»Der gemeinsame Kampf ist sehr individuell geworden«
Eine Zeit lang gab es eine internationale Organisation von Indigenen. Bedarf es dieser nicht mehr, oder erfüllen Festivals wie das Riddu Riddu in Norwegen dieselbe Funktion?
Von Gabriel Kuhn
In Port Alberni, Kanada, wurde 1974 der World Council of Indigenous Peoples (WCIP) gegründet, ein Ausläufer der Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre. Initiator war George Manuel, Angehöriger der Secwepemc Nation und Vorsitzender der National Indian Brotherhood in Kanada, die heute Assembly of First Nations heißt. Bei der Gründungskonferenz waren Vertreter*innen indigener Gesellschaften aus 19 Ländern anwesend. Die vom WCIP verwendete Definition indigener Gesellschaften lautete wie folgt: »Der Begriff ›indigene Gesellschaft‹ bezieht sich auf Gesellschaften, die in Ländern mit einer vielfältigen Bevölkerung leben, die Nachkommen der frühesten Gesellschaften dieser Länder sind und die keine Regierungsmacht haben.« Erster Generalsekretär des WCIP war der Sioux Sam Deloria, Bruder des prominenten Autors Vine Deloria Jr., dessen Hauptwerk »Gott ist rot« 1984 auf Deutsch im Trikont-Verlag erschienen ist.
Der WCIP forderte globale Rechte für indigene Gesellschaften und eine ständige Präsenz bei den Vereinten Nationen ein. Zudem sollte das öffentliche Bewusstsein über die Geschichte und gegenwärtige Situation der sogenannten Vierten Welt gestärkt werden.
Doch die Zusammenarbeit, zu der es im Rahmen des WCIP kam, hatte auch sehr konkrete Dimensionen. Als der samische Aktivist Niillas Somby 1982 nach einer missglückten Sabotageaktion gegen den Bau eines Wasserkraftwerks im Norden Norwegens vor Gericht gestellt werden sollte, setzte er sich mithilfe von WCIP-Kontakten nach Kanada ab. Dort wurde er von indigenen Gesellschaften beherbergt und schließlich von der Nuxalk Nation adoptiert. Als die norwegischen Behörden zweieinhalb Jahre später die Anklage gegen ihn fallen ließen, kehrte er nach Sápmi, wie das traditionelle Siedlungsgebiet der Sámi genannt wird, zurück.
Der WCIP löste sich 1996 in Folge interner Konflikte auf. Spricht man mit ehemals in der Organisation Aktiven, halten sie sich mit Details bedeckt. Eine nicht unwesentliche Rolle scheinen Unstimmigkeiten über die Anwendung und Verteilung der finanziellen Ressourcen gespielt zu haben.
Seit dem Ende des WCIP hat es nie wieder eine vergleichbare Organisation gegeben. Bedarf es einer solchen nicht? Ersetzen andere Formen internationaler indigener Zusammenarbeit formelle Organisierung? Oder stehen einer Nachfolgeorganisation des WCIP unüberwindbare Hindernisse im Wege?
Ein kleiner Sturm an der Küste
Um diesen Fragen nachzugehen, begab ich mich an einen Ort, an dem ich hoffte, Antworten zu finden: nach Kåfjord in Norwegen, wo jedes Jahr im Juli das Riddu-Riddu-Festival stattfindet. Kåfjord liegt 100 km östlich von Tromsø und 350 km nördlich des Polarkreises. Auch bei den Konzerten um Mitternacht scheint noch die Sonne (wenn sie denn scheint). »Riddu Riddu« ist Samisch und bedeutet in etwa »kleiner Sturm an der Küste«.
Das Festival begann 1991 mit einem Grillfest samischer Jugendlicher, die sich gegen die Zwangsassimilierung der Sámi in Norwegen auflehnten. In Norwegen lebt der Großteil der insgesamt rund 100.000 Sámi, die sich auf die Staatsgebiete Norwegens, Schwedens und Finnlands aufteilen. Auch auf der russischen Kola-Halbinsel gibt es eine kleine samische Gemeinde.
Es dauerte nur wenige Jahre, bis sich Riddu Riddu zu einem der bedeutendsten indigenen Festivals weltweit entwickelt hatte. Die Veranstalter*innen unterstützen heute mit ihrem Know-how indigene Festivals in anderen Ländern, etwa das Arctic Sounds Festival in Grönland. 2009 wurde Riddu Riddu von der norwegischen Regierung der Status eines »Knotenpunktfestivals« verliehen, was es offiziell zu einem der wichtigsten Festivals des Landes macht und großzügige Förderungen garantiert. Die diesjährige Ausgabe des Festivals wurde mit besonderer Spannung erwartet. 2020 musste das Event aufgrund der Corona-Pandemie komplett abgesagt werden, 2021 war die tägliche Besucherzahl auf 500 begrenzt. In den 2010er Jahren tummelten sich bis zu 10.000 Menschen auf dem Festival.
Das Festival begann 1991 mit einem Grillfest samischer Jugendlicher, die sich gegen die Zwangsassimilierung der Sámi in Norwegen auflehnten.
Das Festivalgelände beherbergt nicht nur samische Lavvus (die den in Mitteleuropa – vielleicht ironischerweise – besser bekannten Tipis ähnlich sehen), sondern auch eine Jurte der Tuwiner und ein Langhaus der Nisga’a. Dazu kommt das »Zentrum nordischer Völker« mit Museum, Bibliothek und Veranstaltungssaal. Jedes Jahr wird einer indigenen Gesellschaft der arktischen Region ein eigener Ausstellungsbereich auf dem Festivalgelände zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr war dieser für die Inuit Grönlands reserviert, die dort zu Musik, Tanz und Spiel einluden.
