Land auf den Barrikaden
In Serbien nehmen die Proteste nach dem Einsturz eines Bahnhofsvordachs kein Ende – außenpolitisch sieht sich die Regierung allerdings gestärkt

Fast täglich gehen seit Anfang November Zehntausende auf die Straße: In Belgrad oder Novi Sad wird protestiert, aber auch in Kleinstädten und Dörfern werden Kreuzungen blockiert oder Läden boykottiert. Auch drei Viertel der Universitäten sind von ihren Studierenden besetzt. Die Herrschaft von Autokrat Aleksandar Vučić wackelt. Kann die Bewegung ihn zu Fall bringen?
Ausgelöst hatte die Protestwelle der Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Novi Sad am 1. November. 15 Menschen starben unter den Trümmern. Dabei war der Bahnhof erst im Juli nach Renovierungsarbeiten neueröffnet worden. Bis heute ist nicht restlos aufgeklärt, welche der beteiligten Baufirmen für die fahrlässige Sanierung des Vordachs verantwortlich war. Denn die entsprechenden Verträge standen zunächst unter strenger Geheimhaltung. So seien Aufträge ohne entsprechende Ausschreibungen an staatsnahe Baufirmen vergeben worden. Statt in die fachgerechte Sanierung des Bahnhofsvordachs sei das Geld in deren Taschen verschwunden. »Das war kein Unfall, das war Mord« sagt die 20-jährige Studentin Natalija Petrović. Wie Tausende andere Studierende in Serbien hat sie ihre Uni, die Philosophische Fakultät von Novi Sad, besetzt. Ihre Forderung: Die Verantwortlichen für den Einsturz des Vordachs müssen vor Gericht gestellt werden.
Protest mit Geschichte
Zwar sind unter dem Druck der Proteste einige Minister zurückgetreten – ernsthafte strafrechtliche Ermittlungen lassen allerdings bis heute auf sich warten. Denn die Regierungspartei von Aleksandar Vučić hat in den dreizehn Jahren ihrer Herrschaft sämtliche Bereiche des Staates unter ihre Kontrolle gebracht. Weder Gerichte noch Medien sind unabhängig – sondern unterstehen der Regierung. Genau dagegen richtet sich der aktuelle Protest: Zehntausende protestierten in den letzten Wochen vor dem staatlichen Fernsehsender oder dem Verfassungsgericht.
Es ist bei weitem nicht das erste Mal. Wahlbetrug, die Einschränkung der Pressefreiheit oder die Zunahme von Gewalt im Land trieben in den vergangenen Jahren immer wieder Massen auf die Straßen. Erst 2023 demonstrierten Zehntausende unter dem Motto »Srbija protiv nasilja« (Serbien gegen Gewalt) über mehrere Monate. Und doch ist die aktuelle Bewegung anders, sie ist nicht nur größer, sondern auch breiter als ihre Vorgängerinnen: Sie vereint Generationen-, Klassen- und Stadt-Land-Gefälle.
Über den Lithium-Deal hat Vučić sich einmal mehr die Unterstützung des Westens erkauft.
Erstmals seit den 1990er Jahren ist die junge Generation die treibende Kraft hinter den Protesten. Als am 22. November eine Gedenkkundgebung von Studierenden der Darstellenden Kunst in Belgrad von Mitgliedern der Regierungspartei SNS angegriffen wurden, besetzten diese kurzerhand ihre Fakultät. Wie ein Lauffeuer breiteten sich die Unibesetzungen im ganzen Land aus: Mehr als 60 Fakultäten in Serbien werden derzeit von ihren Studierenden bestreikt.
