Mehr als Tränengas in der Luft
Überall auf dem afrikanischen Kontinent protestieren die Menschen gegen die Teuerungen – Regierungen reagieren mit harschen Mitteln
Von Paul Dziedzic
Ende März versammeln sich mehrere Polizeieinheiten unter Beobachtung des stellvertretenden Polizei-Generalinspekteurs in einem Vorort von Kampala. Die Uganda Police, deren Vorgängerorganisation 1899 von den Brit*innen gegründet wurde, übt heute mit unterschiedlichen Einheiten »Terrorismusbekämpfung« und – so heißt es in einem Bericht der Zeitung Daily Monitor – den Umgang mit »kenia-ähnlichen« Protesten.
Im Nachbarland hatten kurz zuvor Opposition und Gewerkschaften dazu aufgerufen, gegen die Teuerungen und die Politik der seit acht Monaten amtierenden Regierung auf die Straße zu gehen. Der Staat rief Tausende Beamt*innen zusammen, auch aus der berüchtigten Spezialeinheit GSU, welche die Brit*innen 1948 zur Aufstandsbekämpfung aufgebaut hatten. Städte wie Nairobi wurden teilweise verbarrikadiert, die Polizei setzte massiv Tränengas, Blendgranaten und Wasserwerfer ein.
Kenia war nicht das einzige Land, in dem die Menschen aufgrund der Preissteigerungen auf die Straße gingen. Proteste gab es in den letzten Wochen unter anderem auch in Nigeria, Südafrika, Kamerun und Tunesien. In jedem Land waren Kontext und Auslöser unterschiedlich: Wahlen (Nigeria, Kenia), autoritäre Reformen (Tunesien) oder Stromausfälle (Südafrika). Gleichzeitig liegt seit einigen Jahren mehr in der Luft als Tränengas. Wo die alltäglichen Härten sich genauso summieren wie die Krisen, hat auch die Wut über das Verhältnis zwischen dem Staat und den Menschen zugenommen.
Covid, Krieg und IWF
Obwohl die Pandemie selbst im internationalen Vergleich keine verheerenden Folgen hatte, waren die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen in vielen Ländern des Kontinents umso härter. Vielerorts kam der Tourismus zum Erliegen, wurde die landwirtschaftliche Produktion aufgrund der Lockdowns zurückgefahren, die Nachfrage nach primären Exportgütern ging zurück. Das führte oftmals zu Job- und Einkommensverlusten. Viele der Staaten versuchten, ihre sozialen Ausgaben zu erhöhen, doch ihr Spielraum war unter anderem durch die hohe Verschuldung begrenzt. Entlastungspakete für Privathaushalte oder Firmen, ähnlich wie die in Europa oder Nordamerika, gab es nicht, auch der Zugang zu Impfstoffen wurde vielen Staaten aufgrund der Taktiererei der Industrieländer verwehrt.
Mittlerweile haben sich über die Hälfte der afrikanischen Staaten an den IWF gewandt.
Dann folgte der russische Überfall auf die Ukraine, beides Top-Produzenten lebenswichtiger Güter wie Getreide, und offenbarte die in den Jahrzehnten gewachsene Abhängigkeit vieler Länder auf dem afrikanischen Kontinent von importierten Lebensmitteln. Widerwillig wandten sich Regierungen an internationale Geldgeber. Am berüchtigtsten unter den Finanzinstitutionen ist der Internationale Währungsfonds (IWF), der Gelder unter strengen Auflagen vergibt. Mittlerweile haben sich über die Hälfte der afrikanischen Staaten aufgrund der Krise an den IWF gewandt.
Zu den gängigsten Bedingungen des IWF gehört das Streichen staatlicher Dienstleistungen. Beliebt sind Kraftstoffsubventionen, was unter anderem wegen erhöhter Transportkosten generell zu Teuerungen führt. Im Falle Kenias stiegen wegen des Wegfalls öffentlicher Subventionen auch die Energiepreise.
»Nationaler Shutdown« in Südafrika
In jedem Land ist die Ausgangslage unterschiedlich. Doch die Wut auf die Teuerungen ist ein verbindendes Element. In Kenia und Nigeria spielt die Opposition eine bedeutende Rolle in den Mobilisierungen. Das liegt daran, dass die Wahlen in beiden Ländern nicht lange zurückliegen und die Opposition die Ergebnisse nicht anerkennt.
In Kenia, das derzeit die Bedingungen des IWF umsetzt, hatten beide Kandidaten im Wahlkampf große Versprechungen gemacht. Der Gewinner, William Ruto, hatte im Gegensatz zu seinem Gegner Raila Odinga allerdings von Anfang an ausgeschlossen, die IWF-Bedingungen neu zu verhandeln. Beide hatten Vorschläge zur Verbesserung der Lage gemacht: Ruto unter anderem über die Stärkung kleinerer und mittelständischer Betriebe und nationale Ernährungsprogramme, Odinga über finanzielle Entlastungen und die Möglichkeit, günstige Kredite aufzunehmen. Beides keine revolutionären Versprechen, andererseits angesichts der alltäglichen Härten besser als nichts. In Nigeria verlieren viele die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen unter einer neuen Regierung. Bereits vor den Wahlen war die Situation angespannt, teilweise wurde das Bargeld knapp. Auch in Nigeria rief vor allem die Opposition zu Protesten auf, die ohne die wirtschaftliche Situation wahrscheinlich weniger intensiv gewesen wären.
