»Wir sind ein Dazwischen«
Der tschechische Politikwissenschaftler Ondřej Slačálek über die politisch-ökonomische Position Zentral- und Osteuropas
Interview: Nico Graack
Seit einiger Zeit gibt es Debatten darüber, inwieweit die Länder des ehemaligen Ostblocks als postkolonial zu begreifen sind – und inwieweit das Vokabular der postkolonialen Theorien die Dynamiken der Regionen verständlicher macht und Ausgebeutete zusammenführen kann. Ondřej Slačálek erklärt im Interview, warum er das kritisch sieht, was Postkolonialismus mit Nationalismus zu tun hat und warum das Gespräch mit dem Globalen Süden dennoch gebraucht wird.
Die polnische Theoretikerin Ewa Thompson begreift den Post-Sowjet-Raum als postkolonialen Raum und sieht in der Blindheit der postkolonialen Theorie diesbezüglich eine Marginalisierung. Seid ihr tatsächlich postkolonial und gibt es eine gemeinsame Sprache mit dem Globalen Süden?
Ondřej Slačálek: Es gibt in jedem Fall Marginalisierung. Ein einfaches Beispiel: Die Kultur und Geschichte der allermeisten Länder in Zentral- und Osteuropa wird an westlichen Unis als Teil der Slawistik studiert. Dominierend ist das Studium der russischen Kultur – aber wir sind kein Teil davon. Eine ethnisch definierte Gruppe, die von Russland dominiert würde, ist eine Fantasie der Panslawist*innen. Die Situation an den Unis ist etwa so, als wenn Polen, Tschechien und Ungarn als Teil der Germanistik studiert würden – was zum Teil sogar mehr Sinn machen würde. Das ist nur ein Beispiel für diese Ignoranz, in der wir sozusagen Europäer*innen zweiter Klasse sind. Ein anderes wären die rassistischen Übergriffe auf Pol*innen in England nach dem Brexit.
Postkoloniale Narrative sind die letzte Art, wie man »politisch korrekt« Nationalismus verkaufen kann.
Du siehst euch als Europäer*innen zweiter Klasse?
Ja, natürlich! Schauen wir auf Tschechien, das in vielerlei Hinsicht abhängig ist. Es gibt ökonomische Berechnungen, wonach wir abhängiger von der deutschen Autoindustrie sind als Deutschland selber! Volkswagen hat in der »Transition« der 1990er Jahre schnell begonnen, Škoda aufzukaufen. Dort wie in anderen Bereichen stellen wir billige Arbeit zur Verfügung. Wir kämpfen mit den typischen Problemen dessen, was man Semi-Peripherie nennt: Eigentumsfragen, Profitabfluss, Abhängigkeit von politischen Entscheidungen andernorts und so weiter. Semi deshalb, weil die EU-Gelder einen Teil des Profitabflusses kompensieren und weil wir natürlich auch eine eigene Bourgeoisie haben, die ihre Profite ebenso in Steueroasen verschiebt.
Das klingt so, als könnte man vereinfacht sagen: Zentraleuropa und das Baltikum sind heute westliche Kolonien, Zentralasien, der Kaukasus und Belarus russische?
Es gibt Versuche, das so zu denken. Ich weiß aber nicht, ob das Wort »Kolonie« treffend ist.
Du schienst aber doch Thompson zuzustimmen?
Es gibt Marginalisierung und Abhängigkeit, ja – aber das macht noch keine Kolonie. Thompson kommt zu nationalistisch-konservativen Schlussfolgerungen, meines Erachtens ein logisches Resultat ihrer Rhetorik. Tatsächlich verschleiert diese Rhetorik viel. Ein wichtiger Unterschied zu Ländern des Globalen Südens besteht in dem, was die tschechische Feministin Iveta Jusová den Kampf um die »europäische Dividende« nennt. Zentraleuropa will Teil des privilegierten europäischen Klubs sein. Sie vergleicht das mit der Situation unterprivilegierter Männer im Patriarchat: Die streben umso mehr nach ihrer »maskulinen Dividende«. Das ist eines der wenigen Felder, in denen sie auf Privilegien hoffen können. Gayatri Spivak, eine der führenden Köpfe der postkolonialen Theorie, fragte 2006 die Post-Sowjet-Literaturtheoretiker*innen: »Seid ihr postkolonial?« Nun, aufgrund des Strebens nach der »europäischen Dividende« habe ich in einem Text geantwortet: »Sorry, Sie werden hier nicht finden, was Sie suchen.« Unsere Diskurse sind keine anti-westlichen. Wir wollen Teil des Klubs sein, wo es doch darum ginge, ihn abzuschaffen.
