Texas dreht die Uhr zurück
Der US-Bundesstaat hat Abtreibungen fast komplett verboten. Was wir von den feministischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre lernen können
Am 1. September kam es zu einem beispiellosen Angriff auf das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung, das in der Entscheidung Roe vs. Wade von 1973 verankert ist. In diesem Grundsatzurteil hatte der Supreme Court Schwangerschaftsabbrüche unter das Recht auf Privatsphäre gestellt und alle gesetzlichen Einschränkungen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten aufgehoben. Anfang September trat nun im US-Bundesstaat Texas ein Verbot fast aller Abtreibungen nach sechs Schwangerschaftswochen in Kraft – und der aktuelle Supreme Court mit seinen drei vom damaligen Präsidenten Donald Trump ernannten erzkonservativen Richter*innen weigerte sich bislang in einer Eilentscheidung mit sechs zu fünf Stimmen einzuschreiten. Das neue Gesetz geht so weit, Abtreibungen auch bei Vergewaltigung oder Inzest zu verbieten.
Auch wenn sich noch zeigen wird, ob das Gesetz tatsächlich vor Gericht Bestand hat: Klar ist, dass das Verbot in Texas rechte Gesetzgeber*innen ermutigen wird, das Recht schwangerer Menschen, selbst über ihren Körper zu bestimmen, weiter zu begrenzen. Es wird zu einer Flut gesetzlicher Einschränkungen nach texanischem Beispiel führen. Das ist ein bedeutender Gewinn für die Rechte in ihrem langfristigen Kampf gegen Roe vs. Wade. Im Oktober beginnt auch eine Anhörung vor dem Supreme Court über ein Gesetz in Mississippi, das Abtreibungen nach 15 Wochen verbieten würde.
Für die feministische Bewegung und die ganze Linke muss das ein Weckruf sein. Uns bleibt nur die Option, eine Welle von Massenprotesten von unten zu organisieren. Doch eine solche Massenkampagne muss Roe vs. Wade nicht nur verteidigen, sondern in die Offensive gehen: Sie muss die Aufhebung der Abtreibungsbeschränkungen, eine staatliche und kostenlose Gesundheitsversorgung für alle, kostenlose Abtreibungen und eine reproduktive Gesundheitsversorgung fordern. Tatsächlich ist genau das schon einmal passiert. Wir können viel von den Massenprotesten lernen, die Feminist*innen in den 1960er und 1970er Jahren organisierten und die den Supreme Court erfolgreich unter Druck setzten, das Urteil Roe vs. Wade zu fällen – trotz der damaligen konservativen Mehrheit im Gericht.
Abtreibung vor Roe vs. Wade
In den 1960er und 1970er Jahren erhoben sich Unterdrückte und Menschen aus der Arbeiter*innenklasse auf der ganzen Welt. In den USA erschütterte die Schwarze Bürgerrechtsbewegung die Gesellschaft, Millionen protestierten gegen den Vietnamkrieg, und wilde Streiks fegten Anfang der 1970er Jahre über das Land. Inmitten der Radikalisierung der Gesellschaft begannen Frauen in den USA, offen über ihre Unterdrückung zu sprechen und sich für ihre Freiheit in der ursprünglich als Frauen- und später als Zweite-Welle-Feminismus bezeichneten Bewegung zu organisieren. Diese Bewegung war klassenübergreifend und umfasste sowohl weiße Menschen als auch People of Color. Die Bewegung brachte eine Reihe von Forderungen vor, aber das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch war (neben kostenloser Kinderbetreuung und Chancengleichheit) ein zentrales Anliegen, weil Frauen verstanden, dass sie ohne Kontrolle über ihre Sexualität niemals frei sein können.
Abtreibungen haben in der Menschheitsgeschichte immer stattgefunden, ob unter sicheren Bedingungen oder nicht. Erstmals wurden sie im feudalen Europa zur Zeit des entstehenden Kapitalismus verboten – in den USA wurden sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts unter Strafe gestellt. Vor der Legalisierung 1973 trieben in den USA jährlich etwa eine Million Frauen ab, was jedes Jahr zu 5.000 Todesfällen führte.