Seit bald drei Monaten schläft Natalija Petrovic nun schon auf einer Matratze im zweiten Stock ihrer Universität: »Natürlich ist das manchmal anstrengend«. Viermal die Woche tagt das Plenum, in dem Arbeitsgruppen für Öffentlichkeitsarbeit, Sicherheit oder Aktionen berichten und Entscheidungen zur Abstimmung stellen. Jede Person hat eine Stimme. Die Fakultäten sind die Keimzellen der basisdemokratisch organisierten Studierendenbewegung. Ein Zentralkomitee gibt es nicht, die Moderation rotiert ebenso wie die Delegierten.
Auch nach außen hin gibt es, anders als in vergangenen Protestwellen, keine Führungspersönlichkeiten, die die Bewegung repräsentieren. Sie hat viele Gesichter: Lehrer*innen und Anwält*innen legten aus Solidarität bereits die Arbeit nieder, auch Krankenhausangestellte sieht man hie und da in weißen Kitteln für fünfzehn Minuten Kreuzungen blockieren. Als die Studierenden Ende Januar 24 Stunden lang den zentralen Verkehrsknotenpunkt Autokomanda in Belgrad blockierten, waren auch Traktoren mit von der Partie.
Lithium für Rio Tinto und VW
Der 47-jährige Milchbauer Zlatko Kokanovic kommt regelmäßig mit seinem Traktor zu den Protesten der Studierenden angereist. Wie viele Landwirte in Serbien hat er sich in den letzten Jahren politisiert. Denn auch sein Hof im westserbischen Jadartal soll dem neuen Bergbauboom im Land zum Opfer fallen. Für die »grüne« Energiewende wollen immer mehr Bergbaukonzerne den Rohstoffhunger des Westens stillen – und finden in Aleksandar Vučić einen wohlwollenden Partner. (ak 707) 15 Prozent der Landesfläche hat er für Bergbaukonzerne freigegeben, die dort nun nach Kupfer, Lithium und Nickel schürfen. Das Lithiumvorkommen, das unter Zlatko Kokanovics Bauernhof lagert, will der australische Bergbauriese Rio Tinto abbauen. Sehr zur Freude der deutschen Autoindustrie: Mercedes Benz, Volkswagen und Stellantis sind bereits in Gesprächen mit der serbischen Regierung.
Über den Lithium-Deal hat Vučić sich einmal mehr die Unterstützung des Westens erkauft: so schüttelten ihm der deutsche Kanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den letzten Monaten gleich mehrfach die Hände und lobten seine EU-Beitrittsbestrebungen. Zum repressiven Vorgehen gegen die Proteste schweigen sie sich aus: Weder zu den Verhaftungen von Oppositionspolitiker*innen und Aktivist*innen, noch zu den SNS-Schlägertrupps, die Demonstrant*innen mitunter schwer verletzten, vernahm man einen Kommentar aus der EU.
Ihren Kampf an den Wahlurnen fortzusetzen, kommt für die Bewegung aktuell nicht infrage
So sehr ihn der Lithium-Deal außenpolitisch stabilisieren mag – innenpolitisch entstanden darüber in den vergangenen Jahren Bruchlinien, die Vučić nun zum Verhängnis werden könnten. Denn bei den aktuellen Protesten machen sich für die zivilgesellschaftliche Opposition Bündnisse bezahlt, die nicht viele europäische Länder vorweisen können: jene zwischen dem bäuerlich geprägten Hinterland und den traditionell oppositionellen Großstädten. Dabei prallen mitunter durchaus unterschiedliche Lebensrealitäten und politische Anschauungen aufeinander. Einige linke Aktivist*innen haben die Auseinandersetzung damit nicht gescheut und pflegen heute solidarische Beziehungen zu Betroffenen wie dem Landwirt Zlatko Kokanovic. Dieser meint: »Wir haben in den vergangenen Jahren mit unzähligen Gruppen, Organisationen und Menschen zusammengearbeitet. Dabei haben wir gemerkt, wer davon nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, und wer unseren Kampf ehrlich unterstützt.«
All die Feinde, die sich die autokratische und korrupte Regierung von Aleksandar Vučić in den letzten Jahren gemacht hat, gehen nun gemeinsam auf die Straße. Dass sie dabei auf Dezentralität setzen, ist bisher ihre große Stärke gewesen. Könnte diese der Bewegung noch zum Verhängnis werden? Zum ersten Mal in seiner Amtszeit ist Präsident Aleksandar Vučić ernsthaft unter Druck geraten. Als jüngstes Bauernopfer musste Ende Januar sogar der Premierminister Miloš Vučević dran glauben und seinen Rücktritt erklären. Bis zum 20. März will Vučić nun eine neue Regierung bilden – oder für Anfang Mai Neuwahlen ausrufen.