Wenn du von diesem unbedingten Willen »dazuzugehören« sprichst, wie ist dann die Opposition zur EU zu erklären, die in Zentraleuropa immer wieder eine Rolle spielt?
Das kann ich vielleicht am besten mit dem tschechischen Schriftsteller Milan Kundera erklären: Er prägte in den 1980er Jahren das Bild des »gekidnappten Westens«. Zentraleuropa, also Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei, sei eigentlich westlich, aber durch den russischen Imperialismus entführt worden. Den Westen begreift Kundera dabei als eine Wertekonstellation, was für ihn vor allem die Kultur der Aufklärung und ihrer Werte bedeutet. Aber er hat auch einen schöngeistigen Begriff von Kultur: Malereien, Literaturzeitschriften und Diskussionen in Cafés. Die Entführung verleiht uns einen Sonderstatus, so Kundera: Bei uns konnte diese Kultur überleben, da es bei uns keine Identifikation mit der hegemonialen Kraft Russland gab. Der Westen hingegen habe sich diese Kultur unter dem Einfluss dessen zersetzen lassen, was Kundera Zivilisation nennt. Es meint vor allem den Einfluss der dort hegemonialen Kraft: US-Massenkultur und -medien. Daraus resultiert, dass wir »westlicher als der Westen selbst« seien. Das ist bei Kundera, sofern er Aufklärer bleibt, zwar nicht strikt konservativ, hat aber doch diese Note. Und das sehen wir bei den aktuellen Versionen desselben Gedankens, dass der Westen ein Prinzip ist und wir deshalb westlicher als der empirische Westen sein können: Man kann den Westen auch über das Christentum definieren und sich dann im Kampf gegen Transrechte als letzte Bastion des Westens begreifen oder über das »Weißsein« und zur Verteidigung des Abendlandes die Außengrenzen verbarrikadieren.
Ondřej Slačálek
forscht und lehrt als Politikwissenschaftler an der Prager Karls-Universität. Er ist seit langem in der linken Szene Tschechiens aktiv und engagierte sich zum Beispiel im anarchistischen Teil der Anti-Globalisierungs- oder in der Anti-Austeritätsbewegung »ProAlt«. Er forscht zur politischen Landschaft Zentral- und Osteuropas, der Geschichte des Anarchismus und zum Nationalismus. Zuletzt gab er zusammen mit Agnes Gagyi das Buch »The Political Economy of Eastern Europe. 30 years into the ›Transition‹ (Palgrave Macmillan, 2022) heraus.
Du meinst mit letzterem Ungarn und Polen?
In der Flüchtlingskrise hat die tschechische Regierung sich genauso schrecklich benommen. Die Narrative, die ich genannt habe, wurden explizit natürlich nur von der radikalen Rechten vertreten, aber implizit bestimmten sie weit darüber hinaus den Diskurs. Aber es ist noch komplizierter: In diesem Rassismus und Chauvinismus drückt sich ja auch eine reale Ungleichheit aus! Das simple »Wir schaffen das!« ist unvorstellbar in Tschechien – das ist das Privileg einer reichen Gesellschaft.
Die Imperien, die üblicherweise in der postkolonialen Theorie verhandelt werden, sind England und die USA. Wie würdest du die Beziehungen zu diesen Imperien beschreiben?
Man muss verstehen, dass Zentraleuropa lange Zeit zwischen Imperien eingequetscht war, die vielleicht selbst »subaltern« genannt werden können, weil sie vom französischen Einfluss bedroht waren: Deutschland und Russland. In dieser Konstellation erschienen die nicht direkt angrenzenden Imperien als mögliche Verbündete und Ausweg. Es gab eine kulturelle Identifikation mit den Metropolen dort, die Faszination mit Paris in Prag zum Beispiel. In den nationalen Befreiungskämpfen Tschechiens spielten die USA, Frankreich und England eine wichtige Rolle.
Aufgrund der Bedrohungen durch Deutschland und Russland erschienen die Imperien westlich von Deutschland als Schutz und Ausweg?
