analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 665 | International

Legt alles still

In Namibia fordern junge Menschen Maßnahmen gegen sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt

Von Nashilongweshipwe Mushaandja

Protestierende mit Schildern auf der Straße und vor ihnen eine Sprecherin mit Mikrofon
Unter dem Motto #ShutItAllDownNamibia gehen junge Menschen seit Anfang Oktober auf die Straße. Foto: Vivian Hage Nou-Gawaseb

Der diesjährige Oktober läutete einen Wendepunkt in der namibischen Protestkultur ein. Frauen und Jugendliche gingen in der #ShutItAllDownNamibia-Bewegung (legt Namibia still) auf die Straße. Wir hatten gerade erfahren, dass Shannon »Darlikie« Wasserfalls menschliche Überreste in einem flachen Grab in den Namib-Dünen nahe der Küstenstadt Walvis Bay gefunden worden waren. Shannon Wasserfall galt seit April als vermisst, woraufhin eine Social-Media-Kampagne unter dem Hashtag #BringShannonHome mit dem Ziel startete, sie zu finden.

Wir erfuhren, dass es sich um einen Fall sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt handelte. Shannons Fall ist einer von zahllosen Fällen im Laufe der Jahre, in denen Frauen und Kinder vergewaltigt, missbraucht und durch die patriarchale Kultur ermordet wurden. Es gibt mittlerweile ein kollektives Verständnis davon, dass es in Namibia eine Krise in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide gibt und dass dringender Handlungsbedarf besteht. Daher war der 8. Oktober 2020 die Geburtsstunde von #ShutItAllDown: einer landesweiten, von der Basis ausgehenden spontanen Bewegung, die zu anhaltenden Protestaktionen führte. Es ist eine Revolution, die auf NamTwitter begann und die sich selbst als führerlos, gesichtslos und von den Bürger*innen geführt versteht.

So bahnbrechend die #ShutItAllDown-Bewegung war, so traumatisch war sie auch für viele Aktivist*innen vor Ort. Am 10. Oktober setzen Polizeikräfte Tränengas und Gummigeschosse gegen Demonstrant*innen ein, die versuchten, ein Einkaufszentrum zu besetzen. Einige von ihnen wurden geschlagen, schätzungsweise 27 Aktivist*innen und Journalist*innen wurden verhaftet und erst nach mehr als zehn Stunden wieder freigelassen. Als Demonstrant*innen wollen wir Präsident Hage Geingob davon überzeugen, einen nationalen Notstand mit Blick auf Femizide und sexuelle Gewalt zu erklären. Wir drängen auch auf den Rücktritt der Ministerin für Gleichberechtigung, Doreen Sioka, die wir für ungeeignet für dieses Amt halten, und werden nicht aufhören, bis unsere Forderungen erfüllt sind.

»Wir sind erschöpft«

ShutItAllDown erinnert uns daran, dass Namibia nicht mehr das konservative Land ist, das sich hinter seinen traditionellen Mauern des Schweigens versteckt. Tatsächlich lehrt uns dieser revolutionäre Moment, dass wir grenzüberschreitend und subversiv sein können. Namibia ist wieder eine toyi-toyi (Protest) Nation, in der Widerstandskultur im Zentrum des nationalen Diskurses stehen. #ShutItAllDown ist eine Bewegung, wie wir sie seit der Unabhängigkeit Namibias vom südafrikanischen Apartheidssystem im Jahr 1990 nicht mehr erlebt haben.

Als Demonstrant*innen rufen wir »Ons is moeg« (Afrikaans: »Wir sind erschöpft«) und bringen damit die kollektive Erschöpfung, die Angst und das ungelöste Trauma zum Ausdruck, in einer Gewaltkultur zu leben, die in der DNA des namibischen Nationalismus verwurzelt ist. Man kann nicht über diese Gewalt nachdenken, ohne auch an die Apartheid oder den deutschen Kolonialismus zu denken, die mit systematischer Vertreibung und Enteignung das Fundament für sie legten. Wir sind der Selbstgefälligkeit der namibischen Regierung und des Systems geschlechtsspezifischer Gewalt durch den hetero-patriarchalen Nationalismus überdrüssig. Wir sind frustriert über das heteronormative Denken und die Normalisierung der Art und Weise, wie Frauen, Kinder, queere, arme, behinderte Menschen und Schwarze im namibischen Nationalismus als entbehrlich und wertlos gelten.