Es war schwer abzuschätzen, ob ein*e Ärzt*in wusste, wie man eine Abtreibung sicher durchführt. Viele Menschen, die keine andere Möglichkeit hatten, nahmen Abtreibungen alleine vor, mit Hilfe von Kleiderbügeln oder anderen scharfen Gegenständen. Etwa ein Drittel der Menschen, die jedes Jahr einen Schwangerschaftsabbruch vornahmen, mussten wegen Komplikationen ins Krankenhaus. Frauen zögerten die medizinische Behandlung oft aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen hinaus.
In Leslie Reagans Buch »When Abortion Was a Crime« (dt. Als Abtreibung ein Verbrechen war) erzählt eine Frau die Geschichte einer Kommilitonin, die abgetrieben hatte: »Sie hatte zu viel Angst, um irgendjemandem zu erzählen, was sie getan hatte. Als sie Komplikationen bekam, versuchte sie, sich selbst darum zu kümmern. Sie schloss sich im Badezimmer zwischen zwei Schlafsälen ein und verblutete.« Die Kriminalisierung zwang arme Frauen und Frauen of Color überproportional oft in solche gefährlichen Situationen. Reiche Frauen konnten sich hingegen sichere Abtreibungen leisten, indem sie einem*er Privatärzt*in exorbitante Summen zahlten oder in ein Land reisten, in dem Schwangerschaftsabbrüche legal waren.
Für die feministische Bewegung muss Texas ein Weckruf sein.
Untergrundnetzwerke aus Aktivist*innen, Ärzt*innen, Anwält*innen und Wohlfahrtsverbänden riskierten Haftstrafen, um Frauen sichere Abtreibungen zu vermitteln. Abtreibungsbefürworter*innen hatten sich beharrlich bei der Regierung dafür eingesetzt, Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren, machten aber nur sehr geringe Fortschritte – bis die Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre auf den Straßen explodierte.
Steigende Erwartungen
Die wachsende Zahl lohnarbeitender Frauen und die unerfüllten Erwartungen an den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit trugen entscheidend zur Entstehung der Frauenbewegung bei. Außer Haus zu arbeiten und eigenes Geld zu verdienen, stärkte die wirtschaftliche Unabhängigkeit, das Selbstvertrauen und das kollektive Bewusstsein der Frauen.
Der Erste und Zweite Weltkrieg sowie die massive Wirtschaftsexpansion in der Nachkriegszeit zogen Rekordzahlen an Frauen in die Erwerbsarbeit. Während des Zweiten Weltkriegs eröffnete die US-Regierung in 49 Bundesstaaten 3.000 staatlich subventionierte, erschwingliche Kindertagesstätten, um hauptsächlich verheiratete weiße Frauen dazu zu bringen, in Fabriken zu arbeiten, während Männer im Krieg kämpften. Nach Kriegsende versuchten Regierung und Unternehmen, die Frauen zurück in den Haushalt zu drängen. Die Regierung schloss die Kindertagesstätten und führte eine massive Propagandakampagne durch, in der die Freuden der Mutterschaft und des Haushalts als weibliche Pflichten im Kampf gegen den »Kommunismus« verherrlicht wurden. Viele Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, insbesondere Frauen of Color, konnten es sich aber nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Sie mussten oft unterbezahlte Jobs im Care-Sektor annehmen – als Reinigungskräfte, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Lehrerinnen, Restaurantangestellte –, in denen sie andauernder Respektlosigkeit und Erniedrigung ausgesetzt waren. Das mittlere Einkommen berufstätiger Frauen betrug 1960 nur etwa ein Drittel des Einkommens von Männern.
Betty Friedan, eine linke Journalistin, war eine der ersten, die die Depression, Isolation und Einsamkeit in Worte fasste, mit der viele Frauen zu Hause konfrontiert waren. 1963 veröffentlichte sie »The Feminist Mystique«, und 1966 war sie Mitbegründerin der National Organization for Women (NOW). Sowohl ihr Buch als auch die Entstehung von NOW werden von Historiker*innen oft als Beginn der zweiten Welle der feministischen Bewegung angesehen. NOW kämpfte hauptsächlich gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz und reichte über 1.000 Klagen gegen Unternehmen ein, von denen viele erfolgreich waren. NOWs Mitgliederzahlen stiegen sprunghaft an: von 300 im Jahr 1966 auf 40.000 im Jahr 1974.