Sie schienen nicht nur so! In pragmatischer Hinsicht waren sie das. Der Versailler Vertrag war für Pol*innen, Tschech*innen und Slowak*innen ein Moment der Befreiung. Und dieser Konsens bezüglich der Rolle der USA ist fest verankert. Er wurde durch den Irak- und Jugoslawienkrieg empfindlich gestört, aber aktuell im Ukraine-Kontext wird er wieder gefestigt. Man kann das Verhältnis zum US-Imperialismus am besten mit dem tschechischen nationalen Trauma illustrieren: das Münchener Abkommen 1938. Die westlichen Mächte haben ohne tschechische Beteiligung verhandelt und gesagt: »In diesen Teil der Welt intervenieren wir nicht, macht, was ihr wollt!« Das ist einer der dunkelsten Momente unserer Geschichte. Und dieser Moment hängt damit zusammen, dass der Westen hier nicht imperialistisch genug war.
Zurück zum Ausgangspunkt Globaler Süden: Wo siehst du also Gemeinsamkeiten und Möglichkeiten für den gemeinsamen Kampf?
Zunächst: Ich stimme meinen Kolleg*innen, der ungarischen Soziologin Agnes Gagyi und dem polnischen Philosophen Jan Sowa zu, dass wir dieses Gespräch dringend brauchen. Unser unmittelbares Interesse kann man vielleicht so ausdrücken, dass wir dringend EU-Reformen benötigen: eine ökologisch und sozial gerechte Transformation, Umverteilung etc. Dafür braucht es eine Reform der postkolonialen Beziehungen zwischen der EU und dem Rest der Welt, auch wenn das deutlich schwieriger ist. Letztlich bedeutet das natürlich die Enteignung des westlichen Reichtums und globale Umverteilung.
Aber wie kann dieses Gespräch stattfinden?
Das wird nicht leicht. Zunächst einmal, weil wir mit zwei »Süden« konkurrieren. Direkt mit dem europäischen Süden. Wir waren in der Eurokrise vielleicht sogar noch empfänglicher für anti-griechische Propaganda als Deutschland. Indirekt aber auch mit dem Globalen Süden – um Geld und Aufmerksamkeit. Hinzu kommt, dass wir in Bezug auf das Weltsystem ein »Dazwischen« darstellen. Wir sind weder Globaler Norden noch Globaler Süden. Das ist vielleicht schwer zu schlucken, dass es auch Europäer*innen gibt, die nicht so privilegiert sind. Aber dafür können wir etwas Zentrales beitragen: die Erfahrung, wie emanzipatorischen Ideale beschädigt werden und wie man sich dagegen verteidigen kann. Wir haben das im Falle des Kippens vom Marxismus in den Stalinismus erlebt.
Gilt das nicht auch für die emanzipatorischen Ideale der europäischen Aufklärung, wie es in postkolonialer Forschung oft behauptet wird?
Ja, das ist vielleicht die paradoxe postkoloniale Erfahrung, die der im französischen Kolonialreich geborene Psychiater Frantz Fanon so gut artikuliert hat: Die unterdrückerischen Systeme und Ideen sind dort zugleich auch der Quell von Emanzipation. Fanon konnte das sehen, weil er Universalist blieb. Er war sich vollkommen darüber klar, dass die emanzipatorischen Projekte ohne die Ideen der französischen Aufklärung gar nicht zu denken sind. Das scheint mir heute zuweilen verloren zu gehen.
Wie meinst du das?
Ich meine – und das ist vielleicht meine größte Schwierigkeit mit dem postkolonialen Denken –, dass es hier eine Gefahr gibt: Postkoloniale Narrative sind die letzte Art, wie man »politisch korrekt« Nationalismus verkaufen kann – als Befreiungsbewegung nämlich, manchmal gegen den russischen oder westlichen Imperialismus, manchmal gegen jeden Universalismus. Es ist kein Zufall, dass die eingangs erwähnte Thompson konservativ bis nationalistisch ist. Und auch die größte Befürworterin der »westliche Kolonie«-These in Tschechien, Ilona Švihlíková, sucht jetzt ein Wagenknecht-ähnliches Bündnis mit tschechischen Nationalist*innen. Das dürfen wir uns auf keinen Fall andrehen lassen: Nationalismus bleibt falsch, ob »postkolonial« oder nicht.