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»Wir positionieren uns gegen jede reaktionäre Kraft«

Sanaz Azimipour spricht über die Verbindung zwischen Jina-Revolution und Palästina-Solidarität, Vereinnahmung und wie mit ihr umgegangen werden kann

Interview: Pajam Masoumi

Foto einer Palästina-Fahne auf der steht free Palestine
Für manche ist die Forderung nach einem freien Palästina bereits antisemitisch. Doch was ist die Alternative?

In der iranischen Diaspora ist das Verhältnis zu Israel und zum Zionismus umstritten. Zu einigen pro-israelischen Demos haben säkulare Exil-Iraner*innen aufgerufen, auch Fahnen von iranischen Monarchist*innen waren zu sehen. In Iran selbst haben sich einige Gewerkschaften und Gefangene mit der pro-palästinensischen Bewegung solidarisiert und sich gleichzeitig gegen das Regime positioniert. Parallel kam es auf pro-palästinensischen Demos im »Westen« zu Solidaritätsbekundungen mit dem iranischen Regime. Aus einem Wiener Protestcamp wurde ein Livestream von PressTV, einem iranischen Propagandasender, gesendet. Warum das so ist und wie linke Kräfte sich zu reaktionären Vereinnahmungsversuchen verhalten sollten, erklärt Sanaz Azimipour.

Du bist in der Jin, Jiyan, Azadi-Bewegung aktiv. Kannst du das Chaos im Verhältnis von propalästinensischer Bewegung, Jina-Bewegung und iranischem Regime erklären?

Sanaz Azimipour: Erstmal dürfen wir nicht vergessen, dass alle sozialen Bewegungen richtig durcheinander sind. Auch Vereinnahmungsversuche durch reaktionäre Kräfte sind nichts Neues bei sozialen Bewegungen. Bei der Jina-Bewegung beispielsweise haben bürgerliche und rechte Parteien, von FDP bis AfD, in den ersten Tagen der Revolution versucht, sich auf dem Rücken der Menschen in Iran angeblich mit der Jina-Bewegung zu solidarisieren. Dieses Durcheinander in Bewegungen halte ich für wichtig, weil man sich dadurch immer wieder fragen muss: Mit wem will ich zusammenarbeiten, wer macht was, wo stehe ich innerhalb der Bewegung, wer versucht mit mir Bündnisse aufzubauen?

Auch die propalästinensische Bewegung ist keine Ausnahme. Das islamische Regime in Iran hat von Beginn an versucht, die palästinensische Befreiung zu instrumentalisieren. Es gibt in Teheran eine »Palästina-Straße«, es gibt den Quds-Tag, an dem das Regime versucht, die Bevölkerung zu Demonstrationen gegen Israel zu mobilisieren. Egal welche Regierung in Iran, sie hat immer den palästinensischen Kampf für sich vereinnahmt. Für um so wichtiger halte ich es, diese Verknüpfung aufzubrechen – das sehe ich als unsere Aufgabe. Aus linker Perspektive ist eigentlich klar, dass alle unsere Kämpfe miteinander verbunden sind, dass wir diese Kämpfe nicht von unseren Unterdrückern instrumentalisieren lassen dürfen und uns gegen jede reaktionäre Kraft stellen müssen.

Foto: privat

Sanaz Azimipour

ist Aktivist*in, Autor*in und Referent*in. Sie ist in verschiedenen Bewegungen organisiert und arbeitet sowohl akademisch als auch aktivistisch zu sozialen Bewegungen, Transnationalismus und feministischer Philosophie.

Die Jina-Bewegung ist ja sehr heterogen, also auch die Positionen zu Israel. Wie ist denn deine Position?

Ich sehe die Jina-Revolution als eine radikale feministische und antikoloniale Bewegung, deren Kern um Jiyan, also um das Leben und dessen Verteidigung geht. Ein Leben in Würde. Diesen Kern müssen wir verteidigen.  Da sehe ich auch die Verknüpfung zur palästinasolidarischen Bewegung, da sie für das Leben aller palästinensischen Menschen kämpft. Gerade deshalb halte ich es für wichtig, Solidaritätsnetzwerke zwischen unseren Kämpfen aufzubauen.

Gleichzeitig bin ich ziemlich enttäuscht über viele meiner Genoss*innen. Wie kann es sein, dass wir immer wieder diese Dualitäten reproduzieren? Als gäbe es nur zwei Positionen: Entweder pro-islamistisch oder pro-imperialistisch. Das sind genau die Dualitäten, die uns die ganze Zeit vom deutschen Staat, der iranischen Regierung und anderen Faschos in den Mund gelegt werden: Wer für die Befreiung Palästinas ist, ist pro Hamas und pro iranisches Regime. Ich denke, unser linkes Ziel muss es sein, diese Dualität aufzubrechen und aufzuzeigen: Nein, wir positionieren uns für das Leben aller und gegen alle reaktionären Kräfte. Sei es in Deutschland, sei es in Iran, sei es in Israel, sei es in Palästina.