NOWs liberale Führung wollte nicht den Kapitalismus herausfordern; stattdessen suchte sie einen gleichberechtigten Platz für Frauen innerhalb des Systems. Das führte dazu, dass ihre Forderungen vor allem weißen und heterosexuellen Frauen aus der Mittelschicht Verbesserungen versprachen. NOW versuchte, radikale Gruppen an den Rand zu drängen, aus Angst, die Bewegung zu gefährden. Friedan bezeichnete Lesben als »Lavendelbedrohung« – ein Begriff, den einige Lesben positiv für sich besetzten. Sie gründeten eine Gruppe mit diesem Namen und organisierten sich für lesbische Sichtbarkeit und Befreiung.
Doch Organisationen wie NOW und ihre hauptsächlich bürgerlichen und weißen Mitglieder waren weder die einzigen, die in der feministischen Bewegung der zweiten Welle aktiv waren, noch waren sie immer die Einflussreichsten. Sozialistische Arbeiter*innen, Lesben, Frauen of Color und Schwarze Frauen organisierten sich, um auch für ihre Interessen zu kämpfen. Aber selten schlossen sie sich zu einer gemeinsamen Bewegung zusammen: Wie Sharon Smith in ihrem Buch »Women and Socialism: Essays on Women’s Liberation« (2005) (dt. Frauen und Sozialismus: Essays zur Frauenbefreiung) schreibt, »gab es eine Reihe unterschiedlicher Frauenbewegungen, die auf parallelen Pfaden vorangingen, gespalten nicht nur in politischen Fragen, sondern auch in Bezug auf Race, Sexualität und Klasse«.
Die National Welfare Rights Organization etwa wurde 1966 gegründet und hatte 1969 auf ihrem Höhepunkt rund 25.000 Mitglieder, von denen die meisten Schwarz waren. Eine ihrer Organisatorinnen, Johnnie Tillmon, argumentierte, dass den Frauen ein existenzsichernder Lohn für ihre bereits geleistete Kindererziehungs- und Haushaltsarbeit gezahlt werden sollte. Sie schrieb: »Für viele Frauen der Mittelschicht in diesem Land ist die Frauenbefreiung ein Grund zur Sorge. Für Frauen, die von Sozialhilfe leben, ist es eine Frage des Überlebens.«
Nachdem sie jahrzehntelang an Gewerkschaftskämpfen teilgenommen hatten, eskalierten Frauen in den 1960er Jahren den Kampf gegen sexistische Bedingungen an ihren Arbeitsplätzen. 1968 gründeten Hausangestellte – überwiegend Schwarze Frauen – die National Domestic Workers Union. 1972 riefen Flugbegleiterinnen die Stewardesses for Women’s Rights ins Leben – eine Organisation, die verschiedene militante Taktiken einsetzte, einschließlich Langsamarbeiten und Krankfeiern, um Forderungen gegen die Objektivierung von Flugbegleiterinnen durchzusetzen. Büroangestellte, die am Arbeitsplatz erniedrigt, gedemütigt und schikaniert wurden gründeten Gewerkschaften – wie exemplarisch im Filmklassiker »9 to 5« von 1980 (dt. Warum eigentlich … bringen wir den Chef nicht um?) zu sehen. Im ganzen Land entstanden feministische Gruppen, die die Gegenwehr gegen sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt selbst in die Hand nahmen. Die Menschen initiierten Vergewaltigungs-Krisenzentren, Vergewaltigungs-Hotlines und Unterkünfte für Betroffene häuslicher Gewalt.
