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|ak 698 | Soziale Kämpfe

Im Tal des militanten Widerstands

In Norditalien bekämpft die NoTAV-Bewegung einen europäischen Hochgeschwindigkeitszug – und mit ihm Wachstumslogik, Militarisierung und grünen Kapitalismus

Von Luise Mikisch

Ein Gruppe von Demonstrierenden mit Fahnen, im Hintergrund eine Berglandschaft
Kein ruhiges Hinterland: Das Bündnis gegen den Hochgeschwindigkeitszug im Susatal reicht von katholischen Gruppen bis hin zu anarchistischen und autonomen Linken. Foto: Collettivo Politicio Scienze, CC BY-SA 2.0 Deed

Ein plätschernder Gebirgsfluss, Weinberge, Alpen: Klar, dass die Bewohner*innen des Susatals in der norditalienischen Region Piemont mäßig begeistert sind, dass die italienische Regierung und die EU diese Region in einen transeuropäischen Güterverkehrskorridor verwandeln wollen. Fünf Tunnel sollen hier durch die französisch-italienischen Alpen gegraben werden, um Turin und Lyon mittels eines Hochgeschwindigkeitszugs, dem Treno Alta Velocità (TAV), zu verbinden. Aber nicht nur bei der lokalen Bevölkerung stößt das Projekt auf gewaltigen Widerstand: Eine breite und militante, antikapitalistische Bewegung hat es hier mit einer Hauptverkehrsader der europäischen militärischen und kapitalistischen Infrastruktur aufgenommen – dementsprechend vehement wird sie bekämpft. 

Das Susatal ist wahrlich kein ruhiges Hinterland: Ein breites Bündnis hat sich gebildet, das von den »Bürgermeister*innen gegen den TAV« über katholische und Klima-Gruppen bis hin zu anarchistischen, kommunistischen und autonomen Linken aus den besetzten Häusern Turins reicht. Und dieses geht durchaus militant gegen das Megaprojekt vor, dessen Bau sowohl für die lokale Umwelt als auch für das globale Klima fatale Folgen hätte. Mit permanenten Mahnwachen (presidi) hat die Bewegung quer durch das Tal Wachposten und Orte des Widerstands eingerichtet; regelmäßig stören klandestine Kleingruppenaktionen die Bauarbeiten an der Schnellzugtrasse. 

Aber auch bei den Großdemos, die mehrmals im Jahr stattfinden, geht es gewaltig zur Sache: Als ich mich im August dieses Jahres einem Protestmarsch zur Baustelle anschließe, wundert mich bald nicht mehr, warum schützendes Gel für Augen und Nase durch die Reihen gereicht wird. Mit scharfem Tränengas und Rauchgranaten feuert die Polizei in die Menge – und kann doch die Aktivist*innen trotz Stacheldrahtzaun nicht vom Entern der Baustelle abhalten. 

Mit ihrem militanten Widerstand streut die Bewegung beeindruckend effektiv Sand ins Getriebe des Projekts. So gelang es im Jahr 2005 Zehntausenden Demonstrierenden in tagelangen Auseinandersetzungen mit der Polizei, beginnende Bauarbeiten im Dorf Venaus zu beenden. Die Folge: Der TAV verzeichnet seit Beginn der ersten Bauarbeiten 2001 nur langsame Baufortschritte.

Der TAV wird als Teil einer »grünen Transformation« verkauft – und entpuppt sich als Greenwashing.

Nichtsdestotrotz wird das Projekt mit Zähnen und Klauen verteidigt: 30 Millionen hat die Baufirma TELT laut eigenen Angaben in dessen Sicherung investiert. Aber auch der italienische Staat fuhr schwerere Geschütze auf: Zur Räumung einer weiteren Besetzung 2011 wurde das Militär eingesetzt, das seitdem permanent in einem umfunktionierten archäologischen Museum in La Maddalena stationiert ist. La valle che resiste, »das widerständige Tal«, ist zur Durchsetzung des europäischen Schnellzugprojekts zur militärischen Kampfzone erklärt worden. 

