Konstruktive Geschwister?
Zum schwierigen Verhältnis von Reform, Revolution und Konstruktion
Ende der 1970er Jahre steht die radikale Linke in Westdeutschland vor einer neuen Option: politische Macht. Als Teil der Anti-Atom-Bewegung kann sie an jenem Prozess teilnehmen, aus dem die Grüne Partei hervorgehen wird. »Endlich einmal nicht mehr mit dem Rücken zur Wand stehen, eine Minoritätenpolitik zu machen, die zwar radikal, aber auch hilflos ist« (1).
Undogmatische ebenso wie dogmatische Linke treten zögernd und unter kritischen Stimmen in die 1980 gegründete Partei ein: »Trotz aller Parolen vom parlamentarischen Arm der außerparlamentarischen Ökologiebewegung glaube ich nicht an eine Dialektik von inner- und außerparlamentarischer Opposition (…) leicht wird aus der Taktik Strategie, aus Opportunität Opportunismus und aus der Revolte Verwaltung« (2). Schlussendlich behalten die Kritiker*innen wohl Recht, und der Staat siegt. Erfolgreiche »Fundis« wie Thomas Ebermann und Jutta Ditfurth verlassen die Partei, Ex-Sponti Joschka Fischer und andere werden »Realos«. Der Verfall ist kontinuierlich: das »Kräfteverhältnis« ersetzt Fundamentalopposition, Reform Revolution, Nicos Poulantzas, Johannes Agnoli (3).
Diese Geschichte ist sicherlich kein Argument für Fundamentalopposition, Warten auf die Revolution und Rückzug in den Szenemief – zu deutlich sind einerseits die Grenzen hiervon und anderseits die Realerfolge der »Fundis« im Besonderen und der Reformen im Allgemeinen. Aber diese historische Episode prüft – als ein Beispiel unter vielen – die Reichweite linker Reformpolitik und fragt, welche Haltung gegenüber Staat und Reformen angemessen ist. Gerne kritisieren reformorientierte Linke ihre revolutionären Geschwister für Staats- und Realitätsferne (für sie gleichbedeutend), doch revolutionäre Linke entsprachen selten diesem »grobkörnigen Entweder-Oder«, wie Rosa Luxemburg es formulierte. Auch Revolutionär*innen kämpften vorrevolutionär reformistisch. Nicht das Ob der Reform unterscheidet revolutionäre und reformorientierte Linke, sondern das Wie.
Etwas holzschnittartig könnte man drei Formen unterscheiden, zwischen ihnen liegt ein Kontinuum. Der transformative Reformismus möchte mit den Reformen selbst die Gesellschaftsform ändern. In bester Manier von Eduard Bernstein (1850-1932), einem Theoretiker der alten SPD, führen fortschreitende Reformen – wie steigende CO2-Steuer, bedingungsloses Grundeinkommen und globale Umverteilung – zum Staats- oder Marktsozialismus. Oder weniger ambitioniert in die öko-soziale Marktwirtschaft. Ein Bruch ist nicht notwendig.
Reformistische Politik erzeugt, festigt und romantisiert, symbolisch und praktisch, systemimmanente Möglichkeiten.
Für den Übergangsreformismus bereiten Reformen den revolutionären Bruch vor, sie schaffen »Einstiegsprojekte« und »Realutopien«, aber ohne grundlegende Neuorganisation von Macht und Eigentum geht’s nicht. Das neue Etappenmodell: Kapitalismus – öko-sozialer Kapitalismus – Staatssozialismus oder gleich Kommunismus.
Für den revolutionären Reformismus sind Reformen keine notwendigen Schritte für die Revolution, sie können aber unterstützen. Seine Haltung zu Reformismus ist einerseits ethisch-humanistisch, sie ist menschlich geboten, andererseits instrumentell, sie dient der Politisierung und Organisierung. Im Gegensatz hierzu sind für transformative und Übergangs-Reformist*innen Reformerfolge zwingend notwendig. Eben dies wirkt systemstabilisierend.
Will reformistische Politik erfolgreich sein, muss sie ihre Praxis an bestehende Institutionen ausrichten und anpassen. Noch gefährlicher: Reformistische Politik erzeugt, festigt und romantisiert – symbolisch und praktisch – systemimmanente Möglichkeiten. Appelliert die Klimabewegung an »die Politik«, um mit einer »guten Klimapolitik« die Klimakrise abzuwenden, dann schafft sie symbolisch und praktisch die Vorstellung, der Staat im Kapitalismus könne das. Genauso erschafft und bestärkt eine Gruppe, die »Märkte auf Gemeinwohl ausrichten« will, die Vorstellung, dem Kapital könnte sein Verwertungsimperativ ausgetrieben werden. Damit festigen Reformist*innen das Anpassungsnarrativ der Marktwirtschaft: »Ich kann alles, auch rot-grün (und sowieso: There is no alternative)«. Zusätzlich scheint das Problem dann eher bei falschen Herrscher*innen anstatt dem System zu liegen. Auch linke Regierungen müssen in trauriger Zerrissenheit immer wieder feststellen, dass sie vornehmlich an der mehr oder minder besseren Verwaltung des Status quo unter den Bedingungen von Standortkonkurrenz und Kapitaldominanz arbeiten.