Während der Pandemie verloren ungefähr zwei Millionen Südafrikaner*innen ihre Jobs.
In Südafrika mobilisiert vor allem die drittstärkste Kraft im Parlament, die linken Economic Freedom Fighters (EFF). Im März rief die Partei zum »nationalen Shutdown« auf. Zum völligen Stillstand kam es nicht, doch die großen Demonstrationen sorgten bei der Regierung dennoch für Nervosität. Im ganzen Land sollen noch bis Mitte April Zehntausende Polizist*innen, unterstützt von 35.000 Soldat*innen, für »Ruhe sorgen«. Das Land erlebt gerade verstärkt Stromausfälle, der nationale Energiebetreiber Eskom schafft es nicht, Südafrikaner*innen weitflächig mit seinen alten Kohlekraftwerken zu versorgen. Trotzdem sind die Energiepreise gestiegen, wie die Preise für alles andere auch: Lebensmittel, Benzin und sogar die Gesundheitskosten. Die Teuerungen treffen auf eine ohnehin prekäre Lage. Während der Pandemie verloren ungefähr zwei Millionen Südafrikaner*innen ihre Jobs. »Wir können keine Kompromisse machen, wenn wir wissen, dass 14 Millionen Menschen gezwungen sind, eine Mahlzeit am Tag auszusetzen«, zitiert der Sender DW Zwelinzima Vavi, den Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes South African Federation of Trade Unions, auf einer Demonstration.
In Kamerun gingen am 8. März Tausende Frauen auf die Straßen, um ebenfalls gegen die Teuerungen zu demonstrieren. Wie der US-Sender Voice of America berichtet, bemängelten sie die unzureichenden Maßnahmen der Regierung, die zwar den Mindestlohn erhöht hatte, aber bei weitem nicht genug, um die Teuerungen auszugleichen. Die Regierung verweist auf Russlands Überfall auf die Ukraine. Ein Minister erklärte, die Menschen müssten sich an die Teuerungen gewöhnen, die Regierung halte die Menschen immerhin dazu an, mehr Lebensmittel im eigenen Land anzubauen. Die Preise der Düngemittel sind jedoch – ebenfalls als Konsequenz des russischen Krieges – um 60 Prozent gestiegen. Unter solchen Bedingungen können landwirtschaftliche Outputs ohne massive Subventionen nicht erhöhen werden. Institutionen wie die UN-Entwicklungsorganisation fordern Staaten dazu auf, soziale Ausgaben zu erhöhen – doch wer legt sich mit einem IWF-System an, das seit den 1990er Jahren nur mächtiger geworden ist? Länder, die bei anderen hoch verschuldet sind, haben nur wenig Raum, zu manövrieren und zu verhandeln. Dabei bleiben mögliche steuerliche Einkommensquellen unangetastet, wie beispielsweise die profitablen multinationalen Unternehmen.
Globale Mobilisierungen
Es ist mehr in der Luft als Tränengas, das gilt nicht nur für die Länder auf dem afrikanischen Kontinent. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York vom Dezember letzten Jahres untersucht Proteste gegen Teuerungen zwischen November 2021 und Oktober 2022 und kommt zu dem Schluss, dass es in diesem Protestzyklus eine größere Anzahl an Protesten als 2008 (Weltwirtschaftskrise) und 2011 (arabische Revolutionen, Occupy-Bewegung) gegeben hat. Die Studie zählt 12.500 Proste in 150 Ländern auf allen Kontinenten.
Dieser Zyklus könnte auch länger sein, je nachdem, wann der Anfang angesetzt wird: Beginnt er nicht vielleicht schon vor 2021? Zum Beispiel im Jahr 2019, als in Chile, Ecuador, Iran und anderswo spontane Proteste gegen Preissteigerungen aufgeflammt waren? Gehören die Black-Lives-Matter-Proteste gegen Polizeigewalt dazu? Auffällig ist, dass solche Proteste überall stattfinden, sei es in Ländern mit parlamentarischen oder autoritären Systemen und dass Polizeigewalt ein wiederkehrendes Thema ist, ob in Frankreich oder Uganda.
Zurück in Kampala. Seit Beginn der Pandemie gibt es immer wieder Störungen in den Lieferketten. Davon war auch die ugandische Regierung betroffen, die lange auf eine Ladung von Polizeipanzern und Mannschaftswägen warten musste, 65 an der Zahl, mit weiteren auf dem Weg. Die brandneuen und martialisch aussehenden Fahrzeuge, zum Teil vom Fließband einer kanadischen Firma, kosteten mehrere Millionen Dollar. Die präventive Maßnahme soll die Opposition davon abhalten, wie im Nachbarland zu Demonstrationen aufzurufen. Der IWF hat gegen diese staatlichen Ausgaben nichts einzuwenden, die Ausschüttung der Gelder läuft für Uganda wie geplant weiter. Doch wie sich schon seit 2019 gezeigt hat, kann auch eine seit Jahrzehnten regierende Partei wegen eines Auslösers, so klein der auch sei, zu Fall gebracht werden.