian Kurz verweist darauf, dass der Anschlag allen Wiener*innen galt, dass einer Spaltung zwischen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen gemeinsam widersprochen werden müsse. Doch die sicherheitspolitische und rassistische Wendung wird schnell sichtbar. Am 11. November kündigt Kurz an, einen Straftatbestand »Politischer Islam« schaffen zu wollen, um »gegen diejenigen vorgehen zu können, die selbst keine Terroristen sind, aber den Nährboden für solche schaffen«. Noch bevor die juristische, kriminalistische Aufarbeitung abgeschlossen ist, wird ein Maßnahmenkatalog vorgelegt, der die Agenda der neu zu bildenden Untersuchungskommission diktieren wird. Zu den Maßnahmen gehören eine Präventionshaft, wenn auch die Grünen diese (noch) ablehnen. Dazu gehört auch, dass nach dem Absitzen einer Strafe die Straftäter mit elektronischer Fußfessel überwacht oder in Maßnahmenverwahrung eingesperrt bleiben können; wer eine terroristische Straftat begangen hat, soll die Staatsbürgerschaft aberkannt bekommen können.
Auf europäischer Ebene verdeutlicht Kurz gemeinsam mit dem französischen Staatschef Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Merkel, dass die Binnengrenzen nur geöffnet bleiben können, wenn die Abschottung an den Außengrenzen verschärft wird. All dies verweist auf die Überzeugung, die Probleme kämen ausschließlich von »außen«. Weitere Maßnahmen wie der »systematische Daten- und Informationsaustausch« hätten indes längst umgesetzt werden können. So erhielten österreichische Behörden im Juli von der slowakischen Polizei die Information, dass der Attentäter von Wien dort Munition kaufen wollte. Es dauerte dennoch bis zum 10. September bis die Information mit dem wegen Terrorismus vorbestraften Attentäter verknüpft wurde. Offen ist auch, ob die eigentlich geplanten Durchsuchungen bei als Islamist*innen eingestuften Personen »durchgesickert« waren und das den Täter dazu brachte, noch »vorher«, genau einen Tag nämlich vor der geplanten Aktion, einen Anschlag zu verüben.
Fallstricke der Solidarität
Am 9. November gedenken antifaschistische Kräfte des November-Pogroms von 1938 sowie des Anschlags. Die Initiative Riseup4Rojava mahnt: »Externalisierung und Kulturalisierung faschistischen Terrors, antimuslimischer Rassismus und Hetze gegen Migrant*innen sind keine Antwort auf diese Taten.« Bereits als türkische Faschisten im Juni eine kurdisch-feministische-Veranstaltung und danach das autonome Zentrum Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) attackiert hatten, wurde der Übergriff von vielen Medien sowie den offiziellen Stellen als Konflikt unter Migrant*innen dargestellt, statt als Angriff von Faschisten auf Antifaschist*innen. Und wenig überraschend versuchen Rassist*innen auch bereits wenige Tage nach dem 2. November, den Anschlag für ihre Zwecke zu verwenden: So spielt der Rechtsradikale und Pegida-Sprecher Immanuel Nagel am 8. November von einem Lautsprecherwagen Geräusche von Gewehrsalven ab, gefolgt von muslimischen Gebeten. Mehrere Polizeibusse begleiten ihn dabei. Es dauert eine Stunde, bis die Polizei die rassistische Hetze unterbricht. Von Rassismus Betroffene rechnen mit einer Zunahme an rassistischen Polizeikontrollen sowie damit, noch mehr als üblich angeglotzt, beschimpft oder auf andere Weise Zielscheibe rassistischer Gewalt zu werden.
Die linke Position bleibt unterkomplex, wenn sie durch die Solidarität mit Marginalisierten die Marginalisierung selbst mit einer emanzipatorischen Haltung verwechselt.