Sozialist*innen und Marxist*innen waren in der Bewegung aktiv, gründeten eigene Organisationen und/oder schlossen sich anderen an, von denen die größte eine sozialistisch-feministische Organisation namens Chicago Women’s Liberation Union war. Sie gründeten eine Abtreibungsgruppe namens Jane Collective, die vor allem Arbeiter*innen sichere Möglichkeiten für Schwangerschaftsabbrüche zur Verfügung stellte. Sie gründeten Women Employed, die sich für angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen einsetzten, und DARE (Direct Action for Rights in Employment), die sich gegen unfaire Arbeitspraktiken gegen Hausmeisterinnen einsetzte. Und sie gründeten das Committee to End Sterilization Abuse (dt. Komitee zur Beendigung des Sterilisationsmissbrauchs). Unfreiwillige Sterilisation war ein Problem, das vor allem arme und Frauen of Color betraf. Das Committee betonte, dass reproduktive Gerechtigkeit auch das Recht einschließe, sich für Kinder zu entscheiden, nicht nur das Recht, sich dagegen zu entscheiden.
Viele Frauen bekämpften auch den Sexismus innerhalb der Neuen Linken. Frauen of Color erlebten außerdem in ähnlicher Weise Rassismus innerhalb der feministischen Bewegung, und einige von ihnen beschlossen, eigene Organisationen zu gründen. 1973 wurde in New York die National Black Feminist Organization gegründet, und 1977 gründete eine Gruppe Schwarzer Feministinnen das Combahee River Collective, das den Begriff »Identity Politics« (dt. Identitätspolitik) prägte.
Die Befreiung der Frauen
Ab 1967 gründeten junge radikale Frauen lokale Gruppen, um über ihre Unterdrückung zu diskutieren und Vorstellungen aufzubrechen, die zuvor als natürlich oder biologisch normalisiert wurden. Bis 1969 breitete sich diese Praxis auf über 40 Städte aus. In diesen Gruppen hinterfragten Frauen ungleiche Geschlechterrollen und sprachen offen über sexuelle Themen, über die bis dato verschämt geschwiegen worden war: über Vergewaltigung und Abtreibung, Masturbation und Menstruation. Sie gaben Phänomenen wie »rape culture« (dt. Vergewaltigungskultur) und sexueller Belästigung einen Namen. Der Ausdruck »das Private ist politisch« stammt aus diesen Gruppen und beschreibt, wie Ereignisse, die Menschen im »privaten« Bereich widerfuhren, eigentlich geteilte alltägliche Erfahrungen waren. Frauengruppen debattierten auch über Strategien der Bewegung. Viele hielten die Konzentration von NOW auf den Gerichtssaal für zu konservativ. Stattdessen organisierten sie Demonstrationen und gingen direkt gegen Fälle von Sexismus vor, wobei sie weitreichende Forderungen nach einer Veränderung der Gesellschaft stellten.
Ein wirkungsvolles Organisationsinstrument war der »Speak-out«, bei dem Menschen öffentlich Geschichten über ihre Abtreibungserfahrungen teilten. Die Praxis verbreitete sich. Eine Aktivistin erklärte, dass ihre Rede »unglaublich erfolgreich war und sich als unglaubliches Organisationsinstrument herausstellte. Es holte die Abtreibung aus der Schublade, in der sie als Geheimnis und Schande versteckt worden war. Es informierte die Öffentlichkeit, dass die meisten Frauen sowieso abtreiben. Die Leute sprachen aus ihrem Herzen.«
Direkte Aktionskampagnen verbreiteten sich im ganzen Land. Obwohl viele sozialistisch-feministische und radikale Gruppen klein waren, drängten sie NOW und andere Mainstream-Organisationen in vielen Fällen weiter nach links. Als mehr Frauen aktiv und laut wurden, begann NOW, durchsetzungsfähigere Taktiken wie Proteste und Massenaktionen in ihre Strategien zu integrieren. 1968 gelang es ihnen, nach Geschlechtern getrennte Stellenanzeigen in Zeitungen abzuschaffen, indem sie Klagen und Massenaktionen kombinierten.
