Brüchige Atempause
Die Queen ist tot, die seit Sommer durch das UK rollende Streikwelle ist deshalb ins Stottern geraten – lange wird der Burgfrieden nicht halten
Von Christian Bunke
Der Tod von Elizabeth Windsor am 8. September in der schottischen Burg von Balmoral zeigte einmal mehr, welchen Einfluss bestimmte plötzliche Ereignisse auf den Lauf der Dinge haben können. Nur einen Tag vorher war das politische Klima von einer öffentlich und selbst in bürgerlichen Kommerzmedien geführten Debatte über Möglichkeiten und Unwägbarkeiten eines Generalstreiks in Großbritannien beherrscht worden. Dann segnete die Queen im respektablen Alter von 96 Jahren das Zeitliche, und plötzlich wird alles gecancelt.
Der für die 37. Kalenderwoche ab dem 12. September geplante Kongress des britischen Gewerkschaftsbundes ist aus Trauergründen auf unbestimmte Zeit verschoben. Hier hätten Anträge über ein gemeinsames Vorgehen der verschiedenen Streikbewegungen abgestimmt werden sollen. Eisenbahnstreiks wurden von der Transportarbeitergewerkschaft RMT abgesagt, neue Termine gibt es zum Redaktionsschluss noch nicht. Auch die Exekutive der Kommunikationsgewerkschaft CWU setzte geplante Streiks bei der Post und der British Telecom kurzerhand aus. Immerhin – hier gibt es bereits neue Termine für Ende September, nach dem Ende der staatlich verordneten Trauerorgie.
Außerdem kündigte die Industriegewerkschaft UNITE am 13. September eine neue Streikwelle auf Großbritanniens größtem Containerhafen Felixstowe an. Vom 27. September bis zum 5. Oktober sind die Docker*innen aufgerufen, ihre Arbeit niederzulegen. 82 Prozent von ihnen haben im Rahmen einer schriftlichen Urabstimmung das Angebot einer Gehaltserhöhung von sieben Prozent durch die Betreibergesellschaft des Hafens abgelehnt.
Bei einer Teuerungsrate, die laut etlichen Vorhersagen im kommenden Jahr 20 Prozent erreichen könnte, gilt das »Angebot« den Arbeiter*innen als Androhung einer Gehaltskürzung. Der durch den britischen Staat erzwungene Burgfrieden aufgrund der fast zweiwöchigen nationalen Trauerphase erscheint also bereits vor der Beerdigung der verstorbenen Queen brüchig zu werden. Während der königliche Sarg von Schottland nach London durch die Lande tourte, gab es am Rande der Route immer wieder kleinere antimonarchistische Proteste, die von der Polizei allerdings in der Regel sofort unterbunden wurden.
Kontroverse Streikabbrüche
Innerhalb der Gewerkschaftsbewegung und der breiteren britischen Linken hat die Absage der Streiks durch die CWU und die RMT zu teils kontroversen Diskussionen geführt. Den einen erscheint dieses Vorgehen als taktisch kluge Entscheidung, um die Streikbewegungen nicht zu spalten. Tatsächlich gibt es auch unter arbeitenden Menschen zahlreiche der Monarchie gegenüber positiv eingestellte Personen. Neben dem Militär war die Queen eine der wenigen noch funktionierenden Pfeiler des britischen Nationalismus. Die Streikabsagen sind Ausdruck davon, wie tief zumindest der monarchistische Pfeiler auch in die Arbeiter*innenbewegung hineinragt.
Gleichzeitig gab es aber in Folge der von der CWU abgesagten Streiks eine Reihe von individuellen Berichten von Postler*innen in Sozialen Medien. Sie erzählten von Erfahrungen sowohl bei der Post als auch privaten Paketlieferdiensten, wonach die Arbeitgeber während der Trauerperiode Sonderschichten verlangten, um den durch die bereits stattgefundenen Streiktage im August entstandenen Lieferstau abzuarbeiten und die Wirkung der kommenden Streiktage Ende September abzuschwächen. Es ist wie immer: Patriotismus und Fahnentreue auf Seiten der Lohnabhängigen wird durch die Herrschenden schamlos ausgenutzt.
Das ist auch deshalb interessant, weil es schon in den Monaten und Wochen vor dem Tod der Queen wiederholte Versuche patriotischer Mobilisierungen durch die britische Regierung gab. Vor allem der ehemalige Premierminister Boris Johnson versuchte etwa, den Ukrainekrieg innenpolitisch für sich zu nutzen. Mit seinen demonstrativen Besuchen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, einschließlich sorgfältig arrangierter Spaziergänge an der Seite des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj versuchte Johnson sich den Mantel des Weltkriegs-Premierministers Winston Churchill umzuhängen. Es nützte nichts.