Ein Teil der antirassistischen Linken in Österreich aber auch in Deutschland hat es bis jetzt versäumt, sich gegen Islamismus in gleichem Maße zu stellen, wie sie es gegen den eurozentrischen Rassismus und Faschismus versucht. Die Frage, wie der Kampf gegen Islamismus antirassistisch geführt werden kann, steht jedoch dringend an. Nicht nur, weil die Ignoranz dieser Frage rechtsradikale Parteien und Bewegungen weiteren Zustrom bringt, sondern auch, weil nicht mehrheitsangehörige Genoss*innen selbst Betroffene von islamistischer Gewalt sind. Das Schwierige an dieser Arbeit ist etwa die Frage, wo der Kampf gegen den Islamismus – als Kritik und Aufdeckung von Strukturen und als Kritik an Ideologie – endet und wo der rassistische Generalverdacht gegenüber Muslim*innen beginnt. Wann gilt es, zuzuhören und nachzuvollziehen, etwa in Form von Bildungsprojekten, Sozialarbeit oder einfach in Form von persönlichen Gesprächen, wann ist kompromisslose Kritik, klare politische Positionierung und Bekämpfung angesagt? Für die Wiener Linke gibt es vor den Hintergründen der Angriffe auf das EKH und erst recht jetzt kein Ausweichen mehr. Es geht um »zwei Ausprägungen eines gleichen menschenfeindlichen Weltbildes« (Riseup4Rojava). Anders gesagt geht es um einen Kampf gegen Islamismus, ohne mit Rassismus und der nationalen Schließung zu liebäugeln, sowie um einen Kampf gegen den eurozentrischen Rassismus ohne Islamismus zu relativieren.
Ein importiertes Problem?
Die linke Position bleibt selbst unterkomplex, wenn sie durch die Solidarität mit Marginalisierten die Marginalisierung selbst mit einer emanzipatorischen Haltung verwechselt. Marginalisierung kann zu emanzipatorischen Kämpfen und Haltungen führen, muss es aber überhaupt nicht. Die Bedingung emanzipatorischer Solidarität liegt also in der Solidarität mit all jenen, die von Ausbeutung und Ausschluss betroffen sind. Damit muss die Solidarität jedoch auch immer gegen die Verwechslung von Erfahrung und politischer Haltung ankämpfen, wenn sie eine emanzipatorische bleiben möchte.
Rechte Politiker*innen argumentierten seit Jahren, dass Terror, Sexismus, Antisemitismus, Islamismus, kurz: dass alles Hässliche auf Migration als »die Mutter aller Probleme« zurückzuführen sei.
Einige gutmeinende Antirassist*innen argumentierten, dass Islamismus als eine Konsequenz auf den europäischen Rassismus, dass der Anschlag auf die Verhältnisse in Wien zurückzuführen sei. Das stimmt sicher teilweise, weil rassistischer Ausschluss und rassistische Gewalt auch zu dem Wunsch nach Rache führen können. Islamismus in erster Linie als Reaktion auf Rassismus zu lesen, unterschlägt jedoch, dass Islamismus eine faschistische Ideologie ist, die vor allem außerhalb Europas mordet und unterdrückt. Insofern könnte der Islamismus als ein importiertes Problem verstanden werden, wenn es innerhalb Europas zu Anschlägen kommt.
Dennoch ist die These des »importiertes Problems« an drei entscheidenden Punkten falsch. Erstens: Exportierte Produktionsabläufe und Klimazerstörung spitzen soziale Probleme an jenen Orten zu, an denen Islamismus dann am besten gedeihen kann. Westliche Staaten haben Regionen gezielt destabilisiert, um Kriege anzuzetteln. Die österreichischen Waffenproduzenten Glock und Steyr liefern Waffen in die ganze Welt und stiften damit immer neue Konflikte beziehungsweise profitieren von ihnen. Darüber hinaus haben Österreich und Deutschland zahlreiche Abkommen mit und gute Beziehungen zu den Staaten, die islamistische Ideologien propagieren und Islamismus finanzieren. Riseup4Rojava dazu treffend: »Österreichische Politiker:innen und Konzerne unterstützen weiterhin islamistische Regime wie die Türkei, Saudi-Arabien und den Iran.« Reaktionäre islamische Strukturzentren, wie der Verband DİTİB in Deutschland, sind gezielt mit Unterstützung der hiesigen Regierungen etabliert worden, sie sind keine »importierten« Institutionen, sondern hausgemachte. Insbesondere von türkischen und kurdischen Linken immer wieder vorgebrachte Kritik daran wurde von den politisch Verantwortlichen jahrzehntelang ignoriert.
