Perus längste Woche
Nachdem Massenproteste einen Putsch beendeten, öffnet sich in dem lateinamerikanischen Land die Chance für grundlegende Alternativen
Was sich Anfang November in Peru vollzog, nannte der Journalist Gustavo Gorriti »die längste Woche« in der Geschichte des Landes. Viele beschreiben, dass sie Peru im Anschluss an die massiven Proteste nicht wiederkennen. Wo vor kurzem noch die aufgezwungene Lethargie neoliberaler Alternativlosigkeit herrschte, entfaltet sich jetzt eine breite Debatte über die Zukunft des Landes.
Ihren Ausgang nahmen die landesweiten Proteste am 9. November. Ein Bündnis aus konservativen und neoliberalen Parteien hatte den Präsidenten Martín Vizcarra aufgrund von Korruptionsvorwürfen abgesetzt. Die Kongressabgeordneten brachen dazu mit der Verfassung. Diese sieht nämlich die Absetzung des Staatsoberhauptes allein im Fall seiner langfristigen Abwesenheit oder Unzurechnungsfähigkeit vor. Der Rechtswissenschaftler Alonso Gurmendi brachte daher die öffentliche Meinung und die der juristischen Community auf einen Begriff, als er die Vorgänge als »parlamentarischen Putsch« bezeichnete.
Die Kongressabgeordneten besaßen darüber hinaus kaum Glaubwürdigkeit für ihr Vorgehen: Gegen 68 der 105 Parlamentarier*innen, die sich am Putsch mit ihrer Stimme beteiligten, laufen derzeit Korruptionsverfahren. Die Ursache für die Ereignisse liegt also wohl eher in Reformdekreten gegen Korruption und für die Beschneidung privater Interessen im Bildungssektor, mit denen Präsident Vizcarra versucht hatte, den als nicht unbegründet erscheinenden Vorwürfen gegen ihn zuvorzukommen und populare Unterstützung zu gewinnen.
Zudem konnt IDL-Reporteros, ein unabhängiges Journalistenkollektiv, aufdecken, dass Manuel Merino, der Präsident des Kongresses, der durch die Vorgänge zum Staatsoberhaupt aufrückte, mit Spitzen des Militärs Gespräche geführt hatte, um ihre Unterstützung für den Putsch zu gewinnen.
Mit den Falschen angelegt
Doch wie es scheint, hatte das Putschbündnis nicht mit der Wucht der Proteste gerechnet. Buchstäblich in ganz Peru, an der Küste, im andinischen Hochland und in der Tiefebene des Amazonas, bildeten sich im Anschluss an die Ereignisse spontane Protestzüge. Demonstrationen, die sich in ihrer Größe und Vielfältigkeit vom Tag zu Tag steigerten und am 12. und 14. November in zwei nationalen Protestmärschen mündeten, an denen sich mehr als eine Million Menschen beteiligten – die größte Mobilisierung seit dem Ende der neoliberal-rechtspopulistischen Diktatur unter Alberto Fujimori vor 20 Jahren.
Schnell wurde klar, dass es in den Protesten um mehr als die Abwehr des Putsches ging
Wie breit die Ablehnung war, zeigte sich in den Straßen: Indigene Verbände, Gewerkschaften, linke Parteien, Menschenrechts- und Umweltorganisationen, feministische und LGBTIQ-Kollektive und viele andere mehr protestierten Seite an Seite. Hervor stach auch die Beteiligung der jungen Generation, die sich selbst als »generación equivocada« bezeichnet. Eine Anspielung darauf, dass sich das Putschbündnis mit der »falschen Generation« angelegt habe. Eine Generation, die sich weder die Demokratie nehmen lässt, noch davor zurückschreckt, die neoliberalen und gesellschaftspolitisch konservativen Selbstverständlichkeiten der politischen Klasse in Frage zu stellen.
Schnell wurde klar, dass es in den Protesten um mehr als die Abwehr des Putsches ging. Spätestens durch sie ist das gesamte peruanische Entwicklungsmodell in die Krise geraten. Covid-19 scheint hier, wie in anderen Ländern auch, schwelende Krisen vertieft und an die Oberfläche gebracht zu haben. Betrachtet man Sterblichkeit und Einbruch der Wirtschaftsleistung, gehört Peru zu den weltweit am härtesten von der Pandemie betroffenen Ländern. Die Menschen in Peru mussten schmerzlich die Überforderung eines kaputt gesparten Gesundheitssystems erfahren, während Reiche und korrupte Politiker*innen ihre Covid-Erkrankung in gut ausgestatteten Privatkliniken auskurieren konnten. Während die einen im Lockdown von ihren Kapitalerträgen zehrten, wusste die breite Mehrheit, die sich oft in der informellen Ökonomie mit dem buchstäblich täglich hart verdienten Brot durchschlägt, nicht mehr weiter.
Es überrascht daher nicht, dass sich die Proteste vor allem an der Frage der Korruption entzündeten, die Ausdruck des neoliberalen und auf die Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarprodukten ausgerichteten Entwicklungsmodells des Landes ist. Eine kleine »weiße« städtische Elite unterwirft sich darin im Bündnis mit transnationalen Konzernen außermenschliche Natur und die Arbeit von indigenen Menschen.