Daher wenden wir uns feministischen Theorien zu Regelverstößen und zivilem Ungehorsam zu und fordern, dass Strukturen, die Femizide und geschlechtsspezifische Gewalt ermöglichen, abgeschafft werden. Wir werden die Kultur des »Business as usual« stören und die Führungspersönlichkeiten so lang unter Druck setzen, bis sie sich auf einen Dialog einlassen. Dank der demonstrierenden Frauen und Jugendlichen wissen wir jetzt zumindest, dass wir den Alltag lahmlegen können, wenn es nötig ist. Ungehorsam und Regelverletzung sind eine uralte Praxis. Auch das ist Teil des Mutterlandes, das wir kennen und lieben gelernt haben, als Namibia seine Unabhängigkeit durch radikale Akte des Ungehorsams gegenüber gleich mehreren kolonialen Projekten erlangte.

Jugendlich protestieren auf der Straße und halten Plakate, unter anderem "Ons is Moeg"
„Wir sind erschöpft“, rufen die Demonstrant*innen Foto: Vivian Hage Nou-Gawaseb

Heute spielen wir bei Protesten »WAP«, »Wet Ass Pussy«, den kontroversen und expliziten Song von Cardi B und Megan Thee Stallion. Dieses Lied drückt offen sexuelle Verspieltheit, Freude und Vergnügung aus, die der patriarchale Nationalismus den Frauen und TIN-Personen (1) verweigert. Zu diesem Lied zu tanzen und zu singen, ist eine Praxis der Freiheit und körperlichen Autonomie.

Die afrikanische feministische Geschichte lehrt uns, dass der Körper eine Waffe ist. In vielen Gemeinschaften auf dem Kontinent ist es üblich, dass sich Frauen aus Protest entkleiden oder ihre Brüste zeigen. Feministische Frauen wie die verstorbene Professorin Wangari Maathai (Kenia) und Pauline Opango Lumumba (DR Kongo) haben auf ähnliche Weise gegen Neokolonialismus beziehungsweise koloniale Unterdrückung protestiert. Die nigerianischen Frauen, die gegen die koloniale Unterdrückung der Briten kämpften, benutzten derartige Protestformen im sogenannten Frauenkrieg im Südosten Nigerias, der 1929 begann. Auch die queere Feministin Dr. Stella Nyanzi zeigte ihre Brüste 2016 und 2019 an der Universität Makerere und am ugandischen Gericht in ihrem Kampf gegen den patriarchalen Nationalismus. Das ist afrikanisches, feministisch verkörpertes Wissen – und von dieser Theorie aus sprechen wir im Streben nach Freiheit für die Unterdrückten.

Protest ist ein dritter Raum (»Third Space«), wo wir aus unserer Unterdrückung heraustreten. Wir haben nur unsere Stimmen, bemalte Körper, Schilder, Lautsprecher, Musik, Pfeifen, Mittelfinger und unsere Fäuste, die wir in die Höhe recken; Räucherstäbchen und Tänze, um unsere Botschaft zu übermitteln. Im militärischen Sinne sind wir unbewaffnet. Wir setzen uns dafür ein, die patriarchale Gewalt abzuschaffen und ihre neokolonialen Wurzeln offenzulegen. Wie kann es Frieden geben, wenn es keine Gerechtigkeit gibt? Wir sind auch nicht mit der bürgerlichen Respectability-Politik einverstanden, die verlangt, dass wir höflich und anständig sind. Diese Herangehensweise hat sehr wenig zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt in unseren Gemeinden beigetragen. Außerdem stehen wir in panafrikanischer Solidarität mit anderen Bewegungen, die derzeit auf dem Kontinent aktiv sind. Dazu gehören #ZimbabweanLivesMatter, #AnglophoneCrisis in Kamerun, #EndSARS gegen Polizeibrutalität in Nigeria und #CongoIsBleeding gegen den Genozid, der im Kongo stattfindet.

Nicht zuletzt steht #ShutItAllDownNamibia in einer Kontinuität mit früheren Protestaktionen, die wir seit einem Jahrzehnt organisieren. Bei den vielen anderen Kampagnen geht es darum, die namibische Regierung, die »Wirtschaft« und die akademische Welt für ihre schlechten Leistungen, die verzögerte Dekolonialisierung und die falsche Transformation zur Verantwortung zu ziehen.

Nashilongweshipwe Mushaandja

Nashilongweshipwe Mushaandja ist Teil der #ShutItAllDownNamibia-Bewegung. Er ist außerdem promovierter Künstler in Performance Studies am Zentrum für Theater-, Tanz- und Performance Studies der Universität Kapstadt.

Anmerkung:
1) TIN steht für trans, inter und nicht-binär.

Übersetzung: Paul Dziedzic