Sieg an der Haustür
Das Volksbegehren zur Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin war erfolgreich – was bedeutet das, und wie geht es jetzt weiter?
Von Jan Ole Arps und Nelli Tügel
Eine der beeindruckendsten linken Kampagnen der vergangenen Jahre hat einen wichtigen Sieg errungen. Eine deutliche Mehrheit von 56,4 Prozent nach Auszählung aller Wahlkreise – insgesamt mehr als eine Million Menschen – hat in Berlin für die Enteignung großer Wohnungskonzerne gestimmt.
Dass das Ergebnis so deutlich ausfallen würde, war zu Beginn des Sonntagabend alles andere als klar. 300 oder 400 Aktive, viele in den lila Westen der Kampagne, einige mit großen Fahnen, hatten sich auf der Wahlparty auf dem Berliner Union Film Gelände versammelt. »Knapp wird es in jedem Fall« war, bis die ersten Hochrechnungen gegen 22 Uhr eintrudelten, wahrscheinlich die konsensfähigste Aussage. Die schlechten Ergebnisse für die Linkspartei – die einzige Partei, die sich klar für die Enteignungsinitiative positioniert hatte –, die sowohl aus dem Bund als auch aus Berlin kamen, erschienen als schlechtes Omen.
Dann aber war nicht nur der Jubel, sondern auch die Erleichterung riesig. 57 Prozent für Enteignung, nach Auszählung eines guten Viertels der abgegebenen Stimmen. Schon vor Mitternacht war klar, dass die Kampagne uneinholbar vorn liegt. Selbst in vielen Außenbezirken, in denen die Initiative eher schwach organisiert ist, erreichte die Enteignungsforderung teils deutliche Mehrheiten: 55,8 Prozent in Marzahn-Hellersdorf, 51,9 Prozent in Spandau, 60,8 Prozent in Pankow. »Wir haben uns mit mächtigen Gegner:innen angelegt und gewonnen«, resümierte Joanna Kusiak, eine Sprecherin der Initiative. »Die Forderung zur Vergesellschaftung vereint weit mehr Stimmen hinter sich als jede Partei.«
Die Forderung zur Vergesellschaftung vereint weit mehr Stimmen hinter sich als jede Partei.
Joanna Kusiak, Deutsche Wohnen & Co enteignen
Das ist tatsächlich ein bemerkenswertes Ergebnis. Denn im Vorfeld der Abstimmung hatten fast alle Parteien mit allen möglichen Mitteln gegen das Volksbegehren gekämpft: CDU, FDP, AfD und SPD lehnen es ab – die Grünen hatten eine schwammige Haltung eingenommen, um sich mit allen Seiten gutzustellen. Ihre Spitzenkandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Bettina Jarasch, hatte erklärt, den Druck aus dem Volksentscheid für einen Pakt mit der Immobilienwirtschaft nutzen zu wollen. Franziska Giffey von der SPD, die die Stadt die kommende fünf Jahre regieren wird, erklärte im Wahlkampf Enteignungen zur »roten Linie« eines künftigen Senats, an dem ihre Partei beteiligt wäre. Die CDU ließ einen Flyer verteilen, der der amtlichen Benachrichtigung zum Volksentscheid ähnlich sah – und lauter Lügen enthielt. Lügen verbreitete auch die FDP fleißig, etwa durch die ständige und falsche Wiederholung der Behauptung, auch Wohnungsbestände von Genossenschaften sollten vergesellschaftet werden. Giffey verbreitete die Zahl von 30 Milliarden Entschädigungssumme – dabei steht dieser Betrag noch gar nicht fest und wird auch eine Frage der Kräfteverhältnisse sein, eine Studie zu möglichen Entschädigungsszenarien geht von deutlich niedrigeren Kosten aus. Die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen hat bereits einen Vorschlag unterbreitet, der es der Stadt ermöglichen würde, Entschädigungen zu finanzieren, ohne neue Schulden aufzunehmen.
Nicht nur Giffey agierte mit ihrer Ablehnung des Volksbegehrens gegen die Mehrheit von 61 Prozent der SPD-Anhänger*innen, die sich Umfragen zufolge für die Vergesellschaftung aussprachen – auch Kevin »BMW kollektivieren« Kühnert erklärte vor der Wahl, er werde mit Nein stimmen. Bis auf die Linkspartei stellten sich alle etablierten Parteien in Berlin also gegen den Entscheid und setzten ihre Ressourcen dafür ein, ihn zu einem Misserfolg zu machen.
Welche Lehren?
Trotzdem hat die Kampagne den Volksentscheid gewonnen – wie konnte das gelingen? Die Enteignungsinitiative hat etwas geschafft, was Linken in und außerhalb der Parlamente lange nicht mehr gelungen ist. Sie hat die weit verbreitete Angst und Wut angesichts exzessiv steigender Mieten in eine Mobilisierung übersetzt, die die Stadtgesellschaft entlang der Klassenfrage politisierte. Mit dem von ihr gesetzten Thema hat sie die Parteien zur Positionierung gezwungen und den bestehenden Interessenkonflikt unübersehbar gemacht. Und im Zuge des Enteignungswahlkampfs hat sie hartnäckig auch auf einen zweiten Skandal hingewiesen: dass ein großer Teil derjenigen, die die steigenden Mieten in Berlin bezahlen müssen, vom Wahlrecht ausgeschlossen ist.