In auffallender Entsprechung zum chilenischen Weg von Augusto Pinochet hatte Alberto Fujimori dieses Modell in der Verfassung von 1993 festgeschrieben. Nachdem er 1992 den Kongress durch einen Putsch ausgeschaltet hatte, war der Weg frei für die ungebremste Neoliberalisierung des Landes. Die Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds setzte er mit fatalen sozialen Folgen um und verankerte die Leitprinzipien für ungezügelte Auslandinvestitionen und Ausbeutung in der seither geltenden Verfassung.
Dass das Putschbündnis eine weitere Vertiefung dieses Modelles vertrat, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Interessen dahinter lassen sich an dem von ihm bestellten rechtskonservativen Kabinettschef Ántero Flores veranschaulichen. Als dieser vor einigen Jahren gefragt wurde, ob es angesichts einer Verfassungsreform auch eine Volksabstimmung geben solle, antwortete er: »Wir werden doch nicht die Lamas abstimmen lassen.« Diese rassistische und klassistische Anspielung auf indigene Bäuerinnen und Bauern und die Arbeiterklasse wendeten diese in den Protesten kreativ gegen die herrschende Klasse. Auf einem Schild war unter anderem zu lesen: »Hier gehen die Lamas, die ihr nicht unterwerfen und erschießen konntet!«
Holzschilde gegen Schrotkugeln
Die erste Reaktion auf diese Herausforderung der alten Ordnung glich stark jenen Bildern, die schon in der globalen Protestwelle 2019, vor allem in Chile, zu sehen waren: Ohne Anlass wurden Demonstrationen massiv mit kriegsrechtlich geächtetem Tränengas beschossen, das die Polizei in Lima sogar aus Helikoptern abwarf. Sogenannte nichttödliche Waffen, etwa Patronen mit Schrotkugeln, feuerten Polizist*innen offenbar auf Anordnung höherer Dienststellen rechtswidrig nicht auf die Beine, sondern die Körper der Menschen ab. Die Konsequenz waren mehr als 100 Verletzte und zwei Tote – Brian Pintado und Inti Sotelo, die durch vier bzw. elf Schrottkugeln an Gesicht, Hals und Brust getroffen und getötet wurden.
Die massive Gewalt führte aber ähnlich wie in Chile 2019 nicht zum Ausbleiben der Demonstrationen, sondern fachte diese noch weiter an. In kürzester Zeit entwickelten die Demonstrierenden Selbstschutz und Solidarität: Feministische Kollektive schauten sich von Protestvideos aus Hongkong ab, wie man Tränengaskartuschen schnell neutralisiert, und lokale Schreinereien stellten Holzschilde gegen die Schrotkugeln zur Verfügung.
Die Bewegung greift zunehmend nach den Wurzeln der alten Ordnung und fordert einen verfassunggebenden Prozess von unten.
Nachdem die Repression erfolglos blieb, kam es zu einem Strategiewechsel. Der einflussreiche Unternehmerverband CONFIEP, der den Putsch ursprünglich unterstützt hatte und seine Generalsekretärin zur Ministerin berufen ließ, drehte den Daumen; Merino trat am 15. November nach nur wenigen Tagen im Amt zurück.
Wie gefährlich die Bewegung den im bisherigen Entwicklungsmodell verdichteten Interessen werden konnte, lässt sich an einer daran anschließenden Serie weiterer Zugeständnisse ablesen: Um die Situation zu beruhigen, berief der Kongress als Übergangspräsidenten und -vizepräsidentin bis zu den 2021 anstehenden Wahlen den Mitte-Rechts-Politiker Francisco Sagasti und die linke Menschenrechtsanwältin Mirtha Vásquez. Auf die anhaltendenden Proteste reagierte Sagasti mit der Ankündigung einer Polizeireform.
Doch die Bewegung gibt sich damit bisher nicht zufrieden, greift zunehmend nach den Wurzeln der alten Ordnung und fordert einen verfassunggebenden Prozess von unten. Dass damit ein entscheidender Schützengraben der eingesessenen Interessen in Gefahr ist, lässt sich an der Reaktion von Sargasti ablesen: Eine Abstimmung über eine neue Verfassung halte er nicht für notwendig, vielmehr gehe es um wohl dosierte Verfassungsreformen: »Ich glaube nach einer so turbulenten Zeit ist es das Wichtigste, dem Volk die Ruhe zurückzugeben.«
Ob sich die Protestbewegung damit zufriedengeben wird oder wie in Chile weiter auf einen konstituierenden Prozess drängt, ist derzeit offen. Vieles spricht dafür, dass mit der längsten Woche in der Geschichte des Landes auch die jahrelange neoliberale Lethargie in Peru zumindest vorerst ihr Ende gefunden hat. So gelang es Anfang Dezember einer im Anschluss an die Proteste entstandenen breiten Landarbeiterbewegung durch militante Streiks und Straßenblockaden, den Kongress zu zwingen, ein Gesetz aus der Fujimori-Zeit aufzuheben, das ein Arbeiten unter dem Mindestlohn ermöglicht hatte.