No more Probezeit
Arbeiter*innen von Gorillas in Berlin sind im wilden Streik für die Wiedereinstellung eines Kollegen – und organisieren sich in dem rasant wachsenden Unternehmen
Von Jan Ole Arps und Nelli Tügel
Es gibt viele Probleme, mit denen Arbeiter*innen in diesem Unternehmen konfrontiert sind, und wir wollen, dass sie gelöst werden.« Zeynep, eine Fahrerin des Lebensmittel-Lieferdienstes Gorillas in Berlin, steht mit etwa 40 Kolleg*innen und ebenso vielen Fahrrädern vor dem Gorillas-Warenlager in der Prenzlauer Allee. Der Betrieb steht schon seit einigen Stunden still, die Fahrer*innen blockieren die Eingänge, die Stimmung ist gut, fast euphorisch. »Wir sind heute hier, damit die anderen Arbeiter*innen sehen, dass, wenn wir Arbeiter*innen zusammenkommen, wir unsere Probleme lösen können«, sagt Zeynep. »Wir organisieren uns, damit Arbeiter*innen Macht über die Entscheidungen des Unternehmens bekommen.«
Lieferung in nur zehn Minuten – damit wirbt der Lieferdienst Gorillas. Vielleicht nicht in zehn Minuten, aber doch sehr schnell reagierten Fahrer*innen in Berlin, als am Mittwoch, den 9. Juni, ein Kollege in der Kreuzberger Auslieferstation am Checkpoint Charlie in der Probezeit gekündigt wurde: Sie stellten spontan die Arbeit ein, Fahrer*innen aus anderen Lagern kamen daraufhin dazu. Ihre Forderung: »We want Santiago (Name des gekündigten Kollegen, Anm. der Redaktion) back.« Zusammengeschlossen sind die Fahrer*innen und Packer*innen im Gorillas Workers Collective. Die Sprache der Solidarität unter ihnen ist Englisch, denn die Mehrheit – in Berlin arbeiten inzwischen allein 1.300 Fahrer*innen für das Start-up – sind junge Menschen aus Italien, Spanien, der Türkei und so weiter.
Das Management schickte kurz nach Beginn des »wilden«, also selbst organisierten und nicht formal legalen Streiks seinen stellvertretenden Geschäftsführer, Harm-Julian Schumacher, der wiederum die Polizei rief. Daraufhin zogen die Fahrer*innen zu einem Lager in der Torstraße in Berlin Mitte und blockierten dort am Abend desselben Tages den Eingang – bis der Betrieb eingestellt werden musste: ein erster Erfolg. Auch CEO Harm war wieder vor Ort, ebenso wie etwa 50 Polizist*innen. Zur Unterstützung der Gorillas-Rider wiederum kamen einzelne Kolleg*innen von Lieferando.
Was fordern die Streikenden?
Da die zentrale Forderung – die Wiedereinstellung des gefeuerten Kollegen – bis zum späten Abend nicht erfüllt worden war, ging der Streik am 10. Juni weiter mit der Blockade des Auslieferzentrums im Stadtteil Prenzlauer Berg. Ihren Forderungskatalog hatten die Gorillas-Arbeiter*innen inzwischen erweitert: Wiedereinstellung des Kollegen, keine Kündigungen mehr ohne vorherige Abmahnungen, Abschaffung der sechsmonatigen Probezeit, in der es beispielsweise kaum Kündigungsschutz gibt. »Die meisten Arbeiter*innen hier sind in der Probezeit«, erklärt Zeynep gegenüber ak. »Das bedeutet, dass beinahe jede*r hier von einem Tag auf den nächsten gefeuert werden kann. Die Manager setzen das als Drohung ein: Ein Warehouse-Manager zum Beispiel hat Leuten gesagt, wenn sie heute am Streik teilnehmen, bekommen sie drei Abmahnungen – das heißt, er hat ihnen mit Kündigung gedroht.« In einem Unternehmen, dass derart schnell wächst und bei dem viele Arbeiter*innen nicht lange bleiben, ist die Probezeit ein besonders mächtiges Mittel in den Händen des Managements.
