Erste Reihe des Widerstands
Wie trotzen die Menschen in Kolumbien der Gewalt? Ein Besuch bei den Blockaden der Primera Línea in Cali
Von Mayo Calle
Am 28. Mai kündigte Kolumbiens Präsident Ivan Duque die »vollständige Militarisierung und den Einsatz aller Mittel« zur Niederschlagung des Streiks an. Der Streik, das sind die landesweiten Proteste und Blockaden, die einen Monat zuvor mit Demonstrationen gegen eine Steuerreform begannen und sich zu einer Massenbewegung gegen die brutale Ungleichheit, Korruption, staatliche Gewalt und Perspektivlosigkeit ausgeweitet haben: zum »Paro Nacional«, dem nationalen Generalstreik.
Die Räumung der Blockaden hat für die Regierung oberste Priorität. Seit der Ankündigung Duques rollen noch mehr Panzer durch die Städte, Militärpolizist*innen mit Maschinengewehren patrouillieren, Bewaffnete in Zivilkleidung feuern Schüsse auf Protestierende ab. Mittlerweile sind allein in Cali und Umgebung mehr als 60 Menschen gestorben, rund 200 gelten als verschwunden. Dabei hofft man fast, die Verschwundenen nicht zu finden, denn zu viele wurden tot, mit säureverätzten Gesichtern in Flüssen und an Landstraßen entdeckt. Täglich gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen, und Menschen sterben. Nicht selten war ich eben noch an einem Blockadepunkt, um Informationen über Menschenrechtsverletzungen aufzunehmen, um Minuten später von Schüssen und Toten eben dort zu erfahren. Der kolumbianische Staat und seine paramilitärischen Helfer haben die demokratische Maske fallen lassen. Trotzdem und gerade deshalb nehmen die Proteste weiter zu.
Die Blockade am Puerto Resistencia
Puerto Resistencia (auf deutsch: Hafen des Widerstands), einer der größten Blockadepunkte, befindet sich im Osten der tropischen Zwei-Millionen-Metropole Cali. Hier ist hinter brennenden Barrikaden und Menschenketten eine befreite Zone entstanden, eine autonom organisierte kleine Welt. Und das mitten in einem der angeblich gefährlichsten Viertel Calis, stadtbekannt als Angstraum aufgrund zahlloser bewaffneter Überfälle, Morde und Bandenkriege.
Jetzt wird der Zugang zur größten Kreuzung von Vermummten bewacht, der sogenannten »Primera Línea«. Die Primera Línea, die »erste Reihe«, ist, ähnlich wie im chilenischen Aufstand (ak 656), der militante Arm des Protests, sie verteidigt die Blockaden bei Angriffen der Polizei und des Militärs. Ihre Aktiven organisieren sich in Kleingruppen, jeweils nur eine Person kennt die jeweils anderen Sprecher*innen. Sie agieren vermummt und mit selbstgebauten Schilden aus Verkehrsschildern oder Tonnen. Unter den Primeras Líneas gibt es auch städteübergreifend Austausch. Nur eine kleine Minderheit war vorher politisch organisiert.
Statt Angst oder Ablehnung gegenüber den Vermummten oder den Blockaden zu bekunden, bedanken sich die meisten Fußgänger*innen beim Passieren. »Unsere Jugend kämpft hier endlich für etwas Sinnvolles, für die Würde und die Zukunft«, erklärt eine Seniorin. Das ist keine Einzelmeinung; mittlerweile unterstützt eine Mehrheit der Anwohner*innen den Protest. Viele Menschen bieten ihre Hilfe an, machen Sandwiches, bringen Kaffee, organisieren medizinische Versorgung. Die Blockadepunkte sind so auch zu einem sozialen Auffangbecken geworden, es gibt dreimal am Tag warmes Essen für hunderte Menschen, niemand wird abgewiesen. Zudem wird jedes Wehwehchen versorgt, von durch Polizeiwaffen verursachten Schusswunden bis zum Keuchhusten und der eitrigen Wunde eines Obdachlosen. »Niemand hier im Viertel ist krankenversichert«, erklärt Claudia, eine junge Studentin, die in der Primera Línea organisiert ist. »Einen Arzt kann niemand bezahlen.«
Die Blockaden sind zu einem sozialen Auffangbecken geworden, es gibt dreimal am Tag warmes Essen, niemand wird abgewiesen.
