Mehr als eine liberale Musterdemokratie
In Taiwan finden im Januar Präsidentschaftswahlen statt – das Land ist in den letzten Jahren zu einem Hotspot für radikale soziale und ökologische Kämpfe in Asien geworden
Von Elias König und Johann Maytern
Nach Jahrzehnten der politischen Marginalisierung sind die Präsidentschaftswahlen in Taiwan zu einem Politspektakel mit weltweitem Publikum geworden. Auch in den deutschsprachigen bürgerlichen Medien sind die Wahlen im Januar seit längerem Thema. Der Grund dafür: Die Insel steht im Zentrum des potenziell folgenreichsten geopolitischen Konflikts des 21. Jahrhunderts – des Ringens Chinas und der USA um die Hegemonie im Weltsystem.
In der dominanten liberalen Lesart gilt Taiwan in erster Linie als »demokratisch, liberal und rechtsstaatlich« und damit als ideologisches Gegenstück zur autoritären Volksrepublik China auf der anderen Seite der Taiwanstraße. Die zur Wahl stehenden Parteien werden dabei ungeachtet ihrer sonstigen politischen Orientierung in erster Linie als »chinafreundlich« und »chinakritisch« eingeteilt. Linke Perspektiven und Analysen zu Taiwan finden sich hingegen äußerst selten. (1)
Dabei spielt Taiwan als systemrelevanter Scharnierstaat eine zentrale Rolle im globalen Kapitalismus. Taiwanisches Kapital nimmt seit den 1980er Jahren eine Schlüsselrolle bei der Finanzierung des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas ein. Bis heute arbeiten in China (und zunehmend in Südostasien) Millionen Arbeiter*innen für taiwanische Firmen und stellen unter prekären Bedingungen Produkte für den Export in die wohlhabenden Länder des Globalen Nordens her. Ein System, das in erster Linie zulasten der Umwelt und der Rechte von Arbeiter*innen auf beiden Seiten der Taiwanstraße geht – auch wenn in den letzten Jahrzehnten einige wichtige Verbesserungen erkämpft werden konnten.
Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den USA und China gerät dieses Arrangement zunehmend unter Druck. Für China ist die Einverleibung Taiwans und seiner Hightech-Industrie eine erklärte Priorität. Doch auch für den Westen ist Taiwan ein unverzichtbarer Technologielieferant. Von besonderer Relevanz ist dabei die taiwanische Halbleiterindustrie, ohne deren Zuarbeit auch die deutsche Autoindustrie nicht auskommt.
Seit Beginn des Herbstes gehen die Gewerkschaften vermehrt auf die Straße, darunter Feuerwehrleute, Krankenhausbeschäftigte und Arbeitsmigrant *innen.
Im Schatten dieser Entwicklungen ist Taiwan in den letzten Jahren aber auch zu einem einzigartigen Hotspot für radikale soziale und ökologische Kämpfe in Asien geworden. Seit den stark politisierten 1990er Jahren, die das Ende von 40 Jahren Militärdiktatur besiegelten, konnten Gewerkschaften und Aktivist*innen gemeinsam wichtige Errungenschaften durchsetzen und verteidigen. Inzwischen haben auch Aktivist*innen aus anderen asiatischen Ländern, darunter China, Hongkong, Singapur, Myanmar und Thailand, in Taiwan ein relativ sicheres Zuhause gefunden. Jüngst brachte etwa eine Aktionskonferenz zu Arbeiter*innenbewegungen in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, Aktive aus ganz Ostasien zusammen – eine Veranstaltung, die in vielen anderen Ländern der Region undenkbar gewesen wäre.
Neoliberaler Konsens
Dieser Widerspruch zeigt sich auch in der aktuellen Wahlkampfphase. Zwar vertreten alle Kandidat*innen die Interessen verschiedener Fraktionen innerhalb der herrschenden Klasse in Taiwan, andererseits nutzen aber auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen den Moment, um verstärkt in den Konflikt mit der Regierung zu gehen.
Schon die Zahl der Kandidaturen zeigt, dass sich die Präsidentschaftswahl im Januar 2024 von der letzten Wahl vor vier Jahren unterscheidet. Die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen tritt aufgrund einer Amtszeitbeschränkung nicht mehr an, für ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) kandidiert William Lai Ching-te. Doch gleich mehrere Kandidaten der Opposition treten gegen ihn an. Auch wenn Letzterer zu Redaktionsschluss knapp in den Umfragen führt, ist die Unterstützung für seine Kandidatur nicht so groß wie die von Tsai Ing-wen in vorangegangenen Wahlen.
Das liegt nicht nur daran, dass er versucht, mit einem Minimum an Wahlkampf den Posten seiner Vorgängerin zu übernehmen, sondern auch an der tiefen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der neoliberalen Politik der DPP. Meinungsumfragen aus dem Oktober zufolge sind 59 Prozent der Wähler*innen gegen eine weitere Regierungsbeteiligung der DPP in Taiwan. Anders als bei der Wahl 2020 wird die DPP überdies nicht nur von der ehemaligen Staatspartei Kuomintang (KMT) herausgefordert. Auch der ehemalige Bürgermeister von Taipeh, Ko Wen-je, tritt mit seiner Taiwanese Peoples Party (TPP) an. Die Kandidaten unterscheiden sich zwar in ihrer China-Politik voneinander, vertreten aber alle eine neoliberale Politik.
Trotz der erfolgreichen Covid-Politik und der vergleichbar geringen Inflation in Taiwan sind viele Menschen unzufrieden mit den steigenden Mietpreisen in den Großstädten des Landes sowie den langen Arbeitszeiten und den geringen Reallöhnen, die in den letzten Jahren nur sehr langsam angestiegen sind. Die DPP, eine offizielle Schwesterpartei der FDP, vertritt in Taiwan Kapitalinteressen, die stark mit den Vereinigten Staaten verbunden sind.
