Get ’em Young, Break ’em Young
Die heftigen Studierendenproteste in der Kurdistan Region Irak sind mehr als ein Nischenphänomen
Von Manî Cûdî
Vom 23. November bis hin zum 5. Dezember flammten über Tage hinweg Studierendenproteste in der Kurdistan Region Irak (KRI) auf. Thema der Proteste waren zunächst die »Stipendien« der Studierenden, die seit 2013 nicht ausgezahlt werden und umgerechnet 35 bis 100 Euro betragen. Demos fanden diesmal nicht nur im traditionell linken und protestfreudigen Slemani statt, sondern auch in der Hauptstadt Erbil.
Das ist eine Überraschung, denn Erbil gilt als konservativ, strengstens überwacht und wenig politisch. Die seit den 1990er Jahren dort regierende Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die sie regierende Barzani-Familie ersticken Protest und Kritik oftmals im Keim, ähnlich wie die im Osten der Autonomieregion dominierende Patriotische Union Kurdistans (PUK). Eine ortsübergreifende Mobilisierung ist in den letzten 30 Jahren vor allem deswegen schwer gewesen, weil die beiden konkurrierenden Parteien auch die Bevölkerungen voneinander entfremdet haben. Die aktuellen Studierendenproteste stellen somit eine regelrechte zivile Revolution dar und entwickelten sich schnell von themenbezogenem zu systemischem Protest.
Unis als Spiegel der Gesellschaft
Sie machen den herrschenden Klassen Angst, denn während Studi-Aktivismus hier in Europa mittlerweile als elitär belächelt wird, sind die Student*innen der KRI aus zwei Gründen ein Spiegel der Gesellschaft: Erstens ist die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung und damit auch der KRI unter 30 Jahre alt, viele von ihnen studieren. Zweitens sammeln sich in den öffentlichen Universitäten Studierende aus allen gesellschaftlichen Schichten. Die irakische Verfassung legt in Artikel 35 fest, dass Bildung kostenlos ist. Das ist die Theorie. Die Praxis ist: Die Klassenunterschiede in der Bevölkerung übersetzen sich übergangslos in den Vorlesungssaal. Private Universitäten mit parteipolitischem Hintergrund sprießen vielerorts aus dem Boden. Sie bieten Top-Bildung und modernste Ausstattung – natürlich nur, wenn man es sich leisten kann. Die öffentlichen Unis dagegen sind und bleiben marode, korrumpiert und schlecht ausgestattet. Schlechte Bildung, schlechte Zukunftsaussichten und enormer politischer Druck lasten also auf diesen Studierenden.
Die örtlichen Parteimedien haben für sie nur Hohn übrig. So haben PUK-nahe Medien festgenommene Protestierende der Ortschaft Piramagrun in orangenen Guantanamo-artigen Anzügen abfotografiert und zur Schau gestellt, während KDP-nahe Medien schlicht lügen. Premierminister Masrour Barzani ging so weit zu behaupten, dass es von den Studierenden dreist wäre, das Taschengeld – also das Stipendium – zu verlangen. Nirgendwo in der Welt gäbe es »Geldgeschenke« für Studierende. Zynisch, findet eine Studierende. »Ich studiere hier mit Leuten, für die bedeutet dieses Taschengeld viel, wir reden nicht mal von Büchergeld, sondern wortwörtlich von Geld, mit dem sie Lebensmittel kaufen.«
Die große Mehrheit der Menschen in der Kurdistan Region Irak ist unter 30 Jahre alt, viele von ihnen studieren.
Im Schatten der Medienkampagnen zeigen Handyvideos deutlich, wie das Elend weitergeht: Die Flutkatastrophe, die weite Teile der Region im Dezember unter Wasser legte, hat auch die maroden Studierendenheime überflutet; die Universitätsleitung nahm dies zum Anlass, den restlichen universitären Betrieb abzusagen und die Heime zu räumen. Studierende nach Hause senden, Abstand schaffen, das ist das Credo, sie sollen bloß keine Räume teilen oder miteinander reden.
Der Campus ist nicht zuletzt ein Abbild des Systems, weil die parteipolitische Einflussnahme im Bildungssystem schon im Grundschulalter beginnt. Eine Studentin sagt mir: »Seit ich eine Schule betreten habe, kann ich mich kaum an ein Rektorat erinnern, in dem nicht ein Bild von diesen beiden hing« – die beiden, das sind Mesud Barzani und Jalal Talabani, die großen Führungsfiguren von KDP und PUK. Parteiorganisationen bestimmen, welche Lehrer*innen wo eingesetzt werden, wer wo Professor*in wird. Studierende werden zudem gezielt durch die Privilegien der parteigeführten Studierendenorganisationen angelockt, der sogenannten Qutabian. Vertreter*innen dieser Studierendenorganisationen spitzelten während der Demos und gaben Namen an Sicherheitskräfte weiter. Ein Student sagt mir, dass sie sogar ihre Noten verbessern lassen können. Sie haben früh Kontakt zu wichtigen Politikern, und wenn ihnen eine Note nicht gefällt, können sie die Namen der Dozent*innen weitergeben und sie unter Druck setzen lassen.
