Campus-Fantasien und Schlagstöcke
Der Repression gegen propalästinensische Unibesetzungen in Deutschland ging eine verzerrte Rezeption der Proteste in den USA voraus
Von Adrian Daub und Lukas Hermsmeier
Zwischen Aufbau und Räumung des Protestcamps an der Freien Universität Berlin Anfang Mai vergingen gerade mal drei Stunden. Eine Effizienz, von der sich amerikanische Unileitungen noch etwas abschauen können – selbst die Columbia University in New York gewährte den Studierenden mehr als einen Tag, bevor sie im April mit massivem Polizeiaufgebot den Campus räumen und abriegeln ließ. Das Tempo, in dem die FU vorging, und auch die Brachialität des Polizeieinsatzes, bei dem 79 Menschen festgenommen wurden, weisen darauf hin, dass der Protest der Berliner Studierenden schon als illegitim markiert worden war, bevor er überhaupt begonnen hatte. Doch woran liegt das? Wie erklärt sich diese Bereitwilligkeit zur Repression?
Gewiss: Propalästinensische Proteste stehen bereits seit Jahren im Fokus der deutschen Behörden. Seit den Terroranschlägen der Hamas im vergangenen Oktober hat sich der Generalverdacht gegenüber Palästinenser*innen noch einmal verstärkt. Und auch Demonstrant*innen gegen die G20, Aktivist*innen der kurdischen Bewegung oder der Klimagruppe Letzte Generation haben einige Erfahrungen mit der unverhältnismäßigen Seite deutscher Staatsgewalt gemacht.
Die Kriminalisierung der deutschen Campus-Proteste hat jedoch noch einen anderen Vorlauf, nämlich die Berichterstattung der vergangenen Wochen über die Student*innenbewegung in den USA. Man wusste, wie das Treiben dort ausgesehen hatte, wie die amerikanischen Studierenden politisch drauf sind, was zu erwarten sei – und konnte entsprechend reagieren.
Aber wusste man es wirklich? Was genau wusste man? Wenn die Repression auch durch den Diskurs um die Campus-Bewegung in den USA legitimiert ist, dann ist die Frage, wie wirklichkeitsnah dieser Diskurs ist, von innenpolitischer Relevanz.
Dringendstes Ziel: Waffenruhe
Ein kurzer Überblick: Seit dem Kriegsbeginn in Gaza gibt es in den USA – anders als in Deutschland – eine große Bewegung in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung. Viele der Demonstrationen werden von jüdisch-linken Gruppen wie Jewish Voice for Peace und If Not Now angeführt, die von der US-Regierung fordern, die politische, finanzielle und militärische Unterstützung Israels zu beenden oder zumindest an Bedingungen zu knüpfen. Dringendstes Ziel ist laut der Protestierenden selber eine Waffenruhe.
Auch an Unis kam es immer wieder zu Aktionen, etwa Walk-Outs, Sit-Ins und Zeltcamps. Viele Universitäten haben mit Campus-Besetzungen im Laufe der Jahrzehnte ohnehin leben gelernt, ob es gegen die Apartheid in Südafrika ging oder um das Thema Klimaschutz. Auch in der Palästinafrage hat man mit dieser Art der non-violent resistance viele Erfahrungen.
Seit der Columbia-Besetzung am 17. April haben Student*innen an rund 200 Orten in den USA Zeltcamps errichtet – von Harvard und Yale bis an kleinere staatliche Colleges in entlegenen Gebieten. Sie wollen, dass ihre Universitäten die Geschäfte mit Unternehmen, die von Israels Krieg profitieren, abbrechen. Zum Teil wird auch ein Boykott israelischer Bildungseinrichtungen gefordert. Eine wichtige Rolle in der Organisierung spielt die Gruppe Students for Justice in Palestine, die es bereits seit 1993 gibt und die an über 200 Unis vertreten ist. Viele der Protestierenden bezeichnen sich als antizionistisch; von den jüdischen Teilnehmer*innen hört man immer wieder, dass sie sich dagegen wehren, dass der Krieg »in ihrem Namen« geführt werde. Hunderte Professor*innen, Intellektuelle und Politiker*innen haben derweil ihre Solidarität mit den Protesten erklärt.