Die Profite, die in dem 24-Millionen-Einwohner*innen-Land erarbeitet werden, gehen an das nationale Kapital. Aber auch Kapitalbesitzer*innen aus Japan und den USA profitieren davon, dass Menschen in Taiwan bis zu zwölf Stunden pro Tag für geringe Bezahlung arbeiten.
Die neoliberalen Reformen sorgten bereits in Tsai Ing-wens erster Amtszeit für Unzufriedenheit. Dennoch wurde sie 2020 wiedergewählt, weil viele Taiwaner*innen fürchteten, dass ein Sieg der KMT zu einem ähnlichen Verlust von Bürgerrechten führen könnte, wie er in Hongkong zur selben Zeit stattfand. Die ehemalige Staatspartei KMT vertritt Kapitalinteressen innerhalb Taiwans, die eine stärkere wirtschaftliche Beziehung zu China fordern. Auch Hou You-yi, der für die KMT im Januar antritt, schürt diese Ängste und verkörpert die autoritäre Geschichte der KMT. Während der KMT-Diktatur 1949-87 spielte er innerhalb der taiwanischen Polizei eine wichtige Rolle bei der Kriminalisierung von Demokratie-Aktivist*innen. Das Versprechen der KMT bei den Präsidentschaftswahlen lautet: Stärkere wirtschaftliche Beziehungen zu China würden die materielle Situation aller Taiwaner*innen verbessern. In Wirtschaftsfragen liest sich das Programm der Partei jedoch ähnlich neoliberal wie das der DPP.
Der 2024 erstmals kandidierende Ko Wen-je wird von vielen Taiwaner*innen als unkonventioneller Kandidat gesehen. Er schreckt nicht davor zurück, Probleme wie hohe Immobilienpreise und niedrige Löhne anzusprechen. Darum ist er besonders bei jungen Menschen beliebt, die sich nicht vorstellen können, für eine*n KMT-Kandidat*in zu stimmen. Aufgrund seiner Teilnahme an sozialen Bewegungen hatte Ko unter Linken die Hoffnung geweckt, eine Veränderung in der taiwanischen Politik bewirken zu können. Doch dieser Optimismus wurde getrübt, weil er sich während seiner Wahlkampfauftritte misogyn und LGBTQ-feindlich äußerte. Darüber hinaus ist fragwürdig, ob Ko seine Wahlversprechen tatsächlich umsetzen würde, weil er bekannt dafür ist, seine politischen Positionen häufig zu ändern und seine Antworten sich nicht wesentlich vom neoliberalen Konsens der anderen Parteien unterscheiden.
Druck von der Straße
Während die Präsidentschaftskandidaten wenig Hoffnung auf einen radikalen Politikwechsel machen, ist der Wahlkampf für soziale Bewegungen eine Bühne für ihre politischen Forderungen. In den letzten Monaten gab es deutlich mehr Demonstrationen und politische Debatten als sonst. Bereits im Juni brach unter dem Hashtag #MeToo eine größere Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt auch im Politikbetrieb aus. Auslöser der Debatte war die Netflix-Serie »Wave Makers«, in der sich eine Wahlkampfhelferin erfolgreich gegen die Belästigungen eines Kollegen zur Wehr setzt. Nachdem zahlreiche Fälle auch im realen Politikbetrieb bekannt geworden waren, entschuldigte sich die DPP-Führung öffentlich für ihr Versagen und bekannte sich zu einer »Nulltoleranzpolitik« in Sachen sexualisierter Gewalt – nicht genug für zahlreiche Demonstrant*innen, die weiterhin unter der Losung #MeToo auf die Straße gehen.
Weitere Proteste folgten: Im August nahmen zudem bis zu 50.000 Teilnehmer*innen aus allen Landesteilen an einer Massendemonstration zum Thema Fußgänger*innensicherheit teil. Sie warfen der Regierung vor, nicht genügend für die Verkehrssicherheit in Taiwan zu tun, wo bei Verkehrsunfällen jährlich Tausende Menschen ums Leben kommen. Seit Beginn des Herbstes gehen auch die Gewerkschaften vermehrt auf die Straße, darunter Feuerwehrleute, Krankenhausbeschäftigte und Arbeitsmigrant*innen. Sie fordern das Streikrecht für Beamte (denen es bislang verboten ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren), bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und die Abschaffung des ausbeuterischen Vermittlungsagentursystems für Arbeitsmigrant*innen in Taiwan.
Nachdem die DPP-Regierung es lange geschafft hatte, große Teile des linken Spektrums zu befrieden und zu kooptieren, geht dieses nun zunehmend in den offenen Konflikt mit der Regierung. Gerade unter jungen Menschen wird die DPP für die sozialen Probleme und eine Politik im Interesse der Konzerne verantwortlich gemacht. Die Beziehungen zu China sind für die Menschen in Taiwan ein zentrales Thema. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Debatte auch dazu benutzt wird, von den Problemen in der taiwanischen Gesellschaft abzulenken. Aus linker Perspektive muss es daher einen stärkeren Fokus auf die materiellen Bedingungen der Arbeiter*innen in Taiwan geben, die jedoch auch stark mit der nationalen Frage verbunden sind. Zugleich darf auch die Rolle taiwanischer Unternehmen bei der Ausbeutung von Arbeiter*innen in anderen südostasiatischen Staaten nicht vernachlässigt werden.
Anmerkung:
1) Ausnahmen sind zum Beispiel Hauke Neddermann in ak 658 und Ralf Ruckus in WOZ Nr. 37.