Erfolg und Niederlage zugleich
Thesen zum Tarifabschluss im öffentlichen Dienst
Von Lernen im Kampf
Die Gewerkschaften haben bei den Tarifverhandlungen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen am 22. April einen Kompromiss erzielt. Demnach sollen die Löhne um einen Sockelbetrag von 200 Euro plus 5,5 Prozent (mindestens 340 Euro) steigen – allerdings erst ab März 2024. Bis dahin gibt es steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen von insgesamt 3.000 Euro. Laut ver.di steigen die unteren Einkommen um bis zu 16,9 Prozent. Durchschnittlich erhalten die Beschäftigten 11,5 Prozent mehr Geld. Dies allerdings bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Ursprünglich hatten die Gewerkschaften 10,5 Prozent, monatlich mindestens 500 Euro mehr bei einer einjährigen Laufzeit gefordert. Bis zum 12. Mai wurden die Mitglieder zum Ergebnis befragt (nach Redaktionsschluss).
Das Tarifergebnis ist ein Erfolg
In den vergangenen Wochen haben sich allein bei ver.di über eine halbe Million Beschäftigte an Warnstreiks beteiligt. Die Bewegung war damit deutlich stärker als von vielen erwartet. Etliche Kolleg*innen und Betriebe waren zum ersten Mal dabei. Der dadurch entfachte Druck hat gewirkt. Ohne ihn wären die kommunalen Arbeitgeber sicher nicht bereit gewesen, diese Lohnerhöhungen zuzugestehen. Das Ergebnis ist deutlich besser als das der IG Metall, die vergangenen Herbst insgesamt 8,5 Prozent in 24 Monaten plus 3.000 Euro Einmalzahlung herausgeholt hat. Die von den Arbeitgebern geforderten Sonderopfer von Beschäftigten der Sparkassen und Gesundheitseinrichtungen wurden verhindert.
Das Tarifergebnis ist eine Niederlage
Dennoch: Gemessen an den Forderungen und daran, was die Beschäftigten dringend brauchen, ist das Ergebnis eine Niederlage. Die Inflation wird nicht vollständig ausgeglichen, wenn der Reallohnverlust von 5,5 Prozent in 2022 mitgezählt wird. Das bedeutet: Die Kaufkraft sinkt, die Kolleg*innen können ihren Lebensstandard nicht halten. Das in einer Zeit, in der viele Konzerne Rekordgewinne verbuchen und Manager*innen sich die Taschen vollmachen – auch im öffentlichen Dienst. Das im ver.di-Flugblatt mit nur einem Satz erwähnte Auslaufen der Altersteilzeit ist für viele Kolleg*innen, die nach einem harten Arbeitsleben früher aussteigen wollen, ein herber Schlag.
Die Inflationsausgleichsprämie ist kein Ausgleich
Was ver.di während der Warnstreiks rauf und runter gebetet hat, gilt immer noch: Eine Einmalzahlung gleicht die Inflation nicht dauerhaft aus. Es ist ärgerlich, dass sie dennoch so genannt wird. Die insgesamt 3.000 Euro können nur ein Mal ausgegeben werden. Künftige Lohnerhöhungen starten auf dem alten Niveau. Viele freuen sich darüber, dass die Prämie brutto gleich netto ausgezahlt wird. Im Juni 1.240 Euro auf die Hand – das haben die Kolleg*innen bitter nötig. Die Kehrseite ist allerdings, dass das Geld nicht für die Rente zählt und den Sozialkassen Einkünfte verloren gehen. Die Arbeitgeber sparen ebenfalls Steuern und Sozialbeiträge.
Organisieren am Konflikt
Ver.di hat in den vergangenen Monaten rund 70.000 Mitglieder gewonnen. Die Forderung nach einem Mindestbetrag von 500 Euro monatlich war goldrichtig. Die enorme Dynamik der Tarifbewegung ist auch Ergebnis dieser mutigen Forderung. Dass die unteren und mittleren Entgeltgruppen – diejenigen, die von der Inflation am stärksten betroffen sind – am meisten profitieren, hat viele motiviert. Übrigens nicht nur die Kolleg*innen der unteren Gruppen, sondern auch viele höher Eingruppierte, die bewusst ihre Solidarität zeigen wollten. Nicht zufällig war der Mindestbetrag in den Tarifverhandlungen der Knackpunkt. Denn die Arbeitgeber wollten lieber die Höherqualifizierten besserstellen. Dabei fehlt es in allen Bereichen an Arbeitskräften, der öffentliche Dienst muss für alle Beschäftigtengruppen attraktiver werden. Die von den Schlichtern vorgeschlagene und nun vereinbarte Lösung eines Sockelbetrags plus prozentualer Erhöhung bedeutet nur eine schwache soziale Komponente. Die Einkommensschere geht noch weiter auseinander.
Es sind nicht nur Viele neu eingetreten: Etliche Kolleg*innen sind auch als Team- und Streikdelegierte aktiv geworden. Das zeigt: Eine Gewerkschaft, die kämpft, ist attraktiv. Die Erneuerung der Gewerkschaften findet in den Betrieben und auf der Straße statt.
Streikrecht verteidigen, indem man es nutzt
Dass die Bosse wie der BDA-Chef Rainer Dulger über »die Massivität des Vorgehens« zetern, zeigt vor allem eins: dass ver.di viel richtig gemacht hat. Denn in diesen Krisenzeiten ist Streik nicht mehr nur das Schwert an der Wand, auf das man ab und zu dezent hinweist. Streiks sind essenziell, damit sich die Beschäftigten im härter werdenden Verteilungskampf behaupten können. Durch die gemeinsamen Aktionen mit Fridays for Future und den zusammen mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG organisierten Verkehrsstreik Ende März hat ver.di die Grenzen ein klein wenig verschoben. Weiter so! Zugleich gilt es, jeder Einschränkung des Streikrechts mit allen Mitteln entgegenzutreten.
Die Schlichtungsvereinbarung gehört gekündigt
Das im öffentlichen Dienst bestehende Schlichtungsabkommen hat den Arbeitgebern die Möglichkeit verschafft, einen Mobilisierungsstopp zu erzwingen. Das unterbricht die Dynamik des Protests – für die Gewerkschaften ein Nachteil, den es zu beseitigen gilt.
Das Tarifergebnis ist eine verpasste Chance
Sicher: Es ist ein Risiko, in den Erzwingungsstreik zu gehen. Nicht alle, die sich an Warnstreiks beteiligen, sind zu einem längerfristigen Arbeitskampf bereit. Dennoch ist es eine verpasste Chance, die Protestdynamik und die öffentliche Unterstützung ungenutzt zu lassen. Wahrscheinlich hätte das Ergebnis mit einem intelligent durchgeführten Erzwingungsstreik nochmal verbessert werden können. Vor allem aber könnte eine solche Mobilisierung die Gewerkschaften durch die Gewinnung und Aktivierung von Mitgliedern dauerhaft stärken und so die Ausgangsbasis für künftige Konflikte verbessern.
Dieser Text erschien zuerst auf lernenimkampf.net.