Johnson ist inzwischen Geschichte, und alle Kriegsrhetorik konnte die größte Streikwelle der vergangenen zehn Jahre nicht verhindern. Nachrichten von spontanen, nicht einmal gewerkschaftlich organisierten Amazon-Arbeiter*innen, wilden Streiks von Elektriker*innen auf Ölraffinerien, Arbeitskämpfen bei Eisenbahnen, Logistikkonzernen, kommunalen Betrieben und vielen weiteren gingen um die Welt.
Das alles ist kein Wunder. Die massiven Preissteigerungen in den verschiedensten Bereichen des täglichen Bedarfs – Strom, Gas, Wasser, aber auch Lebensmittel – drängen immer mehr Menschen an den Rand des Abgrunds und darüber hinaus. Laut einer am 8. August erschienenen Studie der University of York werden bis zum Januar 2023 drei Viertel aller britischen Haushalte in die Energiearmut abrutschen. Das sind 53 Millionen betroffene Menschen. Allein in der Grafschaft Yorkshire, deren Namensgeberin das Universitätsstädtchen York ist, werden laut dieser Studie 80,5 Prozent aller Haushalte in der Energiearmut landen.
Bis zum Januar 2023 könnten drei Viertel aller britischen Haushalte in die Energiearmut abrutschen.
Die im Nordosten Englands liegende Grafschaft Yorkshire wird vor allem durch zwei Aspekte geprägt. Zum einen war sie eine maßgebliche Bergbauregion, bis das mit Polizeistaatsmethoden durchgeprügelte De-Industrialisierungsprogramm von Margaret Thatcher dem Mitte der 1980er Jahre ein Ende bereitete. Die kleinen ehemaligen Bergarbeiterstädte Yorkshires wie zum Beispiel Grimsby haben sich bis heute davon nicht erholt. Armut, Kriminalität und Drogenkonsum prägen vielerorts auch ohne Lebenshaltungskostenkrise das Bild. Die Preissteigerungen werden die Lage in diesen Ortschaften weiter drastisch verschlimmern.
Auch die Mittelschicht
Doch Yorkshire ist auch eine ländlich geprägte Region, mit idyllischen Wohngegenden für die obere Mittelschicht. Wenn nun die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Yorkshires von Energiearmut bedroht ist, wird dies auch unter diesem wohlhabenderen Bevölkerungssegment einschlagen. Das hat schon jetzt Auswirkungen auf das Bewusstsein dieser Menschen. Laut aktuellen Meinungsumfragen befürworten über 70 Prozent der konservativen Wähler*innenschaft eine Übergewinnsteuer für Strom- und Gaskonzerne.
Für die frischgebackene britische Premierministerin Elizabeth Truss ist das Ableben der Queen Fluch und Segen zugleich. Es ist ein Segen, weil durch die Trauerperiode eine für sie dringend benötigte Atempause entsteht. Gleichzeitig gibt es aber eigentlich gar keinen Spielraum für eine derartige Atempause, da sich die Bevölkerung schnellstmögliche Ansagen dazu erwartet, wie Truss mit den Preissteigerungen umzugehen gedenkt. Für September hat sie »fiskalische Maßnahmen« angekündigt, diese aber bislang nicht nennenswert konkretisiert.
Außerdem hat Truss ein zumindest teilweises Einfrieren der Energiepreise angekündigt. Noch im parteiinternen Wahlkampf um den Premierministerposten hatte sie dies ausgeschlossen. Mit Blick auf jene 200.000 Menschen, die öffentlich den Aufruf der Don‘t-Pay-Kampagne unterstützen und erklärt haben, ab Oktober keine Strom- und Gasrechnungen mehr zu bezahlen, hat sie sich wohl doch für einen derartigen Markteingriff entschlossen.
Das zeigt, dass auch die britischen Regierenden durch die der Situation innewohnenden Dynamiken getrieben werden. Heute noch scheinbar in Stein gemeißelte Positionen können schon morgen überholt sein. Es besteht das Risiko, dass immer mehr Menschen keinen festen Boden unter ihren Füßen verspüren, und sich auf der Suche nach Stabilität auch reaktionären Positionen zuwenden. Gleichzeitig besteht für britische Arbeiter*innen und soziale Bewegungen nun die Chance erfolgreicher Interventionen und Kämpfe.