Sozialproteste: Warum so lauwarm?
Von Lene Kempe
Vielleicht kamen sie in den letzten Jahren einfach zu oft: die Ankündigungen, dass es bergab geht mit der deutschen Wirtschaft. Die globale Finanzkrise, die Deutschland Ende 2008 in die Rezession rutschen ließ, versetzte dem Wohlstandsversprechen für breite Teile der Bevölkerung einen ersten Stoß.
Die Corona-Pandemie hat dieses Gefühl der Entsicherung vor zweieinhalb Jahren wieder hochgespült und seitdem quasi auf Dauer gestellt. Gestörte Lieferketten, Materialengpässe und Lockdowns befeuerten zudem die Debatte um einen Wandel des globalen Wirtschaftssystems und warfen die Frage auf, wie und ob Deutschland darin sein »Wohlstandsniveau« halten könnte. Und schließlich schürte der Ukraine-Krieg nicht nur Ängste vor weiteren militärischen Konfrontationen, sondern trieb auch die ohnehin steigenden Energiepreise weiter in die Höhe. Die anhaltende Teuerung nahezu aller Lebenshaltungskosten bildet nun so etwas wie das vorläufige Ende dieser langen Krisenkette.
Und dennoch: Der Schockzustand scheint schon fast wieder überwunden. Die eilig geschnürten Entlastungspakete und der zur Schau gestellte Aktionismus der Ampel-Regierung zeigen Wirkung. Das Vertrauen in das Modell Deutschland ist in großen Teilen der Bevölkerung wieder repariert. Zumindest wäre das eine Erklärung dafür, warum der viel zitierte »Heiße Herbst« bislang eher lauwarm ist. Und sich viele Linke in die nächste Debattenrunde begeben: Was ist da los, wo bleiben die Massenproteste?
Dass die bislang – zumindest in Westdeutschland – ausfielen, könnte aber auch daran liegen, dass es in den letzten Jahren oft weniger schlimm kam, als es die drastischen Krisenszenarien hatten vermuten lassen. Gewarnt wurde eigentlich permanent: Vor dem ganz großen Absturz mit Millionen Arbeitslosen in der Finanzkrise; schon 2010 verzeichnete das Land dann einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung. Vor dramatischen Wohlstandsverlusten und dem Ende des deutschen Produktionsmodells während der Corona-Pandemie; dabei kamen viele Unternehmen erstaunlich gut durch die Krise, etliche Dax-Konzerne verzeichneten Milliardengewinne, ganze Branchen wie die Lieferdienste oder Onlinehändler erlebten einen Corona-Boom.
Gewarnt wurde auch in Boomphasen: Vor einem massiven Bedeutungsverlust der deutschen Automobilindustrie zum Beispiel. Und nun steht die Gefahr etlicher Insolvenzen und Arbeitsplatzverluste im Raum; wegen der gestiegenen Energiekosten, die die Unternehmen nicht mehr schultern könnten. Bislang allerdings hält sich der Anstieg der Insolvenzen in Grenzen, im Oktober war die Zahl sogar rückläufig.
Zugleich greift der Staat mittlerweile so selbstverständlich mit milliardenschweren Hilfspaketen in das Krisengeschehen ein, wie die Kapitalseite dafür die Hände aufhält.
Während der Finanzkrise wurden die Banken mit dem Rettungsschirm, die Automobilindustrie mit der Abwrackprämie und die Exportwirtschaft mit Hermesbürgschaften gerettet, während der Corona-Krise die Insolvenzpflicht ausgesetzt und die Lufthansa und Hapag-Lloyd mit Staatsgeldern saniert, erst kürzlich wurde der Energieriese Uniper verstaatlicht. Aber auch für viele Beschäftigte haben Kurzarbeit, Corona-Boni oder jetzt die Energiepreisbremse tatsächlich Erleichterung gebracht.
Für viele, aber längst nicht für alle. Die anhaltende Teuerung wird für immer mehr Menschen eine Existenzbedrohung, zumal sie bei den Energiepreisen wegen der langen Lieferverträge noch längst nicht voll durchgeschlagen hat. Die Tafeln verzeichnen einen 50-prozentigen Zuwachs bei der Nachfrage nach kostenlosen Lebensmitteln seit Jahresbeginn. Und natürlich werden Menschen ihre Jobs verlieren, denn gerade viele kleinere Betriebe kämpfen mit den hohen Energiekosten, und der Einzelhandel kündigt Stellenstreichungen wegen der Konsumflaute an.
Die Frage ist nur: Warum sollten die Massen gerade jetzt auf die Straße gehen, wenn sie es vorher noch nicht getan haben? Krise ist schon lange. Und während die einen immer wieder erlebt haben, dass ein reiches Land wie Deutschland die Mittel hat, den sozialen Kompromiss über wirtschaftliche Krisenphasen zu retten – und warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren –, hat das Leben am Existenzminimum für die anderen schon vorher wenig Raum für Politik gelassen. Die Sorge, selbst die Dinge des täglichen Bedarfs nicht mehr finanzieren zu können, macht diesen Raum nun noch kleiner. Den für eine Massenbewegung aber nicht unbedingt größer. Verzweiflung auf der einen und Vertrauen in das Modell Deutschland auf der anderen Seite sind dafür jedenfalls keine idealen Bedingungen.