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Klos putzen statt Reparationen

Der Journalist Niren Tolsi über die fehlende Aufarbeitung des Massakers an Minenarbeitern in Südafrika vor zehn Jahren

Interview: Jakob Krameritsch

Marikana Women’s League fordert Reparationszahlungen von Lonmin und BASF ein. Foto: Sikhala Sonke, Marikana, Februar 2016, basflonmin.com.

Im August 2012 treten südafrikanische Minenarbeiter*innen in einen wilden Streik, ihre Platinmine befindet sich in der Stadt Marikana. Sie fordern mehr Lohn und bessere Lebensbedingungen, denn sie leben in Wellblechhütten ohne Strom, fließend Wasser und Kanalisation. Die Arbeiter*innen wollen direkt mit dem Minenmanagement verhandeln – ohne Vermittlung durch Gewerkschaften, denen sie nicht mehr vertrauen. Dieser Wunsch wird ihnen verwehrt, stattdessen rückt die Polizei an, die Gewalteskalation beginnt, acht Arbeiter und zwei Polizisten sterben schon bei gewalttätigen Auseinandersetzungen vor dem Massaker. Am 16. August 2012 versucht die Polizei den Streik zu beenden, was ihr nicht gelingt. Daraufhin erschießt die Staatsmacht 34 Arbeiter, die meisten davon in den Rücken, auf der Flucht. Es war das größte Massaker der Postapartheidzeit.

Kannst du uns die Beweislage zehn Jahren nach dem Massaker schildern?

Niren Tolsi: Ein Anwalt der Minenarbeiter hat im Rahmen der Untersuchungskommission nach dem Massaker den Begriff der »toxic collusion« (deutsch: giftige Absprache) von Staat und Kapital geprägt. Er meinte damit die enge Zusammenarbeit und Interessenkonvergenz von Regierung und Minenmanagement. Gemeinsam drängten sie die Polizei dazu, den Streik möglichst rasch und letztlich mit allen Mitteln zu beenden – und die Polizei berücksichtigte deren Interessen während des Streiks. Diese »toxic collusion« kam bei der Untersuchungskommission durch viel Beweismaterial ans Licht, etwa durch Tonbandaufnahmen von Minenmanager*innen in Gesprächen mit hochrangigen Polizeibeamt*innen sowie Telefonaten und E-Mails zwischen Politiker*innen, Geschäftsleuten und Polizeiverantwortlichen. Das Minenmanagement von Lonmin, der Firma, der damals die Minen gehörten, war daran interessiert, dass der Streik als krimineller Akt und nicht als Arbeitskampf charakterisiert wird. Es wollte sicherstellen, dass das Unternehmen keine Lohnverhandlungen führen muss.
Involviert war auch der jetzige südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa, der damals im Aufsichtsrat von Lonmin war. Es gibt Beweise, die zeigen, dass er seine Position innerhalb der Partei ausnutzte, um Druck auf die Ministerin für Bergbau und die Polizei auszuüben, den Streik rasch und »entschieden« zu beenden. Die Forderungen der Minenarbeiter*innen selbst waren für ihn, der selbst eine Gewerkschaft mitgegründet hat, bestenfalls zweitrangig.

Foto: privat

Niren Tolsi

ist Forscher, Aktivist und Journalist in Südafrika. Seit zehn Jahren begleitet er die Hinterbliebenen des Massakers gemeinsam mit dem Fotografen Paul Botes. Ihr Buch »After Marikana« erscheint im Frühjahr 2023.

Entspricht dieser Beweislage die juristische und politische Aufarbeitung des Massakers?

Bis heute wurde keine einzige Person, die für Ermordung einer der 44 Männer mitverantwortlich war, verurteilt. Unser Gerichtssystem ist langsam, aber diese Langsamkeit hier wurde noch verstärkt: Ein Team von nur drei Staatsanwälten wurde ernannt, um sich mit allen Strafverfahren im Zusammenhang mit Marikana zu befassen. Viele der Hinterbliebenen glauben, dass sie zu Lebzeiten keine gerichtliche Verurteilung mehr erleben werden.
Die Untersuchungskommission hat außerdem einen Gutteil ihres Mandats nicht wahrgenommen: die Aufgabe, sich mit strukturellen Missständen im Bergbau zu beschäftigen. Dazu gehören die erbärmlichen Lebensbedingungen in vom Bergbau betroffenen Gebieten, die Immobilien- und Spekulationskrisen, ein brutales Arbeitsmigrationssystem, das Familien auseinanderreißt; geschlechtsspezifische Gewalt und Umweltverschmutzung.

Wie wird das Massaker heute in Südafrika verhandelt?

Die Mehrheit der Medien erinnert sich zwei Wochen vor dem Jahrestag, berichtet darüber ohne Nuancen. Sie lassen die Familien in der Trauer von vor zehn Jahren erstarren, halten ihre Kameras darauf und ziehen dann schnell weiter.

Abgesehen von Nischen echter Solidarität nutzen viele Linke Marikana lediglich als Gelegenheit, um auf sich selbst aufmerksam zu machen.

Ist das Massaker Thema in der südafrikanischen Linken?