Der Kapitalismus legt Reformismus nahe, womit Widerstand regulierbar und stabilisierend wird. Widerstand startet deshalb meist reformistisch, und es ist an uns, ihn nicht zu verteufeln, sondern Bündnisse aufzubauen und solidarische Kritik zu üben. Ob die Kritik am Reformismus bedeutet, dass reformkritische Linke nicht in Parteien und Parlamenten aktiv sein sollen, beispielsweise da reformorientierte Linke das eh machen, müssen Menschen diskutieren, die von politischer Taktik mehr verstehen als der Autor. Wichtig ist hingegen, dass Linke die Grenzen staatlicher Politik benennen und betonen. Im Kapitalismus, also unter Bedingungen der Abspaltung von Care-Arbeit, Verwertungszwang und Standortkonkurrenz, erreicht höchstwahrscheinlich kein Staat eines industrialisierten Landes, auch nicht mit halbwegs williger Zivilgesellschaft, die Abschaffung des Patriarchats, eine ausreichend hohe CO2-Steuer, gutes Grundeinkommen oder eine vernünftige Klimapolitik. Beim Anti-Kohlekraft-Bündnis Ende Gelände lässt sich die Haltung in Botschaften finden wie »Wir wollen eine vernünftige Klimapolitik, aber sind uns ziemlich sicher, dass diese im Kapitalismus nicht umsetzbar ist. Darum fordern wir: Kohle stoppen vom Staat und Kapitalismus überwinden für die wirkliche Veränderung«.
Jenseits der Reformhoffnung
Transformationsstrategien können nur sinnvoll im Bezug auf ihr Ziel, ihre Utopie diskutiert werden. Grob eingeteilt gibt es heute wohl drei linke Utopien: Öko-soziale Marktwirtschaft, demokratischer Staatssozialismus und Kommunismus. Öko-soziale Marktwirtschaft und Staatssozialismus, ebenso wie Green New Deal, Gemeinwohlökonomie und Parecon, liegen zwischen den Extremen der liberalen Marktwirtschaft und der staatlichen Planwirtschaft. Sie teilen Markt und Staat nur verschiedene Aufgaben zu. Der Kommunismus befindet sich jenseits dieses strukturierten Kontinuums, weil er mit dessen gemeinsamer Basis – der Lohnarbeit als Methode des Kooperationszwangs und damit dem Widerspruch von Gebrauchs- und Tauschwert in Kapitalismus, Markt- und Staatssozialismus – bricht. Seine Modelle könnten nach ihrer vorwiegenden Koordination als zentral – z.B. Rätekommunismus -, dezentral (etwa kommunitärer Anarchismus) und polyzentral, beispielsweise Commonismus oder distribuierter Sozialismus (4), eingeteilt werden.
Zur Reformstrategie passt öko-soziale Marktwirtschaft, vielleicht Marktsozialismus. Die Revolution hat zwei Kinder: Ihr staatssozialistisches Kind will die Staatsmacht erobern und Markt- oder Staatssozialismus. Ihr (libertär-)sozialistisch, kommunistisch oder anarchistisch genanntes Kind will Lohnarbeit abschaffen und deshalb den Staat demokratisch in die Gesellschaft auflösen, absterben lassen oder ersetzen. Es betont den Aufbau von alternativer Re/Produktion und betont damit eine dritte Transformationsstrategie: Konstruktion. Theorien sprechen von interstitiellen (zwischenräumlichen) oder präfigurativen Praktiken, Commonist*innen von Keimformen.
Keimform, Kairos & Kampf
Eine neue Gesellschaftsform fällt nicht vom Himmel. Ihre neue Re/Produktionsweise muss in der alten Gesellschaft angelegt sein. Keimformen verwirklichen die Logik einer anderen Re/Produktionsweise – und dies ist eine andere Kooperationsweise wie Markt, Staatsplan oder Selbstorganisation – nur untergeordnet und damit beschränkt. Aus seiner Keimform im Feudalismus ging der Kapitalismus hervor, im Kapitalismus schlummern u.a. die Keimformen von Staatssozialismus und Kommunismus. Walmart und Deutsche Post faszinieren Staatssozialist*innen nicht ohne Grund, sie sind/waren erscheinende Keimformen einer (kybernetisch-computergestützter) Top-Down (Staats-)Planung (ak 648).
