Nüchtern bleiben
Die Einsetzung einer Expertenkommission zur Vergesellschaftung in Berlin erinnert Linke an die engen Grenzen staatlichen Handelns und populistischer Politik
Von Philipp Möller
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik prüft eine Expertenkommission Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen einer Vergesellschaftung privater Wohnungsunternehmen. Innerhalb eines Jahres erarbeitet sie eine Empfehlung an den Senat, der anschließend eine Entscheidung über die Umsetzung des erfolgreichen Volksentscheids Deutsche Wohnen und Co. enteignen fällt. Darauf verständigten sich SPD, Grüne und Linkspartei in ihrem Koalitionsvertrag, der die Grundlage für eine neue Landesregierung in Berlin bilden soll.
Die Initiative wertete den Beschluss in einer ersten Pressemitteilung als »Minimalkompromiss« und kritisierte den »Mangel an konkreten Zusagen zur Umsetzung der Vergesellschaftung«. Die Machbarkeit sei längst durch zahlreiche juristische Gutachten bestätigt. In einem Beitrag des trotzkistischen Netzwerks Marx21 heißt es: »Es geht bei der Frage nach der Umsetzung des Volksentscheids faktisch nicht mehr um die juristische Frage, sondern um den politischen Willen.« Die Forderung nach einer schnellstmöglichen Umsetzung der Vergesellschaftung ist nachvollziehbar und auch berechtigt, doch drohen die politischen Mehrheitsverhältnisse aus dem Blick zu geraten: Der Staat erscheint aus dieser Perspektive als griffiges Instrument zur Durchsetzung von Mieter*inneninteressen gegenüber dem Kapital. Demgegenüber kann ein Verständnis des Staates als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, der als ideeller Gesamtkapitalist die optimalen Reproduktionsbedingungen der Kapitalakkumulation organisiert, zu einer besseren Einschätzung der aktuellen Situation beitragen.
Angekommen in der Realpolitik
Eine kritische Analyse der Logik und Grenzen staatlichen Handelns unter kapitalistischen Bedingungen wurde bisher im Rahmen der Kampagne nur wenig diskutiert. Das ist verständlich, schließlich galt es einen Volksentscheid zu gewinnen und eine Debatte um Machbarkeit der eigenen Forderungen wirkt sicher nicht mobilisierend. Doch durch den erfolgreichen Ausgang des Volksentscheids tritt die Kampagne jetzt auf die Bühne des Staates und damit der Realpolitik. Bislang agierte sie erfolgreich auf dem diskursiven Feld und löste eine Debatte zu Enteignung und Vergesellschaftung aus, die bis weit hinein ins bürgerliche Lager reicht. Mithilfe einer populistischen Strategie und Organizing-Ansätzen bündelte die Initiative den diffusen Ärger über Wohnungsnot und Mietenexplosion im Volksentscheid. Im Gegensatz zum Mietendeckel hatte das erfolgreiche Plebiszit jedoch keinen Einfluss auf die Aktienkurse der börsennotierten Immobilienaktiengesellschaften. Auch nach dem Votum für Vergesellschaftung kaufte der Konzern Heimstaden munter weitere Wohnungen von Akelius in Berlin. Das Kapital scheint mit Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wenig Sorgen vor einer tatsächlichen Umsetzung des Volksentscheids zu haben.
Schließlich positionieren sich die beiden stärksten Parteien in der Koalition gegen eine Umsetzung des Volksentscheids. Die künftige Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und die Mehrheit ihrer Partei haben sich gegen die Vergesellschaftung ausgesprochen. Die Grünen sehen sie als letztes Mittel und wollen ein Vergesellschaftungsgesetz lediglich als Druckmittel nutzen, um die großen Wohnungskonzerne zu einem Bündnis mit sozialen Zugeständnissen zu zwingen; die Kampagne wirbt momentan gezielt für eine Umsetzung der Vergesellschaftung bei der Parteibasis von Grünen und SPD. Mit dieser Strategie hat sie einige Achtungserfolge in Form von Beschlüssen einzelner Gliederungen und Fraktionen in den Bezirksverordnetenversammlungen erzielt, die zusätzlichen Druck auf die Parteiführung ausüben. Die herrschenden Cliquen in den Parteien sind durch diese Strategie jedoch nicht umzustimmen. Auf dem Parteitag der Berliner SPD, bei dem der Koalitionsvertrag mit großer Mehrheit angenommen wurde, spielte die Vergesellschaftung keine Rolle.