Aber nicht nur die Versorgung eines vom Staat vollkommen vernachlässigten Viertels wird hier gemeinschaftlich organisiert, der Protest spendet auch Sinn. »Zum ersten Mal im Leben weiß ich, wofür ich aufstehe«, erzählt ein junger Mann aus der Primera Línea. Aufgaben werden auf Asambleas gemeinsam durchgesprochen und verteilt. Durch die Teilnahme an den Protesten erleben viele Menschen Anerkennung und Respekt von ihren Nachbar*innen. Manchen wurde vermutlich noch nie so oft gedankt und auf die Schulter geklopft. Die als Vandal*innen und Kiffer*innen stigmatisierten Jugendlichen erleben hier, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
»Sowas hat Kolumbien noch nie erlebt«, resümiert Claudia nach fast fünf Wochen permanenter Präsenz an ihrem Blockadepunkt. Seit über 60 Jahren steckt das Land in einem Bürgerkrieg niedriger Intensität, hunderte Menschen werden jedes Jahr ermordet, Aktivist*innen, Journalist*innen und Oppositionelle leben seit jeher gefährlich. Nun hat sich der Ort der Auseinandersetzung verschoben: Der Krieg gegen die Guerilla, gegen Bauernorganisationen und Indigene wurde jahrelang hauptsächlich auf dem Land geführt. Jetzt kommt er in die Städte, weil auch die extreme Ungleichheit immer mehr ein Problem der großen Städte ist.
Über 80 Prozent der Armen leben laut Statistikamt in den fünf größten Städten des Landes. In Cali schlägt sich fast die Hälfte der Einwohner*innen unter der Armutsgrenze durch. Kolumbien hat die zweithöchste Ungleichheitsrate in Nord- und Südamerika und eine sehr geringe soziale Mobilität. Wenige Jugendliche an den Blockaden haben einen Schulabschluss oder einen festen Job. Das passt zur Statistik: Rund 60 Prozent der Jugendlichen in Cali leben von informeller Arbeit. Diese Jugendlichen, die nichts zu verlieren haben und sich schon lange vom Staat im Stich gelassen fühlen, sind bei den Protesten stark vertreten. Und sie repräsentieren einen wachsenden Teil der Kolumbianer*innen. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der FARC-Guerilla Ende 2016 werden auch die Städter*innen immer stärker mit der aus dieser Armut resultierenden Gewalt konfrontiert. Seitdem wurden in Kolumbien mehr als 1.000 Aktivist*innen und ehemalige FARC-Kämpfer*innen ermordet.
Trotzdem lässt sich das, was aktuell passiert, nicht als Elendsaufstand im engeren Sinne beschreiben. Denn auch die von Verarmung bedrohte Mittelschicht, die von der Vorgängerregierung unter Nobelpreisträger Juan Manuel Santos so umworbene »Industria Naranja« (orangefarbene Industrie), die Kreativ- und Dienstleistungswirtschaft, ist ganz vorne mit dabei. Täglich werden Kulturveranstaltungen organisiert, Konzerte und Tanzkurse veranstaltet, Wandbilder gemalt, Künster*innenkollektive geben Workshops in Siebdruck und Malerei. Autor*innen und Journalist*innen bringen den Menschen an den Blockaden Schreiben und Lesen bei und bestücken die neuen Volksbibliotheken mit Literatur, Kinderbüchern und Lehrmaterialien.
Selbstorganisierung gegen die Gewalt
Seit dem 28. April haben Gruppen Vermummter die Polizei aus mehreren kleinen Stadtteilwachen vertrieben. In einigen dieser Stationen wurden Kulturräume eingerichtet. »Kultur statt Polizei. Bildung statt Repression«, hat jemand über den Eingang der neuen Volksbibliothek in Puerto Resistencia geschrieben. Dazu kommt die massenhafte Beteiligung von Organisationen von Indigenen und Afro-Kolumbianer*innen, von Gewerkschaften und ganzen Lehrer*innenschaften der öffentlichen Schulen. Sowohl für viele Jugendliche als auch für die Unterstützer*innen ist der Protest trotz des Chaos aus Gewalt, Übergriffen der Polizei, Folter und willkürlichen Festnahmen daher ein Moment der Hoffnung.
In Siloé, einem anderen Blockadepunkt am Fuß der Berghänge am westlichen Ende der Stadt, wird gerade eine Gedenkmesse für Carlos und Gregorio gefeiert. Beide waren erst zwei Tage als verschwunden gemeldet gewesen, als ihre Leichen an einer Landstraße gefunden wurden – mit Folterspuren. »Für jeden unserer Toten wird einer von ihnen sterben«, ruft einer der Vermummten auf der Messe und bekommt lautstarken Zuspruch. Aber auch Gegenwind von Angehörigen und Vertreter*innen der Primera Línea. Sie lehnen diese Rachelogik ab, die typisch ist für Banden und Drogenhandel ist.