Nach der Besetzung der Berliner Humboldt-Universität wurden Graffitis öffentlich, die zeigen, dass einzelne Büros von Mitarbeitenden mit einem roten Dreieck markiert wurden, ein Zeichen, das auch die Hamas verwendet. Schon lang wird über die Bedeutung des Begriffs Intifada oder die Parole »From the River to the Sea, Palestine will be free« gestritten, die eine sozialistische Republik oder ein völkisch-arabisches Palästina meinen kann. Oft wird der pro-palästinensischen Bewegung in diesen Debatten vorgeworfen, sie würde keine Kritik annehmen. Wie ist da deine Erfahrung?

Ja, zu all diesen Zeichen und Parolen gibt es unterschiedliche Interpretationen. Was mich stört und meiner Meinung nach jede ernsthafte Debatte über die Bedeutungen verhindert, ist diese krasse Deutungshörigkeit in Deutschland. Dass vor allem vom Staat kommt, was genau welche Parole bedeutet, ist eines der großen Probleme, wenn es um Palästina und entsprechende Begrifflichkeiten geht. Es kann zu einer langfristen Verweigerungshaltung führen, wenn die Kritik insbesondere von staatlichen Institutionen vertreten wird und entsprechend viel Macht hat.

Kannst du das genauer erklären?

Als Beispiel: Wenn auf einer Demonstration juristisch festgelegt oder von der Polizei gesagt wird, »From the River to the Sea …« bedeute die Vertreibung von neun Millionen Juden und Jüdinnen, dann ist die Debatte natürlich zu Ende. Dann kann ich, als solidarisch-kritische Person in der Bewegung, strategisch für mich keinen Raum sehen, in dem ich über diese Kritik eine Debatte führen kann, weil auf dieser Seite die Bullen und der Staat stehen, die alles kriminalisieren wollen. Dann ist klar, dass ich mich auf die Seite derjenigen stelle, die kriminalisiert werden und extreme Repressionen erleben wie Exmatrikulation, Verweigerung der Einbürgerung oder Probleme bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels.

Ich habe den Eindruck, dass viele Angst haben, von reaktionären Kräften vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden und deshalb gar nicht erst kommen.

Auf der anderen Seite, und das sage ich als Person, die sich der palästinensischen Befreiungsbewegung zugehörig fühlt, sehe ich Bündnisse mit reaktionären Kräften wie Assad-Apologeten, türkischen Nationalisten oder Islamisten. Vor kurzem war ich auf einer Nakba-Demonstration, dort waren auch Leute von der iranischen Botschaft anwesend. Nicht irgendwelche Leute, sondern wirklich welche aus dem iranischen Regierungsapparat. Und die standen neben »Queers for Palestine«, und jemand hat denen eine linke sozialistische Zeitung in die Hand gedrückt. Eines der surrealsten Dinge, die ich je gesehen habe! Das hat mich natürlich extrem gestört. Was zusätzlich belastend ist: Es wäre an vielen Stellen möglich gewesen, etwa Lauti-Durchsagen zu machen, dass auf der Demo kein Platz ist für Sympathisant*innen des iranischen Regimes, Assad-Apologeten und andere Reaktionäre. Das wurde aber nicht getan, und das kritisiere ich, auch wenn ich nachvollziehen kann, weshalb das nicht passierte.

Warum passierte das denn deiner Meinung nach nicht?

Es gibt die Angst, dass wenn man solche Aufrufe macht, klar wird, dass es eigentlich nicht viele sind, die die Bewegung tragen. Vor allem angesichts der Repression, die einen die Solidarität mit dieser Bewegung kosten kann. Wenn wir sagen »Mit denen arbeiten wir nicht, mit denen nicht« – wer bleibt dann noch? Ich sehe das anders: Klar, wenn man radikalere Positionen vertritt und Forderungen stellt, verliert man so einige, aber es kommen auch neue Verbündete dazu, an die man vielleicht vorher gar nicht gedacht hat. Ich habe den Eindruck, dass viele genau davor Angst haben, also von den reaktionären Kräften vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden und deshalb gar nicht erst kommen.

