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Polish Stonewall

In Polen eskaliert nach der Präsidentschaftswahl die Polizeigewalt gegen Queers

Interview: Daria Kinga Majewski

Demonstrant*innen protestieren gegen die gewaltsame Festnahme der Aktivistin Margot. Ende August kam Margot wieder frei. Foto: Spacerowiczka / Facebook

Kurz nach der Wiederwahl des Rechtspopulisten Andrzej Duda zum polnischen Präsidenten im Juli 2020, kam es Anfang August während queerer Proteste in Warschau zu massiver Polizeigewalt gegen LGBT-Aktivist*innen. Die Ereignisse werden als »Polish Stonewall« bezeichnet – eine Anlehnung an die Polizeigewalt gegen vor allem Transfrauen of Colour in New York und die daraus folgenden Ausschreitungen um das Stonewall-Inn im Jahr 1969, welche als der Beginn der modernen queeren Bewegung gelten. Ein Interview mit den Aktivist*innen Pawel Matusz und Kamila Kurylo.

In Polen ist einiges los: die Wahl des rechtsextremen Andrzej Duda zum Präsidenten und die darauffolgenden Proteste von LGBTs. Was ist passiert?

Paweł: Die Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwosc (PiS) hat mit ihrem queerfeindlichen und nationalistischem Wahlkampf Wähler gefangen. Duda entmenschlicht LGBTs mit Hilfe antikommunistischer und faschistischer Aussagen und legitimiert damit Gewalt gegen sie. Es gibt Berichte von verstärktem Mobbing an Schulen und queerfeindlichen Attacken auf der Straße. Seit Anfang August versammeln sich Nationalisten unter Fenstern, die eine Regenbogenflagge ausgehängt haben, und überwachen die Bewohner*innen. Türen wurden beschädigt und Schlösser aufgebrochen. Die zunehmende Homo- und Transfeindlichkeit in Polen lässt sich nur mit Blick auf die 1990er Jahre verstehen. Tadeusz Mazowiecki, polnischer Premier von 1989 bis 1990 und Schlüsselfigur der polnischen »demokratischen« Opposition, führte Religion als Unterrichtsfach wieder ein, gestand der Kirche wesentliche Privilegien zu und setzte das Abtreibungsverbot durch. Neoliberale Regierungen unter Donald Tusk legten unter anderem einen staatlichen Feiertag fest, der den antikommunistischen Untergrund in Nachkriegspolen zelebriert: das ist Verherrlichung von Faschisten und Mördern von Jüdinnen und Juden. PiS ist scheiße, aber man darf nicht vergessen, dass nicht nur PiS den polnischen Faschismus aufgebaut hat, sondern dass große Teile der Gesellschaft und Politik diesen Prozess seit Jahrzehnten mitverantworten.

Ihr wart beide bei den Protesten Anfang August in Warschau. Was war da los?

Kamila: Ich war von Anfang an bei den Protesten am 7. August dabei. Margot, eine der beiden Gründerinnen des Kollektivs »Stop Bzdurom« sollte wieder verhaftet werden: Ihr wurde vorgeworfen, einen der Busse einer fundamentalistischen katholischen Gruppe beschädigt zu haben. Diese fahren ungestraft durch Warschau und hetzen gegen LGBTs mit Sprüchen wie »Was LGBTs deinen Kindern beibringen wollen: Masturbation für Vierjährige, Einvernehmen zum Sex bei Sechsjährigen, erste sexuelle Erfahrungen und Orgasmus bei Neunjährigen«. Aus den Lautsprechern tönt außerdem: »Tausende Kinder werden in westeuropäischen Ländern Opfer von homosexueller Pädophilie.« Wir haben vor den Räumlichkeiten der »Kampania Przeciw Homofobii« (Kampagne gegen Homophobie), wo Margot auf ihre Festnahme wartete, protestiert. Nachdem sich Margot zunächst freiwillig stellte und die Polizei sich weigerte, sie mitzunehmen, beschlossen wir, gemeinsam mit Margot zum Krawoskie Przedmiescie (Krakauer Vorstadt – Ein Straßenzug in der Warschauer Innenstadt) zu marschieren. Als wir dort ankamen, zerrte ein Zivilpolizist Margot brutal in ein nicht gekennzeichnetes Auto. Demonstrant*innen versuchten erfolglos, den Wagen zu blockieren. In den darauffolgenden Tumulten kam es zu wahllosen Verhaftungen, auch von Passant*innen. Die Polizei ging brutal vor: schubste uns, schlug uns ins Gesicht, zerrte uns über den Boden. Pawel und ich halfen einander einige Male, wenn die Polizei versuchte, eine*n von uns in einen Wagen zu zerren. Wurde eine Person tatsächlich einkassiert, versuchten wir noch schnell, nach ihrem Namen zu fragen, denn niemand wusste, wohin sie gebracht wurden.

Paweł Matusz und Kamila Kuryło

Paweł Matusz ist im Netzwerk »Polish Stonewall – Solidarity Leipzig« organisiert. Er ist Kommunist, LGBT-Aktivist und in der Jugendarbeit tätig. Er beschäftigt sich mit dem Thema polnischer Antisemitismus.
Kamila Kuryło ist Soziologin, Aktivistin und Redakteurin beim Informationsportal »Codziennik Feministyczny« (Feministische Alltagszeitung) in Warschau. Kamila setzt sich außerdem für die Gestaltung inklusiver, intersektionaler, sich kapitalistischer und neoliberaler Logik entziehender und selbstverwalteter Räume ein.