Der Autor hält die Überwindung der Lohnarbeit aus sozialer, feministischer und ökologischer Perspektive nicht nur für wünschenswert, sondern für notwendig. Deswegen ist eine Untersuchung der möglichen Verallgemeinerung der kommunistischen Keimform, die die Commons-Theorie über Commoning bestimmt, notwendig. In Commons kooperieren Menschen jenseits von Staat, Markt und Lohnarbeit, sind überwiegend freiwillig tätig und verteilen die Ergebnisse tendenziell nach Bedürfnissen anstatt nach Leistung oder Macht. Während in der symbolischen Commons-Produktion wie Wikipedia zehntausende Menschen freiwillig Lexika-Artikel verfassen und offen zur Verfügung stellen, ist bei der materiellen Produktion die Skalierung erschwert. Das Mietshäusersyndikat entzieht zwar Häuser dem Markt und solidarische Landwirtschaften produzieren nicht Waren für den Markt, sondern Güter für feste Unterstützungsgruppen, aber beide sind sozial kleinräumig. Commoning findet sich in eingehegter und widersprüchlicher Form auch in postfordistischen Arbeitsverhältnissen, wo Selbstbestimmung und Motivation als ausbeutungsfördernd gelten. Auch das Sommercamp, wo Kloputzen und Kochen auf Basis von Freiwilligkeit organisiert wird, ist commonsförmig, Zusammenschlüsse wie Fridays for Future, die Interventionistische Linke oder Frauen*streik ebenso. Die neuen sozialen Bewegungen organisieren sich meist nicht mehr auf Basis von Partei und Durchsetzung von oben, sondern von freier Kooperation, und üben sich in den Tücken selbstorganisierter Zusammenschlüsse unter kapitalistischen Bedingungen.
In der deutschsprachigen Commonsbewegung hoffen viele auf eine kontinuierliche Ausdehnung der Commons, doch diese ist nicht zu erwarten. Die kapitalistische Keimform war für den Feudalismus funktional, weil sie die Kooperation steigerte. So förderten die Fürst*innen Märkte, Städte und Handel, wenn auch zum Teil widerwillig. Der Kapitalismus erschwert hingegen Kooperation jenseits von Markt, Staat und Lohnarbeit. Somit stellt sich die Frage von Aneignung, Kampf und nach der Verbindung von politischen Bewegungen und re/produktiven Praktiken.
Die Linke kämpft nicht nur gegen etwas, sondern lebt in ihrer politischen und re/produktiven Praxis wie Hausprojekten, Politgruppen, gemeinsamer Ökonomie, solidarischer Landwirtschaft, linken Kulturräumen und kollektiver Kindererziehung (bspw. die Falken) für etwas, sie lebt Teile einer kommunistische Re/Produktion. Wie aber könnte Wohnen, Nahrung und Sorge stärker commonistisch und als Teil der Bewegung organisiert werden? Wie könnte die Linke nicht nur eine politische Kraft, sondern auch ein Re/Produktionsnetzwerk werden, das Menschen unterschiedlicher Milieus Sicherheit bietet und kontinuierliche politische Arbeit mit Fürsorgestrukturen unterstützt? Solche re/produktiven Sorgestrukturen sind heute hauptsächlich unterstützend, aber in Zeiten von Versorgungs- oder Legitimationskrise – und somit Kairós (5) und Gelegenheit – können sie reale Alternativen für Menschen darstellen und so den Bruch materiell, sozial und symbolisch abfedern. Die Lohnarbeit hat ökologisch, feministisch, sozial und ökonomisch ausgedient; die Alternative entsteht reformistisch gestützt, aber in ihrem Kern konstruktiv-revolutionär.
Anmerkungen:
1) Schnittlauch, E.: Grüne Katze im Sack? Gedanken zum Offenbacher Kongreß in Pflasterstrand 67/1979, S. 2
2) Mor, R.: Diskussion: Grüne List(e) Pflasterstrand 33/1978, S. 3
3) Während Agnoli die Begrenzung und Integrationsfähigkeit des kapitalistischen Staates im Allgemeinen und des Parlamentarismus im Besonderen diskutiert, betont Poulantzas die Möglichkeiten linker Politik innerhalb des Staates.
4) Von Redecker, E. (2020): Revolution für das Leben, S. Fischer, Frankfurt am Main.
5) Neupert-Doppler, A. (2019): Die Gelegenheit ergreifen – Eine politische Philosophie des Kairós, Mandelbaum Verlag, Wien.