Zweitens: Von Import zu sprechen suggeriert, dass der heile Normalzustand dann gegeben sei, wenn alle in »ihrem« Land blieben. Das ist nicht nur ethnozentristisch und nationalistisch. Es ist auch wirklichkeitsfremd, wenn Biographien, Produktionsverhältnisse und Informationsflüsse schon längst transnational sind. Zudem sei darauf hingewiesen, dass weder Österreich noch Deutschland Verantwortung übernehmen für staatsangehörige, ausgereiste IS-Kämpfer*innen, von denen viele noch immer in Rojava in Haft oder Camps sitzen. Zusammen bedeutet es drittens, dass in einer transnationalen Gegenwart mit (post)migrantischen Gesellschaften nur lokaler und transnationaler Zusammenhalt gegen Faschismus und Islamismus erfolgversprechend ist: Migrantifa-Bündnisse gegen Graue Wölfe und identitäre »Österreicher«, im Kampf gegen Waffenproduzent*innen oder in der gemeinsamen Forderung nach Verantwortungsübernahme für deutsche und österreichische IS-Kämpfer*innen in den Camps in Syrien; im Kampf für einen Antifaschismus, in dem die Wünsche und die Überzeugungen zählen, nicht die Sprache oder die Papiere.
Was für ein Zusammenhalt?
Wenn Macron in seiner Rede anlässlich der Ermordung des Lehrers Samuel Paty behauptet, dass man zusammenhalten müsse als »Landsleute«, als »Nation«, die die »gleichen Werte«, »eine Geschichte« teilen, dann ist ihm ein Zusammenhalt entgegenzuhalten von denen, die unterschiedliche Biographien und viele Geschichten haben. Zu diesen Geschichten gehört auch, dass Angst, Wut oder Unsicherheit in dieser vermeintlich liberalen und friedlichen Gesellschaft – gegen die sich, so die Mainstream-Erzählung, der Anschlag richtete – heute für viele ständige Begleiter sind. So muss ein jüdischer Redner am Wiener Schwedenplatz darauf hinweisen: »Wenn wir beten, wenn wir Feste feiern, müssen wir immer beschützt werden.«
Zu diesen Geschichten gehört auch ein Zusammenhalt, in dem dieses bedrohte jüdische Leben gleichzeitig mit der Geschichte des Palästinensers Osama Abu El Hosna zusammen gehört: El Hosna ist einer der ersten, der den Terroristen am 2. November sieht. Er arbeitet am Schwedenplatz. Als zwei Polizisten den Attentäter zu erschießen versuchen, wird einer dabei lebensbedrohlich getroffen. El Hosna bleibt vor Ort und schleppt den schwer verletzten Polizisten hinter eine Betonbank, wo er erste Hilfe leistet. Die Familie von Osama Abu El Hosna wollte voriges Jahr ein Haus im niederösterreichischen Weikendorf kaufen. Der Bürgermeister versuchte, das zu verhindern mit der Begründung, dass muslimische und westliche Werte nicht miteinander vereinbar seien. Das Gericht gab letztendlich der Familie von El Hosna recht. Hätte sich El Hosna gedacht, in so einem verschissenen rassistischen Land bleib ich nicht, wäre der Wiener Polizist heute wahrscheinlich nicht mehr am Leben.