Welche Rolle sollten NGOs in Bewegungen spielen?
Die Umweltorganisation 350.org ist in Argentinien in Korruption verwickelt, rühmt sich in Deutschland aber ihres Kampfes gegen neokoloniale Ausbeutung
Von Nico Graack
Eine der zentralen Strategiekonferenzen der deutschen Klimagerechtigkeitsbewegung ist die Aktionsklimakonferenz (Akkon). In diesem Jahr wurde sie unter anderem von Vertreter*innen der vom US-amerikanischen Autor und Umweltaktivisten Bill McKibben gegründeten NGO 350.org besucht, die dort verschiedene Kampagnen vorstellten. Obwohl es keine neue Entwicklung ist, dass NGOs in der Bewegung eine wichtige Rolle spielen und an Konferenzen teilnehmen, stellt sich die Frage: Ist das die »NGOisierung« der Klimabewegung, von der Fridays for Future-Aktivist*innen auch in dieser Zeitung sprachen?
Ein wichtiger Fokus der Konferenz im Februar war unter anderen die Etablierung der antikolonialen Dimension des Klimakampfes. Da die Menschen im Globalen Süden die Hauptleidtragenden in der Klimakatastrophe sind und sich in direkter Konfrontation mit den zerstörerischsten Großprojekten der fossilen Industrie befinden, müssen sich unsere Kämpfe in den Machtzentren mehr darauf fokussieren und Verbindungen zu den Frontlinien der Klimakämpfe aufbauen . Viele sind sich darin zum Glück einig.
Aber: Ausgerechnet 350.org ist bei den Kämpfenden vor Ort für Korruption bekannt. So erhob die Organisation EcoLeaks aus Argentinien Ende des letzten Jahres schwere Vorwürfe gegen die 2008 gegründete Organisation: Funktionär*innen von 350.org hätten systematisch die Anti-Fracking-Bewegung sabotiert, um die eigene, rechtsnationale politische Karriere zu befördern. Zwei von ihnen seien nun, nachdem sie von 350.org gefeuert wurden, in Europa unterwegs, um neue Kontakte zu knüpfen. Es geht bei diesen Vorwürfen um den Kampf in der argentinischen Fracking-Region Vaca Muerta. In den Kommentaren werden ähnliche Vorwürfe aus Südbrasilien und dem US-amerikanischen Bundesstaat New Mexico erhoben.
Argentinien hat mit dem Vaca Muerta das zweitgrößte Schiefergasvorkommen der Welt. Schiefergas ist in tiefen, harten Gesteinsschichten eingeschlossen und kann daher nicht konventionell gefördert werden. Stattdessen kommt die Fracking-Technik zum Einsatz, bei der ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien unter hohem Druck in das Gestein gepresst wird, um Gas und Öl durch Risse entweichen zu lassen. Dabei kommt es schon im normalen Betrieb zu weiträumigen Verseuchungen des Grundwassers und regelmäßig zu Leckagen, die lebenswichtige Flüsse verseuchen. Im Schnitt gibt es in der Region Vaca Muerta zwei Leckagen täglich. Überdies besteht Erdgas hauptsächlich aus Methan, das insbesondere bei der Frackingförderung in großen Mengen entweicht und als extrem starkes Treibhausgas das Klima anheizt.
Gegen Gas und Korruption
Deshalb protestieren seit 2013 unter anderem die besonders betroffenen indigenen Gemeinschaften der Mapuche gegen die Förderung von Schiefergas. 2018 weiteten sich die Proteste zu einer Massenbewegung aus. Großen Anteil daran hatte die Veröffentlichung von Studien durch die neugegründete Plattform EcoLeaks, die von der Regierung zurückgehalten worden waren. Es ging um Untersuchungen, die für die bereits bestehende Förderstruktur Grundwasserverseuchungen nachwies. Das war zu einer Zeit, als Vaca Muerta im Zentrum von geopolitischen und ökonomischen Interessen stand: Der damalige US-Präsident Donald Trump und der damalige rechte Präsident Argentiniens, Mauricio Macri, planten die großräumige Expansion der Frackingindustrie. Deshalb fand zu dieser Zeit auch das G20-Treffen in Mendoza in der Vaca Muerta-Region statt. Nach dem Treffen kündigten China, Frankreich und die USA Investitionen in Milliardenhöhe an.
Vor diesem Hintergrund stand die Veröffentlichung von EcoLeaks allein auf weiter Flur gegen die korrupte Regierung und die Medien, die sich dem Regierungskurs anschlossen und die Studie für unseriös erklärten. NGOs können in einer solchen Lage mit ihren Ressourcen und ihrem Status als juristische Person im bürokratischen Apparat eine essenzielle Rolle spielen. Und so verhalf das Teilen der EcoLeaks-Veröffentlichung auf der 350.org-Facebookseite dem Leak zu Anerkennung und Verbreitung.
Zeitgleich versuchte die Regierung um Mendozas Gouverneur Alfredo Cornejo von der rechten Partei Unión Cívica Radical (UCR, dt. Radikale Bürgerunion), die Bewegung zu stoppen: Anti-Fracking-Aktivist*innen wurden verfolgt und diskreditiert. Das ist besonders brisant, da Cornejo einige Jahre zuvor im Kampf gegen den zerstörerischen Bergbau in der Region bekannt wurde und sich als »Wasserverteidiger« ins Amt wählen ließ. Nun war es seine Regierung mit Carlos Pia als Direktor für Umweltangelegenheiten in General Alvear, Mendoza, die mit einer Exekutivverordnung Frackingbohrungen erlaubte und die entstehende Bewegung verfolgte. Die Ressourcen von 350.org waren in dieser Situation wichtig, um Aktivist*innen zu schützen.