Mit zigtausenden Teilnehmer*innen aufs ganze Land verteilt ist es die größte Campus-Bewegung in den USA seit 1968. Historisch ist sie auch in Sachen polizeilicher Gegenmaßnahmen: Mehr als 2.600 Studierende wurden bislang festgenommen. Etliche Studierende sind suspendiert worden. Der renommierte Historiker Robin D.G. Kelley schrieb in einem offenen Brief an die Columbia-Präsidentin Shafik, dass er von den »drakonischen, unethischen, illegalen und unehrlichen Aktionen« gegenüber den Studierenden entsetzt sei.
Die Proteste in Deutschland waren schon als illegitim markiert, bevor sie überhaupt begonnen hatten.
Insbesondere die Republikanische Partei und rechte Medien wie Fox News haben die Protestcamps von Anfang an als antisemitisch und pro-Hamas diskreditiert; tagelang war in den abendlichen Newsformaten von einer »judenhassenden« und »gewaltverherrlichenden« Bewegung die Rede. Grundlage dieser pauschalen Schmähung waren einzelne Fälle antisemitischer Äußerungen, von denen die meisten außerhalb der Campusse stattfanden. In manchen der Protestcamps wurde proisraelischen Student*innen der Eintritt verwehrt. Es kam vereinzelt zu Rangeleien zwischen den gegnerischen Gruppen. Doch statt sich mit den Forderungen einer in Auswüchsen problematischen, aber unter dem Strich friedlichen, vielfältigen, zerstreuten Bewegung auseinanderzusetzen, wurde der Protest als Ganzes dämonisiert. Ihrem Selbstverständnis nach liberale Kräfte machten mit, von demokratischen Abgeordneten bis hin zum Atlantic Magazine.
In Deutschland wurde dieses Narrativ in vielen Fällen einfach übernommen. Auch hier sind rechte Medien tonangebend, mit zum Teil grotesk verzerrter Berichterstattung. Die Bild etwa berichtete, dass »die Namen Yale, Columbia, Harvard und Co. für linksextreme Ideologie und islamistischen Judenhass« stünden. Später fragte die Zeitung: »Übernimmt die Hamas die Macht an den US-Unis?« Die Welt-Chefredakteurin schrieb in einem Kommentar Ende April, dass an US-Eliteuniversitäten »die 30er-Jahre in Deutschland« nachgespielt würden.
Auch linksliberale Medien machten mit. Die taz publizierte innerhalb von sechs Tagen gleich drei Kommentare zu den Protesten an der Columbia University, in denen die Bewegung als solche verurteilt wurde. »Mit einem friedlichen Protest haben die StudentInnenproteste an der Columbia-Universität in New York jedenfalls nichts zu tun«, hieß es dort. Selbst Angriffe auf die Studierenden werden der Bewegung mindestens indirekt angelastet. Nachdem Anfang Mai Gegendemonstrant*innen mit Baseballschlägern und Feuerwerkskörpern auf Studierende der University of California in Los Angeles losgingen, fasste der Deutschlandfunk zusammen: »Die Studentenproteste in den USA wegen des Gaza-Kriegs sind weiter eskaliert.«
»Wokeness« und »little Gazas«
Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir behaupten nicht, dass man bei den vielen Tausenden Demonstrant*innen keine fehlgeleiteten und böswilligen Aussagen vernehmen kann, oder dass in den vergangenen Wochen keine antisemitischen Sprüche zu hören waren, oder dass die Forderungen der Studierenden allesamt produktiv seien. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Taktiken der Bewegung ist genauso unerlässlich wie eine klare Ablehnung menschenfeindlicher Aussagen. Aber in der Berichterstattung über die Student*innenproteste in den USA blieb es eben nicht dabei. Es wurde vielmehr ein Bild gezeichnet, das wenig mit der Realität zu tun hatte. Es kam zu Projektionen und Verzerrungen, die dann wiederum als rhetorische Untermauerung für Repressionen in Deutschland herangezogen wurden. Wer eine überwiegend friedliche Antikriegsbewegung in die Nähe Nazideutschlands rückt, entfernt sich von jeder journalistischen Professionalität und relativiert in der Tat auch den Antisemitismus.