Ihren Kampf an den Wahlurnen fortzusetzen, kommt für die Bewegung aktuell aber nicht infrage. Denn zum einen sind die Bedingungen für die Opposition hier alles andere als fair: Die Regierungspartei kontrolliert die Medienlandschaft und betrügt erwiesenermaßen an den Wahlurnen. Oppositionsparteien fordern deshalb nun eine unabhängige Übergangsregierung, die den Weg zu freien Wahlen ebnet. Wer den Präsidenten bei diesen ernsthaft herausfordern könnte, ist – trotz seiner historischen Unbeliebtheit – momentan aber unklar. Die aktuell stimmenstärkste Oppositionspartei Demokratska Stranka war in den 2000er Jahren selbst an der Regierung – und ist daher in vielen Köpfen mit dem turbokapitalistischen Privatisierungsprogramm verbunden, das große Teile der Bevölkerung in die Armut stürzte.
Hoffnung in Basisdemokratie
»In der ganzen Region hier sehen wir, dass eine Regierung nach der anderen nach dem gleichen Muster herrscht: Sie öffnen das Land für multinationale Konzerne und bekommen im Gegenzug ein Stück vom Kuchen. Für die Bevölkerung fällt dabei nichts ab«, sagt der Student und Aktivist von der Universität für Darstellenden Kunst Siniša Cvetić. Statt auf einen Regierungswechsel pocht die Bewegung daher auf tiefgreifendere Veränderungen der staatlichen Strukturen und Institutionen.
Für Teile der Bewegung bedeutet das: eine funktionierende Gewaltenteilung nach dem Vorbild liberaler Demokratien. Für andere, wie Siniša, weist die aktuelle Bewegung über ein solches System hinaus: »Mehrere Tausend Studierende in Serbien organisieren sich gerade in basisdemokratischen Strukturen.« Das schwappe bereits auf Professoren, Eltern oder Stadtteile über, die dezentrale Blockadeaktionen in ihren Vierteln organisieren. »Wir sollten diese Organisierung von unten vorantreiben, statt von oben die Macht zu übernehmen«, so Siniša. Bislang zeichnet sich in Serbien ohnehin keine Kraft ab, die dies ernsthaft versuchen könnte.
Dabei scheint Vučićs Machtanspruch erstmals in seiner Amtszeit ernsthaft gefährdet. Könnte dieses Momentum verloren gehen, wenn niemand ihn zum Duell herausfordert? Nach einem Thronfolger scheint die aus der Apathie erwachte Gesellschaft in Serbien derzeit jedenfalls nicht zu suchen – sie ermächtigt sich gerade selbst, sagt auch die Ko-Vorsitzende der Partei »Zeleno-Levi front« (Grün-Linken Front) Biljana Đorđević gegenüber ak: »Die Proteste haben Schulen, Familien und Nachbarschaften erreicht. Wir beobachten gerade eine rapide Veränderung der sozialen Beziehungen.« Die Herausforderung bestehe nun darin, diese in langfristige Organisierungsformen zu übersetzen. »Repräsentative Politik ist dabei momentan nicht gefragt. Die Menschen repräsentieren sich selbst – auf der Straße.« Ob dabei etwas entsteht, dass der autokratischen Herrschaft der Regierungspartei von Aleksandar Vučić langfristig den Rang ablaufen kann, wird sich zeigen.