Tonangebend sollten immer die Menschen vor Ort sein, die von der Zerstörung unmittelbar betroffen sind.
Carlos Pia kommentierte die EcoLeaks-Veröffentlichung über die Grundwasserverseuchung als angeblicher Aktivist, ohne seine Regierungsbeteiligung bekannt zu geben, und erklärte den Bericht für falsch. Der argentinische Koordinator von 350.org war 2018 Ignacio Zavaleta. Als UCR-Mitglied pflegte er zu Pia und anderen Parteimitgliedern gute Kontakte. Zu dieser Zeit plante er eine Kampagne, um für das Amt des Bürgermeisters in seiner Heimatstadt Guamini zu kandidieren – das belegen veröffentliche Mitschnitte von Telefonaten. Im Angesicht dieser Karriereinteressen entschied sich Zavaleta dazu, eigenmächtig die EcoLeaks-Veröffentlichung von der 350.org-Seite zu entfernen, um einen guten Eindruck bei seinen rechten Parteikollegen zu machen.
Daraufhin wurde er von Juliano Bueno de Araujo und Nicole Oliveira, der damaligen 350.org-Leitung Argentiniens, entlassen. Die Eco-Leaks-Studie wurde wieder online geteilt. Nach einem Treffen in Uruguay kurz darauf wurde er allerdings wieder eingestellt und interne Kritiker*innen des Vorgehens entlassen. Der bisherige Kurs der NGO, die Anti-Fracking-Bewegung zu unterstützen, kam zu einem abrupten Ende.
Ausgelöschte Erinnerungen
Für ihre Sabotage der Anti-Fracking-Kämpfe wurden Araujo und Oliveira entlassen. In einer Pressemitteilung erklärt 350.org, dass grundsätzlich keine Angaben dazu gemacht würden, unter welchen Umständen Mitarbeiter die Organisation verlassen. Und doch reagierte diese mit dieser Mail auf Meldungen, dass Araujo und Oliveira nach ihrer Kündigung im Namen eines »Arayara Institute« nach Kontakten in Europa suchen: »Nach einer internen Untersuchung entschied 350.org, die Beziehung mit Nicole Figueiredo de Oliveira und Juliano Bueno de Araújo am 1. Juni 2020 zu beenden.« Eine Warnung im NGO-Jargon.
Hier zeigt sich ein strukturelles Problem insbesondere großer NGOs: Die lokalen Abteilungen arbeiten oft recht autonom, und Informationen über Korruption werden aus Sorge um die Finanzierung und den symbolischen Status schon innerhalb der lokalen Gruppen zurückgehalten, von den Abteilungen auf anderen Kontinenten ganz zu schweigen. Diese Dynamik entzieht sich ein Stück weit dem guten Willen einzelner Beteiligter. Die Sorgen um den Status der Organisation wirken als Summe von Sachzwängen, denen die Institution schon ohne das Karrierestreben Einzelner ausgesetzt ist. Nur so ist es möglich, dass auf der Strategiekonferenz in Deutschland Vertreter*innen von 350.org von dem wichtigen Beitrag zu den Kämpfen in Vaca Muerta sprechen konnten, den ihre NGO angeblich geleistet habe. Es ist davon auszugehen, dass sie in der Tat nichts von der Korruption vor Ort wussten.
Was lässt sich daraus für den Umgang mit NGOs aus der Perspektive von Graswurzelaktivist*innen lernen? Natürlich sind NGOs wichtige Partner, die über Ressourcen, Kontakte und symbolische Anerkennung verfügen, die Graswurzelgruppen oft verwehrt ist. Das lässt sich auch in Vaca Muerta sehen: Ohne die anfängliche Unterstützung wäre die Anti-Fracking-Bewegung wohl nicht so groß geworden, dem Leak hätte die Legitimation gefehlt. Und auch in puncto Repression: Eine international gut vernetzte NGO bietet Schutz, der für auf sich gestellte Graswurzelaktivist*innen an den Frontlinien der Klimakatastrophe überlebenswichtig sein kann.
Die NGOs müssen aber genau das sein: Unterstützungsstruktur. Tonangebend sollten immer die Menschen vor Ort sein, die von der Zerstörung unmittelbar betroffen sind. Personen, die eine Institution tragen, die im Apparat repräsentiert und von Finanzströmen abhängig ist, werden ein Eigeninteresse am Weiterbestehen der Organisation entwickeln – unabhängig von unterschiedlichen Ansichten in strategischen und taktischen Fragen, die es in der Bewegung gibt. Dann ist es vor allem an den Graswurzelgruppen, diese Rolle zu etablieren: Nehmen wir NGOs als Zuarbeiter*innen wahr – die strategischen und taktischen Entscheidungen treffen die Betroffenen! So hat zum Beispiel im Dannenröder Forst eine große NGO im Hintergrund Infrastruktur bereitgestellt, ohne mit ihrem Logo aufzutreten oder die Bereitstellung an Bedingungen zu knüpfen. Für Konferenzen wie die Akkon heißt das: NGOs können und sollen teilnehmen, aber wo sie Entscheidungen treffen, gilt es auf der Hut zu sein!