Zugleich muss man auch bedenken, gerade wenn es um Massenmobilisierungen geht, dass wir nicht vorgeben können, wer an der Demonstration teilnimmt. Bei riesigen Demos wäre es nicht möglich, immer genau die zwei iranischen Agenten zu erkennen, um sie dann rauszuwerfen. Auf den Demonstrationen die wir mit dem »Women, life, freedom«-Kollektiv organisiert haben, waren auch Monarchist*innen, Nationalist*innen und andere Faschos dabei. Was Organisator*innen machen können, ist immer wieder zu betonen, wofür sie stehen, aber nicht die Teilnehmenden zu überwachen oder zu kontrollieren.

Es gibt gewisse Parallelen in der Diskussion der palästinensischen Bewegung, mit wem Bündnisse eingegangen werden, und iranischen Kommunist*innen kurz vor der Revolution 1979. Gibt es Strategien, um die reaktionären Einflüsse und Übernahmeversuche, die es eigentlich in jeder größeren Bewegung gibt, zurückzudrängen?

Eine historische Erfahrung aus der iranischen Revolution von 1979 ist, dass wenn man anfängt, mit reaktionären Kräften Bündnisse zu schließen, mit der Idee, es sei strategisch notwendig und später werde man sie los, funktioniert das wirklich nie. Das haben wir schmerzhaft nach der iranischen Revolution sehen können. Die Tudeh-Partei, die Kommunistische Partei Irans, hat damals beschlossen, mit Chomeini zusammenzuarbeiten. Der Vorsitzende der Tudeh-Partei sagte damals, Chomeini und sie hätten Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die Ablehnung des US-Imperialismus. Die Strategie sollte sein, die Ressourcen und Macht der Anhänger*innen Chomeinis zu nutzen, um die Revolution zu erkämpfen. Durch die Revolution würde sich eine neue, soziale Gesellschaft bilden, so dass die Massen sich gegen den Islamismus erheben würden. Heute wissen wir: diese Strategie ist nicht aufgegangen. Linke Organisationen wurden zerschlagen, Kommunist*innen wurden verhaftet und verschleppt, es gab Massenhinrichtungen.

Es geht nicht nur darum, ob die Hamas eine reaktionäre Kraft ist. Es geht darum, die Bedingungen zu analysieren unter denen solche reaktionären Kräfte entstehen.

Eine weitere Position, nicht nur der Tudeh-Partei, sondern der meisten linken Parteien war, dass wenn der Klassenkampf erfolgreich ist, auch alle anderen Kämpfe automatisch erfolgreich sein werden, etwa gegen das Patriachat. Das führte dazu, das viele linke Frauen damals sagten, wenn es sein müsse, werden sie für die Revolution und den Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus auch den Tschador tragen. Bis heute fühlen sich deswegen viele Feminist*innen, die gegen den Hidschab-Zwang gekämpft haben, von ihren Genoss*innen betrogen. Auch wenn die meisten Überlebenden von damals diese Position heute selbst als Fehler anerkennen.

Gibt es dennoch einen Unterschied in der Wahl der Bündnispartner*innen vor Ort und in der Diaspora?

Aus meiner Sicht absolut. Wenn du jetzt in Gaza bist und die Bomben auf dich fallen, dann frage ich erstmal nicht, mit wem du zusammenarbeitest. Natürlich arbeitest du in dem Moment, wenn dein Leben bedroht ist, mit dem zusammen, der in diesem Moment dein Leben schützt. Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen, die unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg leben, sich reaktionären Kräften anschließen, auch wenn ich es falsch finde. Aber wir sind hier in einer ganz anderen Position: Wir können es uns leisten, Bündnisse mit progressiven Kräften einzugehen und auch den Diskurs ganz anders zu führen.

Zusätzlich sehe ich die feministische Verantwortung, in der Diaspora auf die anderen Arten der Organisierung aufmerksam zu machen. Unsere Geschwister in Palästina wissen selbst seit Jahren, mit wem sie kämpfen müssen: auf der einen Seite patriachale, reaktionäre Kräfte wie Hamas und auf der anderen Seite Besatzung, israelisches Militär und Siedler. Das ist ähnlich wie in Kurdistan, deswegen sehe ich diese Beispiele verknüpft: Auch dort befindet man sich mit reaktionären Kräften und gegen Besatzung im Kampf. Die Befreiung wird nur von unten kommen und dort sehe ich unsere Verantwortung, das Wissen und die historischen Erfahrungen einzubringen.

Es geht nicht nur darum, ob die Hamas eine reaktionäre Kraft ist, selbstverständlich ist sie das. Es geht darum, die Bedingungen zu analysieren, unter denen solche reaktionären Kräfte entstehen und Unterstützung erhalten. Es gibt eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, dass reaktionäre und rechte Bewegungen wachsen und sich etablieren, wenn das alltägliche Leben unter dem Machtmonopol beispielsweise einer Besatzung stattfindet.

Pajam Masoumi

ist in der Online-Redaktion bei ak.

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