Jeder neue Sieg der Frauenbewegung steigerte die Wut der rechten antifeministischen Opposition, angeführt von der katholischen Kirche und evangelikalen protestantischen Anführern. 1971 stimmte eine parteiübergreifende Mehrheit im Kongress für den Comprehensive Child Development Act, der die Regierung verpflichtet hätte, Betreuungsangebote für alle Kinder zur Verfügung zu stellen. Doch die Rechte drängte Präsident Nixon, sein Veto einzulegen. In seiner Veto-Botschaft beschrieb Nixon das Gesetz als »das radikalste Gesetz, das aus dem 93. Kongress hervorgegangen ist« und sagte, dass es »zur Sowjetisierung amerikanischer Kinder führen würde«. NOW rief als Antwort auf die rechte Gegenwehr einen nationalen Frauenstreik für Gleichberechtigung aus. Er fand am 26. August 1970 statt und erinnerte an den 50. Jahrestag des Wahlrechts für Frauen.
Unter Aktivist*innen entbrannte eine Debatte über die Forderungen des Frauenstreiks. Liberale Frauen aus der Mittelschicht beschränkten ihre Forderungen auf das gesetzliche Recht auf Abtreibung, Kinderbetreuung und gleiche Job-Möglichkeiten. Sozialist*innen und Arbeiter*innen wollten mehr – kostenlose Abtreibung auf Abruf, kostenlose 24-Stunden-Kinderbetreuung auf Community-Ebene und gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Sozialistische Feminist*innen lehnten die vermeintlich »realistischere und praktischere« Forderung nach einer Reform der bestehenden Abtreibungsgesetze ab, für die sich Abtreibungsrechtsaktivist*innen jahrelang erfolglos eingesetzt hatten. Stattdessen bestanden sie auf die vollständige Aufhebung aller Gesetze, die das Recht auf Abtreibung einschränken sowie auf staatliche Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Popularität dieser radikaleren Forderungen veranlasste NOW und die National Association for the Repeal of Abortion Laws/National Abortion Rights Action League (NARAL, gegründet 1969) dazu, ebenfalls die Abschaffung aller Gesetze zur Einschränkung der Abtreibung zu fordern – sie waren die ersten Mainstream-Organisationen, die das taten.
Sozialistische Ideen hatten einen starken Einfluss auf die Bewegung. Viele schauten zum Beispiel auf die Russische Revolution von 1917, die die erste Regierung der Welt an die Macht gebracht hatte, die kostenlose Abtreibung, kostenlose gemeinschaftliche Kinderbetreuung und gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie eine kostenlose Gesundheitsversorgung und die Entkriminalisierung von Scheidungen und Homosexualität umsetzte.
Trotz aller Differenzen trugen beide Flügel der Bewegung ihre unterschiedlichen Banner auf der größten Frauenrechtsdemonstration seit den Protesten der Suffragetten zur Erlangung des Wahlrechts. 100.000 Frauen marschierten, demonstrierten, protestierten am 26. August 1970 gemeinsam, organisierten Lehrveranstaltungen und häusliche Streiks im ganzen Land.
In den frühen 1970er Jahren zwang die Bewegung elf Bundesstaaten dazu, ihre Abtreibungsgesetze zu liberalisieren und das Verfahren unter bestimmten Bedingungen zuzulassen. Trotz dieser Zugeständnisse bestanden sozialistische Feminist*innen weiterhin auf kostenlose Abtreibung. Schließlich erließ der Supreme Court am 22. Januar 1973 sein historisches Urteil Roe vs. Wade und hob damit alle Gesetze auf, die Abtreibungen während der ersten drei Monate der Schwangerschaft verbieten. Dieser entscheidende Sieg fand unter der Regierung von Präsident Richard Nixon statt – einem konservativen Republikaner und vehementen Abtreibungsgegner – und einem Supreme Court mit einer republikanischen Mehrheit. Die beharrliche Organisierung hatte die öffentliche Meinung zugunsten des Rechts der Frauen verschoben, selbst zu entscheiden, ob und wann sie eine Abtreibung vornehmen lassen. 1969 betrachteten 64 Prozent der US-Amerikaner*innen die Entscheidung zur Abtreibung als Privatsache, und 1976 unterstützten 63 Prozent der Frauen Bemühungen, »den Status der Frau in der Gesellschaft zu stärken und zu verändern«.