Kamila, du wurdest verhaftet und hast später von Polizeigewalt auf den Wachen berichtet, unter anderem gegen eine mitinhaftierte transgeschlechtliche Frau.

Kamila: Ja, die Polizei verhaftete mich und drei weitere Frauen, darunter eine trans Frau. Tatsächlich musste man mich später sehr lange suchen, denn das mir rechtlich zustehende Telefonat wurde untersagt, auch hatte ich keinen Kontakt mit einem Rechtsbeistand. Die Polizei beschimpfte uns, vor allem die transgeschlechtliche Frau. Sie nannten sie »es«, misgenderten sie und lachten sie aus. Wir wurden untersucht: Frauen von Polizistinnen, Männer von Polizisten. Die transgeschlechtliche Frau bat darum auch, von einer Frau untersucht zu werden. Diese Bitte wurde ihr ausgeschlagen, stattdessen verdrehten sie ihr die Hände auf den Rücken und legten ihr Handschellen an. Es war schrecklich. Wir konnten die ganze Zeit ihre Schreie aus einem anderen Zimmer hören. Als sie zurückgebracht wurde, erzählte sie davon, dass mehrere Polizisten sie festhielten, während einer sich ihre Genitalien anschaute und anfasste. Dann kamen die Polizisten ein zweites Mal und wiederholten die Tortur mit ihr. Als wir sagten, das sei sexualisierte Gewalt und einen Krankenwagen forderten, sagten die Polizisten: »Selbst Schuld, wenn man so krank ist.« Obwohl ich auf Medikamente angewiesen bin, verweigerte man mir diese. Man bot uns in den ersten 24 Stunden nur einmal Wasser an. Später, nachdem eine der engagierten Abgeordneten, die sich die ganzen zwei Tage für die Demonstant*innen und Verhafteten einsetzte, auf unsere Polizeiwache kam und sich mit mir unterhielt, bot man mir Essen und auch medikamentöse Versorgung an. Aber ich beschloss, nichts anzunehmen, bis man mich entließ. Als ich nach fast zwei Tagen endlich entlassen wurde, ging ich mit meinen Engsten nach Hause, wusch mich, und dann gingen wir zu Solidaritätsdemo für die noch Inhaftierten.

Vor allem transgeschlechtliche und nicht-binäre Menschen stehen aktuell im Zentrum eines weltweiten, queerfeindlichen Kulturkampfes. Warum ist das so?

Paweł: Bei queerfeindlicher Gewalt geht es nicht nur um die sexuelle Orientierung, sondern insbesondere um den Geschlechtsausdruck. Hier hat sich etwas verschoben. PiS-Politiker*innen sprechen davon, dass sie sich nicht an normalen Schwulen und Lesben stören würden, sondern an jenen, die Geschlechternormen verletzen. Diese Haltung reicht bis ins linke Lager hinein. Der Kulturkampf, der in Polen von Hetze gegen LGBTs, über Fehlinformationen zu Abtreibung bis zur Ablehnung der Istanbuler Konvention (1) reicht, ist eng verwoben mit dem Klassenkonflikt. Wie man in den USA, Russland, Polen und Ungarn deutlich sehen kann, werden Interessen gegeneinander ausgespielt. Hier spielen auch antisemitische Stereotype und Verschwörungsideologien eine wesentliche Rolle. Zum Beispiel die Erzählung vom »kinderraubenden Juden«. Mit der Übertragung solcher Bilder auf queere Personen wird gegen Sexualaufklärung an Schulen mobilisiert und der anti-LGBT-Backlash angefeuert. Man darf diese Entwicklungen jedoch nicht nur Osteuropa und Ostdeutschland zuschreiben. Es ist das kapitalistische und nationale Kontinuum, das rechte Politiken überall stärkt und ihre Vertreter*innen in die Parlamente bringt, wo sie gegen LGBTs hetzen. Die PiS, genauso wie andere rechte Parteien, hat sich ein Image als Beschützerin der traditionellen Familie aufgebaut. Aktivist*innen, die sich für die Rechte von transgeschlechtlichen, nicht-binären und nicht-genderkonformen Menschen einsetzen, sind für sie ein Mittel zum Zweck, um ihre politische Vormachtstellung zu stabilisieren. Transgeschlechtliche und nicht-binäre Menschen sind zum Feindbild erklärt worden, und genau deshalb müssen wir weltweite Bündnisse schmieden, Widerstand leisten und uns geschlossen hinter Transaktivist*innen stellen!

Daria Kinga Majewski

Daria Kinga Majewski ist Aktivistin, Essayistin und Autorin. In ihrem Schreiben geht sie auf die Suche nach einer gemeinsamen Stimme in der polyphonen Erfahrung transweiblicher Menschen. Sie versucht außerdem, Grenzen – nationale, sprachliche, sexuelle, geschlechtliche – und ihre Auswirkung auf Individuen zu verstehen. Sie arbeitet zu den Themen Feminismus und Geschlechtergeschichte.

Anmerkung:
1) Die Istanbuler Konvention ist ein »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«. Polen hat das Abkommen 2015 ratifiziert.