All das hat die Initiative nicht als gut geölte Kampagnenmaschine erreicht, auch wenn es von außen mitunter so aussah, sondern als Organizing-Projekt von unten. Hunderte, schließlich Tausende Menschen beteiligten sich im Frühjahr an der Unterschriftensammlung für das Volksbegehren und trugen 360.000 Ja-Stimmen zusammen. Der Charme der Kampagne bestand darin, dass jede*r mitmachen konnte: Kiezteams organisierten teils mehrmals die Woche Sammeltermine. Nach einem kurzen Training konnten alle, die wollten, losziehen und sich ins Gespräch stürzen. Egal, ob man sich regelmäßig engagieren oder nur einmal beim Sammeln helfen wollte: Bei einer linken Mobilisierung mitzumachen, war selten so einfach. In den Wochen vor der Wahl sind viele Aktive dann zu Gesprächen ausgeschwärmt, haben an Haustüren geklingelt, Märkte und Parks abgeklappert und sich mit Tausenden Menschen unterhalten.
Die Befähigung von Aktiven, die eigene Bubble zu verlassen, Haustürgespräche zu führen und dies auch anderen beizubringen, ist eine großer Schritt vorwärts für linke Bewegungspolitik in Berlin. In der Hauptstadt mit ihrer subkulturellen Infrastruktur ist es leicht, in den eigenen Szene-Nischen zu versacken. Deutsche Wohnen & Co. enteignen hat es geschafft, Hunderte Aktivist*innen zu motivieren, ein politisches Programm im Gespräch mit fremden Menschen zu erklären. Die Erfahrungen, die dabei gemacht wurden, werden hoffentlich in die Kämpfe der kommenden Jahre einfließen. Das bleibt – auch jenseits des Erfolgs beim Volksentscheid.
Diese Entscheidung für Basis-Aktivismus und Organisierung ist nicht vom Himmel gefallen. Die Kampagne für die Enteignung der großen Wohnungskonzerne ist ihrerseits die Konsequenz aus einem Organizing-Projekt. Entstanden ist sie in der Berliner Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieter*innen, die schon seit mehreren Jahren gegen Mietsteigerungen und dubiose Geschäftspraktiken des Konzerns ankämpfen. Da die Deutsche Wohnen schon im Interesse ihrer Aktionär*innen den Profit immer weiter steigern muss, so die Überlegung, komme man ohne die Enteignung des Konzerns aus den Abwehrkämpfen nicht heraus. Nina Scholz, Aktivistin der Kampagne, berichtete in ak, dass es eine Weile dauerte, bis die Mehrheit der aktiven Mieter*innen von der Idee überzeugt war. Ohne die Diskussionen und das im gemeinsamen Kampf als Mieter*innen aufgebaute Vertrauen hätte die Enteignungsinitiative nicht starten können, so Scholz. Die Erfahrungen, die im Mieter*innen-Organizing bei der Deutsche Wohnen gesammelt wurden, hätten sie in der Überzeugung bestärkt, dass die Initiative nicht als reine Wahlkampagne funktionieren, sondern nur erfolgreich sein könne, wenn sie parallel am Mieter*innen-Organizing arbeite. Auch wenn der Spagat, wie Aktivist*innen berichten, nicht immer gelingen konnte und die Organisierung von Hausgemeinschaften in den letzten Monaten hinter den Fahrplan der Kampagne zurücktreten musste: Ihr Ziel, dass die Bewegungen gegen den Mietenwahnsinn am Ende stärker sind als vorher, hat die Kampagne eindrucksvoll erreicht.
Wie geht es weiter?
Dass die Kampagne auf Aktivierung und (Selbst-)Organisierung gesetzt hat und nicht allein auf Wahlkampf und Öffentlichkeitsarbeit, ist wahrscheinlich ihre weitsichtigste Entscheidung gewesen. Denn auch nach der gewonnenen Abstimmung werden die Mieter*innen in Berlin die Enteignung der Wohnungskonzerne gegen die Absichten der neuen Stadtregierung durchkämpfen müssen.
Er erwarte von der neuen Berliner Regierung, dass sie das Ergebnis des Volksentscheids umsetze, erklärte Kalle Kunkel von Deutsche Wohnen & Co. enteignen am Wahlabend. Wer vorhabe, das zu ignorieren, habe nicht verstanden, was für ein Erdbeben Berlin erlebt habe. Es gebe eine riesige Wut unter den Mieter*innen der Stadt, auf die man in beinah jedem Gespräch über die Enteignungsinitiative stoße – und die gehe quer zu den sonstigen politischen Präferenzen der Gesprächspartner*innen. »Und es gibt ein gigantisches Potenzial von Menschen, die politisch etwas verändern wollen und unabhängig von politischer Erfahrung großartige Fähigkeiten für unsere Organisierung und Kampagnen mitbringen«, so Kunkel.
Diese Erkenntnis ist an dem ansonsten deprimierenden Wahltag auch über Berlin hinaus relevant. Während in der Linkspartei der Streit über das Wie und Für wen ausbricht, hat in Berlin eine bunt gemischte Basiskampagne gezeigt: Eine Linke, die sich an die Organisierung der sozialen Interessenkonflikte wagt, kann einiges in Bewegung bringen.