Lektionen für heute
Die Frauenbewegung veränderte das öffentliche und private Leben von Frauen: Der kulturelle und politische Wandel spiegelte sich in juristischen Siegen wie Roe vs. Wade sowie in Literatur, Kunst, Hochschulbildung und Alltag wider. Das explosionsartige Wachstum dieser Bewegung widerlegt die von vielen Liberalen – damals und heute – vertretene Vorstellung, dass Veränderungen nur Schritt für Schritt erfolgen. Massenbewegungen wie die Frauenbewegung können recht schnell wachsen und dramatische gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Gerichte, Gesetze und das politische System sind nicht immun gegen Massendruck; sie reagieren auf Veränderungen in der öffentlichen Meinung, und Aktivist*innen können sie beeinflussen, indem sie Massenbewegungen aufbauen, die die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse überzeugen und inspirieren.
Leider war die feministische Bewegung nicht auf die unaufhörlichen Angriffe auf Frauen- und Arbeiter*innenrechte seit dem Aufkommen des Neoliberalismus, der Reagan-Ära und dem Rechtsruck der Demokraten vorbereitet. Das Recht auf Abtreibung wurde seit 1973 stetig ausgehöhlt, am unmittelbarsten mit der Verabschiedung des Hyde-Amendments im Jahr 1977, das die Verwendung von Bundesmitteln für Abtreibungen verbot (vom demokratischen Präsidenten Jimmy Carter unterzeichnet). Obwohl Abtreibungen immer noch legal waren, schränkte das Frauen aus der Arbeiter*innenklasse stark ein.
15 Jahre später schwächte der Supreme Court Roe vs. Wade mit dem Urteil in Planned Parenthood vs. Casey weiter, das den Staaten erlaubte, Abtreibungsbeschränkungen im ersten Trimester zu erlassen. Das öffnete die Tür für eine Einschränkung nach der anderen. Trotz sehr effektiver Maßnahmen zum Schutz von Abtreibungskliniken vor rechter Gewalt haben die permanenten gesetzgeberischen Angriffe der religiösen Rechten dazu geführt, dass es für Frauen der Arbeiter*innenklasse in vielen Bundesstaaten extrem schwer ist, Zugang zu Abtreibungen zu bekommen. Der gesetzliche Anspruch auf Abtreibung ist wertvoll, reicht aber nicht aus, wenn der Eingriff nicht auch zugänglich und bezahlbar ist.
Das explosionsartige Wachstum der Frauenbewegung widerlegt die Vorstellung vieler Liberaler, dass Veränderungen nur Schritt für Schritt erfolgen.
Wir können aus dem Beharren der Sozialist*innen lernen, weitreichende Veränderungen zu fordern. Das kompromisslose Plädoyer für kostenlose Abtreibungen ohne Einschränkungen hat die öffentliche Debatte verändert. Das steht in krassem Gegensatz zu der entschuldigenden, schüchternen Verteidigung der Abtreibung durch die heutigen Leitungen von NOW, NARAL und Planned Parenthood, die ständig »Mäßigung« und »Realismus« predigen. Und wir können von den kreativen, weitreichenden Taktiken der zweiten Welle der Frauenbewegung lernen. Allerlei direkte Aktionen, öffentliche Sketche, Debatten, Märsche und Proteste stehen uns zur Verfügung. #MeToo ist ein deutliches Beispiel für die Wirkung, die Massen-Speak-outs auf das öffentliche Bewusstsein haben können.
Die Erfahrungen der letzten 50 Jahre zeigen, dass im Kapitalismus errungene Reformen immer nur vorübergehend und unvollständig sind. Die herrschende Klasse kann unter dem Druck von Massenbewegungen zu Zugeständnissen (wie der Legalisierung von Abtreibungen) gezwungen werden, aber sobald diese Bewegungen nachlassen, wird sie versuchen, die Reformen rückgängig zu machen. Wir müssen nicht nur periodische Protestbewegungen aufbauen, sondern stabile breite Massenorganisationen, die eine nachhaltige Bewegung gegen die herrschende Elite anführen können – und unseren Blick auf den Sturz des kapitalistischen Systems selbst richten.
Die englische Langfassung erschien am 1. September unter dem Titel »Turning Back the Clock: Texas’ First Day After Roe v. Wade« bei reform & revolution.
Übersetzung: Bilke Schnibbe