Ganz im Gegenteil zum Parteitag der Berliner Linken Anfang Dezember, wo die vagen Formulierungen zur Umsetzung des Volksbegehrens im Koalitionsvertrag auf einige Kritik seitens der Parteibasis stießen. Als einzige Partei setzte sich Die Linke im Wahlkampf für die Umsetzung des Volksentscheids ein, verlor bei den Wahlen jedoch fast zwei Prozent ihrer Stimmen. Nicht wenige Mitglieder der Parteibasis befürchten einen Vertrauensverlust bei der mietenpolitischen Bewegung, sollte die Umsetzung der Vergesellschaftung in der Koalition nicht gelingen. Prominente Unterstützung bekommen sie dabei von zwei gewählten Mitgliedern des Abgeordnetenhauses, Ferat Koçak und Katalin Gennburg, die sich ebenfalls gegen eine Regierungsbeteiligung aussprechen. Die Befürworter*innen der Koalition argumentieren dagegen, dass die Partei die wichtigste Verbündete der Kampagne in der neuen Berliner Regierung wäre. Ohne Regierungsbeteiligung der Linken sänken die Chancen auf eine Umsetzung des Volksentscheids gegen null. Schlussendlich entscheidet ein Mitgliederentscheid über die Beteiligung der Linken an der Koalition. Dessen Ergebnis war bis Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Eine mehrheitliche Zustimmung gilt jedoch als wahrscheinlich.
Klar ist, dass die Linkspartei als kleinster Koalitionspartner aus einer Position der Schwäche agiert und auf einen Staatsapparat trifft, dessen Personal und Strukturen nicht auf die Umsetzung einer Vergesellschaftung ausgerichtet sind. Für politische Vorstöße sind die linken Kräfte in der Koalition auf den außerparlamentarischen Druck der stadtpolitischen Initiativen angewiesen, deren Mobilisierungsstärke selbst einen gewissen Machtfaktor darstellt. Die Kampagne und die gesamte Berliner Mietenbewegung müssen sich jedoch die Frage nach ihrer tatsächlichen Kraft stellen lassen. Zwar hat das Volksbegehren eine Mehrheit von 56,4 Prozent der abgegebenen Stimmen hinter sich vereint. Doch es handelt sich eben nur um ein Beschlussvolksbegehren ohne rechtlich-bindende Wirkung, und offenbar war das Votum für die Vergesellschaftung nicht ausschlaggebend für das sonstige Stimmverhalten der Wähler*innen. Es ist unklar, wie viele Unterstützer*innen sich wirklich eine Vergesellschaftung wünschen und wie viele nur eine sozialere Wohnungspolitik wollen.
Das Kapital scheint mit Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wenig Sorgen vor einer tatsächlichen Umsetzung des Volksentscheids zu haben.
Die SPD konnte das Stadtentwicklungsressort zurückerobern und parallel zur Expertenkommission ein Bündnis mit den privaten Wohnungskonzernen im Koalitionsvertrag festschreiben, was die Aussichten auf ihre Enteignung deutlich schmälert. Im Gegenteil bildet das geplante »Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen«, dem neben privaten Unternehmen auch Genossenschaften und die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften angehören sollen, ein Einfallstor für ein Rollback in eine wieder stärker von Investoren getriebene Stadtentwicklung. Im Vergleich zum rot-rot-grünen Koalitionsvertrag von 2016 liegt der Schwerpunkt nicht mehr in der Stärkung des kommunalen Wohnungsbaus und dem Ausbau des Mieter*innenschutzes. Stattdessen werden Zielzahlen für den Neubau festgesetzt, die nur durch vermehrte private Investitionen zu erfüllen sind. Maßnahmen zum Mieter*innenschutz sollen im Bündnis mit Vertreter*innen der privaten Wohnungswirtschaft vereinbart werden. Ausdrückliches Ziel des Koalitionsvertrags ist es, »den Wohnungsneubau und die dazugehörige Infrastruktur in der Stadt mit höchster Priorität voranzubringen, um der Zielsetzung des Neubaus von 20.000 Wohnungen im Jahr zu entsprechen«. Dabei soll »möglichst« die Hälfte der Wohnungen »im gemeinwohlorientierten und bezahlbaren Segment« errichtet werden. Eine auskömmliche Finanzierung und der notwendige strukturelle Umbau der städtischen Wohnungsbaugesellschaften wurden jedoch nicht fest vereinbart. Die anvisierte Zahl von 7.000 kommunalen Neubauwohnungen pro Jahr ist so kaum zu erreichen.
Expert*innen in die Kommission!
Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage sind die Einrichtung der Expertenkommission und ihr Auftrag zu bewerten. Dabei ist es ein Erfolg der Linken-Verhandler*innen, dass die Kommission in einem ersten Schritt nicht nur die Verfassungskonformität einer Vergesellschaftung untersucht, sondern auch rechtssichere Wege einer Vergesellschaftung benennen und rechtlich bewerten soll. Zwar haben sowohl die Kampagne als auch die Linkspartei eigene Vorschläge für ein Vergesellschaftungsgesetz auf den Tisch gelegt. Angesichts der desaströsen Urteile zum Mietendeckel und der bisherigen Praxis des Vorkaufsrechtes ist eine gründliche juristische Prüfung einer Vergesellschaftung jedoch durchaus angebracht. Sollte ein wohnungspolitisches Experiment erneut scheitern, dürfte das der gesellschaftlichen Linken teuer zu stehen kommen. Insofern gilt es, bei der personellen Besetzung der Kommission, die unter Beteiligung der Initiative erfolgen soll, tatsächlich die besten Expert*innen zu berufen, die auch die Fallstricke des Vorhabens schonungslos benennen. Politische Ideologie hilft auf diesem Terrain nicht weiter.