Nicht nur die facettenreiche, uneindeutige Realität on the ground wurde gemeinhin in Schablonen gezwängt. Unter der Hand wussten die deutschsprachigen Beobachter*innen auch ganz genau, wie den Protesten zu begegnen sei. Camps müssten verboten, Student*innen kriminalisiert werden; Polizeigewalt wurde nicht nur legitimiert, sondern manchmal sogar gefordert. »Die Entscheidung der Universitätsleitung in Manhattan, wie auch andernorts, klare Sanktionen gegen die antiisraelischen Proteste zu verhängen, war völlig richtig«, hieß es in der taz.
Allein schon von »pro-Hamas Demonstrationen« zu sprechen, wie es ein bekannter ORF-Journalist tat, enthält eine implizite Empfehlung, wie auf diese Demonstrationen zu reagieren sei. Die Hamas ist auch in den USA eine illegale Terrororganisation, die lässt man nicht auf dem Rasen vor der Uni-Bibliothek kampieren. Und auch die Überschrift, die die Süddeutsche Zeitung dem Bericht ihres US-Korrespondenten verpasste – »Außer Kontrolle« – enthält einen Ruf nach, nun ja, Kontrolle.
Genau die gab es dann auch: der Militarisierung der Campusse, der Welle von Festnahmen und Exmatrikulationen, hatte die deutschsprachige Berichterstattung gewissermaßen das Wort geredet. Das ist insofern egal, als der Chancellor der University of California, Los Angeles, UCLA, oder die Präsidentin der Columbia wahrscheinlich (und zum Glück) nicht die Welt lesen. Aber dann kamen eben die Proteste in Berlin Dahlem…
Interessant ist, dass konservative bis rechte Medien den Transfer USA-Deutschland selbst beschreiben, nur eben auf die angeblich pauschal antisemitische Bewegung bezogen. »Was nun in Amerika eskaliert, ist in Deutschland in seinen Anfängen längst zu beobachten«, hieß es Ende April in der Welt. »Ausgerechnet an amerikanischen Elite-Unis tobt ein judenhassender Mob gegen Israel. Und nun droht die Hass-Bewegung Deutschland zu erfassen!«, war in der Bild zu lesen. Diese Warn-Dynamik ist mittlerweile gut eingeübt: Genau in diesem Ton haben seit Jahren rechte und Mainstream-Medien erst »das Gift der Identitätspolitik«, dann linke Cancel Culture, zuletzt eine Wokeness-Welle beschworen, die »nun« »droht«, Deutschland zu »erfassen«. Jetzt sollen es die »little Gazas« (so der Trumpistische US-Senator Tom Cotton) sein, die aus den USA nach Deutschland importiert werden.
»Der Campus« sagen, Harvard denken
Für die Entwicklung in den USA (von der in Gaza ganz zu schweigen) hat es keine große Bedeutung, ob und wie die deutsche Öffentlichkeit zu amerikanischen Uni-Protesten informiert wird. Aber wer sich Artikel und Reden deutscher Zeitungen und Politiker*innen im letzten halben Jahr ansieht, der*die merkt schnell: Verweise auf »den Campus« und die beschworenen Missstände kommen häufig vor, wenn Zensurmaßnahmen überlegt werden. Manchmal ist mit »dem Campus« sicherlich die Humboldt Universität in Berlin gemeint – aber häufig legt der Kontext nahe, dass der*die Redakteur*in oder der*die Politiker*in eben an Columbia, Harvard oder Berkeley denkt.
Innenpolitische und vielleicht sogar außenpolitische Schritte staatlicher deutscher Organe werden mit Stories von US-Campussen untermauert. Symptomatisch sind diesbezüglich die Aussagen von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). »Das Ausmaß an Israel- und Judenhass an zahlreichen westlichen Universitäten ist unerträglich«, sagte sie ein paar Tage vor dem Protest an der FU. Ein paar Tage nach der Räumung machte Stark-Watzinger dann bei der Denunziationskampagne der Bild gegen diejenigen Lehrenden mit, die die Polizeigewalt kritisiert hatten.
Eine sachgemäße Berichterstattung zu den Campus-Protesten ist also nicht nur an sich wichtig – sie ist vielmehr ethisch gesehen unabdingbar. Eine Öffentlichkeit, die sich mit Horrorstorys aus Übersee die selbst verantworteten Einschnitte in Freiheiten schmackhaft zu machen versucht, die sie angeblich so hochhält, ist vieles – aber mündig und souverän ist sie nicht.