Auch vor Gericht geht der Staat hart gegen die NoTAV-Bewegung vor. Schon Ende der 1990er Jahre endete ein fadenscheiniger Terrorismus-Prozess im Gefängnissuizid der beiden jungen Anarchist*innen Soledad und Baleno (1). Seitdem wurden Hunderte von Aktivist*innen vor Gericht gestellt und immer wieder zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Selbst die 78-jährige Nicoletta Dosio, landesweit bekannte Ikone der Bewegung, wurde für mehrere Monate ins Gefängnis gesteckt. 

Doch gerade die Repression, meint sie in einem Gespräch im August, habe dazu beigetragen, aus dem lokalen Kampf eine zutiefst oppositionelle Bewegung zu machen: »Die meisten der vielen ganz gewöhnlichen Leute aus der Region, die sich dem Kampf angeschlossen haben, waren früher absolut staatshörig. Sie wären nie auf die Idee gekommen, das Gesetz zu hinterfragen – bis sie die Staatsgewalt am eigenen Leib erfahren haben. Wenn dir diese Massen von Polizist*innen entgegenstürmen, siehst du mit eigenen Augen: Der Staat, den sie verteidigen, ist nicht der Staat der Bürger*innen, sondern der Staat des Kapitals.« 

Verkehrskorridore für den grünen Kapitalismus

Und das Kapital hat großes Interesse am TAV. Zum einen ist das Projekt für die italienische Bauindustrie, die von der Mafia durchdrungen ist, eine wahre Goldgrube: 26 Milliarden Euro werden in dieses teuerste Zugprojekt Europas gebuttert. Aber auch andere Kapitalfraktionen pochen auf seine Umsetzung. Die EU, die die Hälfte der Kosten trägt, will den TAV zum Teil des Europäischen Verkehrsnetzes TEN-T machen – und mit ihm den Verkehrskorridor von Lissabon nach Kiew schließen. Dieses Netz mit seinen Transportmegaprojekten, die auch andernorts lokalen Widerstand hervorrufen (z.B. die Lobau-Autobahn bei Wien), dient nicht vorrangig der Personenmobilität, sondern dem Transport von Waren. 

Und weil dieser Transport trotz Klimakrise immer mehr und immer schneller werden soll, muss er – das hat nun auch das Kapital eingesehen – neuerdings auch immer »grüner« werden. Der TAV, so die Erzählung der EU, soll den Gütertransport von der Straße auf die klimafreundlichere Schiene verlagern. Statt den heutigen 80 Prozent sollen dadurch nur noch 45 Prozent der Güter auf dieser Strecke per Lkw transportiert werden. Klingt erst mal prima – bloß: 45 Prozent wovon? Geht es nach den Zielen der EU, soll 2035 im Vergleich zu heute die sage und schreibe vierzehnfache Menge an Waren über die norditalienischen Alpen transportiert werden. In absoluten Zahlen gemessen würden bei diesen Gütermassen – selbst wenn verhältnismäßig mehr davon auf der Schiene transportiert würden – nicht eine Million Lkws weniger, wie von der EU behauptet, sondern eine Million Lkws mehr auf besagter Strecke über die Straße donnern. So ist es kein Zufall, dass eine der größten Baustellen im TAV-Komplex ein gigantischer Lkw-Parkplatz ist. Der TAV, der als Teil einer »grünen Transformation« verkauft wird, entpuppt sich also als Greenwashing einer stetig weiterwachsenden Wirtschaft. 