In einem weiteren Schritt betrachtet die Kommission wohnungswirtschaftliche, gesellschaftsrechtliche und finanzpolitische Aspekte des Vorhabens und erarbeitet eine Empfehlung an den Senat. Auf Basis der Empfehlungen sollen die zuständigen Senatsverwaltungen im Jahr 2023 »gegebenenfalls« Eckpunkte für ein Vergesellschaftungsgesetz vorlegen. Bereits am Tag nach der Wahl forderte Franziska Giffey »eine sehr, sehr ernsthafte Prüfung über Rechtmäßigkeit, Verfassungsmäßigkeit, Finanzierbarkeit und die Folgen, die das für das Land Berlin hat«. Es ist absehbar, dass in der zweiten Prüfungsphase auch die Folgen einer Vergesellschaftung für den Wirtschaftsstandort Berlin sowie wohnungspolitische Alternativen diskutiert werden.
Vermieter*innen- und Wirtschaftsverbände warnen bereits seit Beginn des Volksbegehrens vor Unsicherheiten und dem Rückgang von Investitionen. Zwar wird dieser Einwand gegen jeden Eingriff in die Kapitalverwertung ins Feld geführt. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist kann sich dieser Warnung jedoch nicht vollends entziehen, schließlich muss er die gesamtgesellschaftliche Reproduktion als Bedingung für ein reibungsloses Funktionieren der Wirtschaft sicherstellen. Dafür benötigt er die Steuereinnahmen einer florierenden Ökonomie. Gleichzeitig ist er auch dafür verantwortlich, ausreichend Wohnraum für die Bevölkerung bereitzustellen. Welche politischen Maßnahmen er dafür ergreift, ist abhängig von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und ökonomischen Rahmenbedingungen. In der Geschichte intervenierte der Staat in die private Wohnraumverwertung nur während tiefgreifender Krisen und unter Führung linker Parteien, etwa nach den beiden Weltkriegen. In Deutschland setzte der Staat unter sozial- und christdemokratischen Regierungen dabei auf eine Kombination aus politischer Regulierung durch Mietpreisbegrenzungen und der Förderung gemeinnütziger Wohnungsunternehmen. Weitergehende Sozialisierungsbestrebungen in der Wohnungsversorgung in Form von öffentlichen Wohnungsbauprogrammen erfolgten unter den Austromarxisten im roten Wien der 1920er Jahre und in Großbritannien unter den linken Labour-Regierungen 1924 und 1945. Der Koalitionsvertrag der rot-grün-roten Koalitionspartner weist dagegen mit dem dort vereinbarten Prinzip einer »Kooperation statt Konfrontation« mit den privaten Wohnungsunternehmen in eine gänzlich andere Richtung.
Die Aktiven aus der Kampagne sprachen sich trotz Kritik an der Expertenkommission und der wenig berauschenden Aussichten auf die Umsetzung des Volksentscheids mehrheitlich für die Teilnahme an ihr aus. Das ist strategisch sinnvoll, schließlich wäre eine voreilige Absage in der Öffentlichkeit nur schwer zu erklären. Zudem bietet die Kommission, die mit einer eigenen Geschäftsstelle ausgestattet wird und deren Zwischenstände transparent gemacht werden sollen, der Kampagne eine Bühne für ihr Anliegen und ihre Kritik am Senat. Sollte die Kommission tatsächlich Eckpunkte für ein Vergesellschaftungsgesetz vorlegen, dürfte das den Handlungsdruck auf die politischen Verantwortlichen im Senat deutlich erhöhen. Die Eckpunkte böten zudem eine gute Grundlage für ein weiteres Volksbegehren, das einen konkreten Gesetzesentwurf zur Abstimmung stellt, wie es bereits in Teilen der Kampagne diskutiert wird. Sollte Die Linke in die Koalition eintreten, könnte sie mit der Besetzung des Justizressorts die Erarbeitung eines Vergesellschaftungsgesetzes aktiv unterstützen. Voraussetzung dafür wäre jedoch ein rebellisches Regierungsverständnis, das den Koalitionsfrieden nicht zum höchsten Gut erklärt. Die Kampagne steht nun vor der schwierigen Aufgabe, neben der Arbeit in der Kommission die politische Mobilisierung aufrechtzuerhalten und sich in den Kiezen zu verankern. Nur wenn sich ein breites gesellschaftliches Bündnis nicht mit Formelkompromissen abspeisen lässt, sondern die Vergesellschaftung offensiv einfordert, kann die Umsetzung des Volksentscheids gelingen. Das Thema Vergesellschaftung wird Berlin also noch eine ganze Weile auf Trab halten.