Ich bin zornig geworden, als ich der südafrikanischen Linken während der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag zugeschaut habe. Ich weiß nicht, ob es unter den deutschen Linken auch so viele Egoist*innen gibt wie in Südafrika. Abgesehen von Nischen echter Solidarität nutzen viele Linke Marikana lediglich als Gelegenheit, um auf sich selbst aufmerksam zu machen. Die meisten Linken – insbesondere aus dem akademisch-aktivistischen Lager – sind Karrierist*innen und Angeber*innen. Ich kümmere mich nicht um das, was sie fordern, da es eher ein Echo ihres Egos ist als ein Versuch, Gerechtigkeit für die unmittelbar Betroffenen zu erreichen.

BASF und das Platin

BASF ist mit über 110.000 Mitarbeiter*innen in 90 Ländern und einem Jahresumsatz von rund 80 Milliarden Euro eines der größten Chemieunternehmen weltweit. Der Konzern (ein Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland) mit Hauptsitz in Ludwigshafen zählt zu den weltweit größten Herstellern von Autokatalysatoren. Für deren Produktion werden Platinmetalle benötigt, die BASF vorwiegend aus Südafrika und Russland bezieht. 2012, im Jahr des Massakers, erwarb BASF Platin im Wert von 650 Millionen Euro von der Mine in Marikana und war damit Hauptkunde von Lonmin, dem damaligen Betreiber.
Seit 2014 konfrontiert ein südafrikanisch-deutsches Organisationsnetzwerk BASF mit den Arbeits- und Lebensbedingungen am Beginn seiner Platinlieferkette und den Geschehnissen rund um das Massaker (basflonmin.com). Der Konzern hat bis heute niemanden entschädigt.

Wie ist die Situation für die Arbeiter*innen in Marikana heute: Hat sich etwas verändert oder gar verbessert?

Ich habe mich die letzten zehn Jahre mit den Nachwirkungen von Marikana beschäftigt, ich bin oft dorthin zurückgekehrt und mache es weiterhin. Spricht man dort mit den Minenarbeiter*innen und der lokalen Bevölkerung, sind sie sich einig: Die sozioökonomischen Bedingungen sind viel schlechter als noch vor zehn Jahren. Die neue Bergbaugesellschaft, die den Betrieb von Lonmin gekauft hat, Sibanye Stillwater, scheint sich auch nicht um die Arbeiter*innen zu kümmern. Auf dem Hüttengelände rund um Marikana gibt es weiterhin weder Strom noch Wasser. Das Wanderarbeiter*innensystem gibt weiterhin den Ton an. Es zerstört Familien und Individuen. Sicherheit bleibt unter Tage ein Thema. Minenarbeiter*innen werden immer noch schlecht bezahlt. Einige der während des Streiks 2012 kommandierenden Polizist*innen sind jetzt bei Bergbauunternehmen angestellt, um deren Sicherheitsabteilung zu leiten. Drogenmissbrauch und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben große Probleme in den Minen.

Du hast die Hinterbliebenen der erschossenen Minenarbeiter seit 2012 begleitet: Wie ist deren Situation? Was sind deren zentralen Wünsche und Kämpfe?

Es gab keine Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung für die Familien der Toten. In vielen Fällen mussten die Witwen der ermordeten Minenarbeiter Jobs in der Mine annehmen, um überleben zu können. Sie putzen nun die Toiletten derer, die für den Tod ihrer Ehemänner mitverantwortlich sind. Wie mir eine Witwe erzählte, sind ihre Kinder jetzt »Waisen«, weil ihre wirtschaftliche Situation es erfordert, dass sie in den Minen arbeitet und die Kinder zu Hause bleiben müssen. Sie wollen ein monatliches Stipendium erhalten und in ihre Heimat auf dem Land zurückkehren, um sich um ihre Familien zu kümmern. Die Familien wollen wissen, wer für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich ist. Sie wollen, dass diese Leute verfolgt und verurteilt werden, dazu gehört eine Entschuldigung von der Regierung und von Präsident Cyril Ramaphosa.

Wie sollte im Globalen Norden Unterstützungs- und Solidaritätsarbeit aussehen?

Unterstützung und Solidarität müssen sich für mich auf zwei Aspekte konzentrieren: Für die Familien in einer Weise, die das generationenübergreifende Trauma anspricht, das die vom Massaker am stärksten Betroffenen erleiden. Mögliche Unterstützung sollte ihre Erfahrungen der letzten zehn Jahre anerkennen und versuchen, sowohl die materiellen als auch die psychologischen Umstände zu adressieren. Die Art und Weise wie multinationale (Rohstoff-)Konzerne in Entwicklungsländern wie Südafrika operieren, muss sich ändern, insbesondere wenn die Unternehmen in Ländern des Globalen Nordens sitzen. Das sollte Priorität in der Solidaritätsarbeit haben. Darüber hinaus sollte die südafrikanische Regierung gedrängt werden, mehr Kontrolle über die Bergbauindustrie auszuüben, so dass die gesetzlich vorgeschriebenen Sozial- und Arbeitspläne der Konzerne tatsächlich eingehalten werden.

Jakob Krameritsch

ist Historiker an der Akademie der bildenden Künste Wien und Mitbegründer der Kampagne gegen BASF.

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