Ein tatsächlicher Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit wäre es, die Menge an transportierten Gütern nicht zu erhöhen, sondern zu senken und den verbleibenden Verkehr effektiv von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Stellschraube dafür ist vielerorts nicht zwingend eine neue Hochgeschwindigkeits-Schieneninfrastruktur, sondern vor allem eine Verteuerung oder ein Verbot des Lkw-Transports. Denn solange überausgebeutete Lkw-Fahrer*innen für Hungerlöhne (siehe ak 693) Waren auf der Autobahn befördern, steigt kein profitorientierter Konzern freiwillig auf die teurere Schiene um. 

Die Verteidigung des Susatals erfolgt laut Nicoletta Dosio also nicht aus einer lokalpatriotischen Not-in-my-Backyard-Haltung, sondern als »Kampf gegen das System«, das ganze Regionen gewaltvoll in das »Rückgrat der europäischen Wirtschaft« eingliedert, wie EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean die TEN-T ganz unverblümt bezeichnet. Für die Ablehnung dieses Megaprojekts scheint die italienische NoTAV-Bewegung daher nicht erst die Postwachstumsdebatte klären zu müssen, die andere Teile der Linken nun endlich eifrig führen. (siehe Kohei Saito in ak 695) Sie ergibt sich hier ganz einfach aus einer Kritik kapitalistischer Bedürfnisse: »Die Verkehrskorridore der liberalen EU sind nicht für Menschen, sondern für Waren, Märkte und den Krieg«, bringt es Nicoletta Dosio auf den Punkt. 

Krieg? Ja, denn für die Militarisierung der EU spielt der TAV ebenfalls eine Rolle: Das TEN-T-Transportnetz soll laut Ankündigungen der EU auch für den militärischen Verkehr nutzbar gemacht werden. So kam die jüngste 44-Millionen-Euro-Förderung für den TAV direkt aus dem EU-Fonds Connecting Europe, das den Ausbau von Verkehrsprojekten mit doppeltem Verwendungszweck (militärisch und zivil) finanziert. Auch Frankreich kündigte im Juli eine Milliarde für die Strecke an, obwohl sich der Expert*innen-Beirat des Verkehrsministeriums kurz zuvor gegen den TAV ausgesprochen hatte: Der Einspareffekt des Schnellzugs würde die acht bis zehn Millionen Tonnen CO2, die sein Bau in die Atmosphäre bläst, kaum aufwiegen, sagt selbst der Europäische Rechnungshof

Degrowth oder Hohes Glück

Im Gegensatz zu vielerorts rein akademisch geführten Debatten um Degrowth und Bedürfnisorientierung ist es der NoTAV-Bewegung gelungen, den TAV italienweit zum Symbol für unsoziale Profitorientierung zu machen. Das liegt wohl ebenso an der klaren Sprache – 2011 veranstaltete man hier schlicht ein »Europäisches Forum gegen unnütze Großprojekte« – wie an der Anziehungskraft der Gegenerzählung. Denn der Gegenentwurf zum kapitalistischen »Fortschritt« unter Höchstgeschwindigkeit (Alta Velocità) heißt hier weder Rückschritt noch »Degrowth«, sondern einfach Alta Felicità: höchstes Glück. 

Zum gleichnamigen Festival der Bewegung kamen auch in diesem Sommer wieder Zehntausend – eine bunte Mischung, von der deutsche Klimacamps nur träumen können: Neben dem No-Border-Stand bieten alte Leute aus der Umgebung Sangria, Pasta und Nutella-Toast an, jubelnde Menschenmengen tanzen zu Techno-Musik, einer lokalen Popsängerin mit Bob-Dylan-Covers, Reggae-Bands mit white locks und der legendären Rapperin Myss Keta. So unversöhnlich sich die Bewegung nach außen gibt, so kompromissbereit scheint sie nach innen. 

Anmerkung:

1) Die Geschichte der jungen Anarchistin Soledad Rosas wurde 2018 von Agustina Macri unter dem Titel »Soledad« verfilmt.

Luise Mikisch

ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung in Wien, unter anderem bei LobauBleibt, aktiv und hat im August 2023 die NoTAV-Bewegung besucht.