Die öffentlichen Unis seien ein Ort, an dem man gebrochen werde, sodass junge Menschen gar nicht erst zu kritischen Erwachsenen heranreifen, sagt mir ein anderer Student. »Die Lehrer protestieren selbst für ihre Gehälter, aber bedrohen uns, wenn wir demonstrieren. Sie sagen dann so Sachen wie ›Ihr wisst nicht, was ihr tut, bei uns ist das was anderes. Wir sind älter, wir wissen es besser‹. Der Unterschied zwischen ihren Protesten und unseren ist aber: Die protestieren nur kurzfristig für ihre Gehälter, wir protestieren für einen Systemwechsel.« Gekaufte Lehrer*innen, gekaufte Studierende, Spitzelei: dazwischen die Normalsterblichen.
Viele wurden bei den Protesten verhaftet, so wie ein Studierender, mit dem ich sprach: »Ich wurde in einen Gefängnistrakt gebracht, von dem ich nicht mal wusste, wo er ist, weil mir die Augen verbunden wurden. Erst mit Millionen Dinar Kaution (eine Million entsprechen etwa 600 Euro; Anmerkung der Autor*in) konnte ich die U-Haft verlassen, mir droht jetzt Bewährung für Unruhestiftung. Nicht mal meine Eltern haben mich unterstützt.« Viele sagen mir, dass ihre Eltern ihnen ihre Solidarität verwehrten, sie davon abhielten zu protestieren. »Meine Mutter sagte, ich soll nicht protestieren, aber ich werde es nochmal machen«, sagt eine Studierende, die heimlich zu den Demos gegangen ist.
»Für Frauen ist es besonders gefährlich zu demonstrieren«, fügt sie hinzu, denn die Sicherheitskräfte drohen ihnen bei Beschlagnahme ihrer Handys, ihre Chats und Fotos zu veröffentlichen. Ein Albtraum in einem Land, in dem es eine eigene Meldehotline für Blackmail gegen Frauen gibt, weil das so verbreitet ist. Gender und Sexualität spielen bei der Unterdrückung der Studierenden eine große Rolle: Studentinnen dürfen beispielsweise nur bis 16 oder 17 Uhr draußen bleiben, bis ihre Ausgangssperre beginnt, während die Jungs bis 23 Uhr draußen bleiben dürfen. Die Männer erwischt es an anderer Stelle, denn wie ein Studierender mir sagt, wird das Trinkwasser im Studentenheim mit Kafur (deutsch: Campher) angereichert, einem Baumextrakt, der von Zentralasien bis Anatolien seit Jahrhunderten Soldaten in den Tee gemischt wird, um vermeintlich ihren Sexualtrieb zu drosseln. Die Nebenwirkungen des Stoffes sind verheerend: dauerhafte Schäden am Nervensystem und infolgedessen schwere psychische Langzeitschäden. Entweder man widersetzt sich und lebt in Angst oder ergibt sich dem Delirium, in das das politische System einen stecken will, sagen mir die Studierenden.
Kaum Produktion
Diese Missstände sind nichts Exklusives: Kurdische Studierende im iranisch-, türkisch- und syrisch-besetzten Kurdistan müssen und mussten sich ebenfalls dem Autoritarismus widersetzen. Wieso aber ist die gesellschaftliche Organisierung in der KRI so schwer?
Dies liegt nicht etwa an einer mangelnden »Protestkultur«, hat dafür aber viel mit der politischen Ökonomie Südkurdistans zu tun. Produktionsmittel in diesem Sinne gibt es kaum, es gibt das Erdöl, doch dessen Förderung ist in der Hand von ausländischen Ölfirmen, die Jahrzehnte währende Verträge haben. Anders als in der Türkei, wo die Industrialisierung Streikbewegungen ermöglicht hat, und Syrien oder Iran, wo die Agrarproduktion ein zentraler Faktor ist, gibt es in der KRI kaum Produktion, die in andere Eigentumsformen übergeführt werden könnte. Nehmen wir an, die Proteste wären erfolgreich und könnten die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ändern, dann bleibt die Frage, was die materielle Grundlage dieser Macht sein könnte.
Das ist die Klaue des Systems und das System ist international, wie ein Studierender feststellt: »Viele hier sagen in ihrer Verzweiflung, die westlichen Länder sollen uns helfen, aber die wissen genau, was hier los ist, denn sie sind das kapitalistische Zentrum, was all das hier aufgebaut hat. Was wir brauchen, ist dezentrale Hilfe und Organisierung.« Es ist nicht so, als würden sie nicht Widerstand leisten wollen. Wird es erneute Proteste geben? Alle sagen: definitiv. »Die nächsten Proteste werden umso größer.«