Das Programm des Festivals ist vielfältig. Die Konzerte ziehen das größte Publikum an, doch es gibt auch Film- und Theateraufführungen, Podiumsdiskussionen und Stand-up-Comedy. Zu den musikalischen Höhepunkten dieses Jahres zählten die Popband ISÁK rund um die auch als samische Aktivistin hochgeschätzte Ella Marie Hætta Isaksen sowie das Electronic-HipHop-Duo The Halluci Nation (ehemals A Tribe Called Red) von den Six Nations of the Grand River (Haudenosaunee) auf kanadischem Staatsgebiet. Die Stimmung liegt irgendwo zwischen Familientreffen, Jahrmarkt und Rockfestival. Neben traditionellen samischen Kleidern finden sich der klassische Outdoor-Look des hohen Nordens ebenso wie gefärbte Haare und Tätowierungen.
Vernetzung vs. Organisierung
Dass die Sámi um Kontakte zu anderen indigenen Gesellschaften bemüht sind, hat Tradition. Im WCIP waren sie sehr aktiv. Der zweite WCIP-Kongress – nach der Gründung in Port Alberni – fand 1975 in Kiruna statt, auf der »schwedischen Seite« Sápmis, wie man im Norden sagt. An der Bedeutung internationaler indigener Zusammenarbeit besteht auch bei den Künstler*innen und Aktivist*innen auf dem Riddu-Riddu-Festival kein Zweifel. »Es gibt nichts, was mehr inspiriert als die Zusammenarbeit zwischen indigenen Gesellschaften«, meint etwa der samische Aktivist Beaska Niillas in einem Rückblick auf den Sámi-Pavillon der Biennale in Venedig, der 2022 seine Premiere feierte.
Einen Tag zuvor erklärt Tim »2oolman« Hill von The Halluci Nation in einer Presserunde: »Dieses Festival bedeutet uns viel. Als Angehörige indigener Gesellschaften teilen wir alle die traumatischen Erfahrungen der Kolonisierung. Aber hier teilen wir vor allem das Positive, unsere gemeinsame Kultur. Wenn wir hierher kommen, hören wir Musik und denken, ›Wow, das klingt wie die Musik, die meine Leute machen!‹ Das gibt uns Kraft und das Gefühl, nicht alleine zu sein.«
Einen enormen Bedarf nach einem neuen WCIP scheint es jedoch nicht zu geben. »Vielleicht wäre es eine gute Idee«, sagt die grönländische Fotografin Dida G. Heilmann und lehnt sich damit weiter aus dem Fenster als alle anderen, mit denen ich rede. Für Sandra Márjá West, Leiterin des Riddu-Riddu-Festivals, gibt es keinen Mangel an internationaler indigener Vernetzung: »Es gibt eine sehr starke Zusammenarbeit zwischen indigenen Gesellschaften, und die internationalen Netzwerke dehnen sich weit aus. Wir von Riddu Riddu haben ein großes Netzwerk, Menschen, die an indigenen Sprachen interessiert sind, haben ihre eigenen Netzwerke usw.«
West hat recht. Es gibt Organisationen wie die Native American and Indigenous Studies Association, das International Indigenous Women’s Forum, das Indigenous Environmental Network, auch ein Indigenous Persons with Disabilities Global Network. Dazu kommen Solidaritätskampagnen auf sozialen Medien. »Es ist an der Zeit, indigenen Stimmen Gehör zu verschaffen, wir unterstützen Standing Rock!«, schrieb beispielsweise die samische Sängerin und Aktivistin Sofia Jannok anlässlich der Proteste gegen die Dakota Access Pipeline im August 2016 auf Facebook und erntete dafür Hunderte Likes. Jannok bewies freilich, dass ein Social-Media-Post praktische Aktion nicht ausschließt; sie war Teil einer der samischen Delegationen, die in die Standing Rock Reservation reisten, um die Proteste vor Ort zu unterstützen.
Also alles eitel Wonne? Nach Ende des Riddu-Riddu-Festivals frage ich bei einer Veteranin des WCIP nach. Ann-Kristin Håkansson war lange in der Organisation aktiv und bringt zudem Erfahrungen von indigenen Ausschüssen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union mit. Sie meint: »Natürlich wäre es besser, wenn es heute eine Organisation wie die WCIP gäbe. Die indigene Bewegung ist zersplittert. Aber ich glaube nicht, dass das realistisch ist. Geld ist das größte Problem. NGOs, die sich indigener Fragen annehmen, gibt es wie Sand am Meer, aber es geht ihnen in erster Linie um Fördergelder für ihre eigenen Projekte. Der ›gemeinsame Kampf‹ ist sehr individuell geworden. Es gibt keine einheitliche Plattform oder Struktur, um indigene Interessen durchzusetzen.«
Ein Generationsproblem? Hat sich der Austausch zwischen indigenen Gesellschaften schlicht den neuen Zeiten angepasst? Wurde er postmodern? Ist er so am effektivsten? Oder sind Rufe nach einer formellen politischen Organisierung berechtigt, weil diese der indigenen Bewegung mehr Stärke und kollektiven Handlungsspielraum verschaffen würde? Einigkeit schien es dazu bei Riddu Riddu nicht zu geben. Dafür zahlreiche indigene Aktivist*innen, die der weiteren Unterdrückung und Ausbeutung ihrer Gesellschaften die Stirn bieten wollen. Welche Organisationsformen dafür die vielversprechendsten sind, wird sich aus ihrem Widerstand ergeben.