Seit Beginn der Proteste Ende April wurden zwischen sieben und 22 Menschen ermordet, wird mir nach der Veranstaltung erklärt, wahrscheinlich von staatlichen und parastaatlichen Einsatzkräften. »Das ist für Siloé wenig«, kommentiert Raymondo von der Volksküche des Blockadepunkts: »Normalerweise bringen sich hier die Banden untereinander um.« Diese Gewalt ist seit der Zeit der Drogenkartelle allgegenwärtig. Die Bandenkonflikte in »normalen Zeiten« kosten mehr Leben als die Proteste. »Die unsichtbaren Grenzen der Drogenbanden existieren jetzt nicht mehr«, erklärt der Protestkoch. Ein Waffenstillstand in einem der gefährlichsten Viertel Calis – und alle verbünden sich gegen die (para-)staatliche Repression.
Kolumbien befindet sich seit der Gründung der Guerillagruppen in den 1960er Jahren in einem militärischen und politischen Patt. In all den Jahren hat es weder eine der Guerillas geschafft, die Macht zu übernehmen, noch hat irgendeine Regierung den Kampf gegen den Widerstand gewinnen können, egal, wie viel Gewalt sie mobilisierte. Die Kriegslogik, mit der die rechte Regierung unter Präsident Duque gegen die Guerilla vorgeht, wird nun auf den Protest als inneren Feind übertragen. Aber die Regierung wird diese Proteste militärisch nicht niederschlagen können, zu groß ist die Unterstützung in der Bevölkerung. Wird es also zu Verhandlungen kommen?
»Es gibt nichts zu verhandeln«
Raymondo blickt von seinem riesigen Topf auf, er hat wenig Hoffnung in die Gespräche: »Was sollen wir verhandeln? Den Rücktritt von Duque? Dann kommt jemand anders. Eine Bildungsreform? Dann wird sie nicht umgesetzt.« Für ihn und viele andere geht es längst um weit mehr.
Mittlerweile ist das Mittagessen fertig, und Raymondo verteilt Bohnen, Fleisch und Reis auf die mitgebrachten Teller, abgeschnittenen Plastikflaschen und alle möglichen zum Teller improvisierten Gegenstände. Sogar Salat gibt es. »Ich habe noch nie so gut gegessen wie hier«, sagt ein Mädchen in der Schlange und grinst Raymondo an. Der fragt mich: »Wenn das für die meisten Protestierenden doch das einzige Essen am Tag ist, wo sollen wir denn da anfangen zu verhandeln?«
Das sieht auch Claudia am anderen Ende der Stadt so: »Wir wollen einen Sturz des parastaatlichen Regimes, eine transparente Regierung, Demokratie.« Und sie hofft, dass nach der extremen Gewalt der letzten Wochen nun auch internationalen Institutionen klar werden muss: Mit diesem Regime wird es keinen Frieden geben. Wie Claudia und Raymondo haben viele Kolumbianer*innen das Vertrauen in den Staat verloren. Besonders in Cali und der Provinz Valle de Cauca, einem Epizentrum des Drogenhandels mit seinen teils mit dem Staat verflochtenen bewaffneten Akteuren und ihrer Strategie, Angst und Terror zu verbreiten. Auch deshalb ist die Stadt das Zentrum des Protests.
In Cali soll nun dennoch zwischen der Bewegung und der lokalen und nationalen Regierung verhandelt werden. Doch die Gespräche laufen holprig an und müssen ständig um ihre Legitimität fürchten. Nicht nur haben viele Protestierende grundlegende Zweifel an allen Formen der Repräsentation. Auch ist die Bewegung nicht in der Lage, in kurzer Zeit einen realpolitischen Forderungskatalog zu erarbeiten. Und seitens der Regierung gibt es keine Garantien.
»Mindestens soll die Regierung unser Überleben garantieren.« So lautete die Voraussetzung, unter der Vertreter*innen der Blockaden sich auf eine erste Gesprächsrunde eingelassen hatten. Noch während des Gesprächs mit dem Bürgermeister von Cali, Jorge Iván Ospina, Ende Mai ließ dieser die Blockaden angreifen.
Die Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) fordert seit Wochen von der kolumbianischen Regierung die Genehmigung, die Menschenrechtsverletzungen und Angriffe gegen Demonstrationen zu untersuchen. Ab der zweiten Juniwoche darf die CIDH endlich ins Land. Druck für einen Dialog kommt auch von den Botschafter*innen der EU-Länder. Doch die internationalen Interessen sind auch ein Teil des Problems. Deutschland ist einer der größten Abnehmer kolumbianischer Steinkohle – die Verbrechen rund um den Kohlebergbau sind kein Geheimnis. Die USA finanzieren seit Jahrzehnten die Ausbildung von Polizei und Militär mit der Begründung, Kolumbien im Kampf gegen den Drogenhandel zu unterstützen. Dass die Militärhilfen für den kolumbianischen Bürgerkrieg genutzt wurden und die USA bei Menschenrechtsverbrechen beide Augen zudrückten, ist ein offenes Geheimnis. Und deutsche Waffen sind in Kolumbien überall im Einsatz.