Die Probezeiten und der schlechte Kündigungsschutz sind aber nicht die einzigen Themen, die die Anwesenden beschäftigen. Sie berichten von Zeitdruck und hoher Unfallgefahr, aber auch von mangelhafter Qualität der Ausrüstung: Manche Fahrräder hätten nur Handbremsen, die Transportkisten seien oft schwer und überladen, auch gebe es Probleme mit fehlerhaften Abrechnungen und sowieso mit ungleicher Bezahlung.
Anders als am ersten Tag des Streiks lassen sich am Donnerstag, den 10. Juni, zunächst keine höheren Manager*innen blicken. Auch im Lager im Prenzlauer Berg muss der Betrieb eingestellt werden, einzelne Streikbrecher*innen werden am Streikposten ausgebuht: »Aus unvorhersehbaren Gründen müssen wir unser Lager vorübergehend schließen«, heißt es nebulös bei der Gorillas-App.
Das Märchen von der großen Familie
Gorillas hatte sich in den vergangenen Monaten auffallend intensiv um Imagepflege bemüht: Die Arbeitsverhältnisse seien nicht prekär, wie bei anderen Lieferdiensten, sondern sicher. Parallel wird die Start-up-Ideologie hier aggressiv verbreitet, wie man es eben kennt: Man sei wie eine große Familie, alles geschehe auf Augenhöhe, gemeinsam arbeite man an einer Unternehmenskultur, in der sich alle wohl fühlen könnten.
Auch am ersten Tag des Streiks waren solche Aussagen zu hören, auch von einzelnen Beschäftigten im Lager in der Torstraße: Eine Frau, die früher selbst Fahrerin war und nun als Supervisorin arbeitet, ist aufgebracht über die Proteste. »Wir waren immer eine Familie, jeder hat jedem geholfen, das machen die mit dieser Aktion kaputt.« Dass hier vor allem die Arbeiter*innen einem Unternehmen helfen, Profite zu machen, will sie nicht gelten lassen. Besonders stört sie, dass viele ihrer Freund*innen zur Gruppe der Streikenden gehören. Die Familiensoße, die Unternehmen wie Gorillas über die Arbeitsbedingungen kippen, wirkt offenbar auch bei manchen Beschäftigten, die sich in dem rasant expandierenden Unternehmen schön reden, dass ihre ehemaligen Kolleg*innen oder sogar Freund*innen nun in der Hierarchie unter ihnen stehen.
Auch deshalb ist es bemerkenswert, wie selbstbewusst und schnell sich die Arbeiter*innen organisiert haben. Erst im Mai 2020 wurde Gorillas gegründet, seit einigen Monaten sind die Fahrer*innen immer häufiger im Stadtbild zu sehen – ebenso die Werbung für das Unternehmen und seine Dienste. Für die Umsetzung des Geschäftsmodells – das Liefern gefüllter Einkaufstüten in kürzester Zeit – braucht Gorillas viele kleinere und größere Auslieferstationen in der ganzen Stadt. Und sehr schnell sehr viele Beschäftigte.
Anders als bei Lieferdiensten, die dezentral organisiert sind, treffen Gorillas-Rider in den Warenzentren regelmäßig aufeinander – ein großer Vorteil für die Organisierung von unten.
Für die Organisierung von unten ist das ein großer strategischer Vorteil: Anders als bei Lieferdiensten, die überwiegend oder gänzlich dezentral organisiert sind, treffen Gorillas-Rider regelmäßig aufeinander. Da es oft Wartezeiten gibt, verbringen sie Zeit miteinander in den Auslieferstationen – und wegen der Pandemie und mangelndem Platz in den Stationen auch davor, wo man sich ohne Beisein der Manager*innen austauschen kann. Während in vielen Unternehmen wegen der Pandemiemaßnahmen Gespräche unter Kolleg*innen, eine wichtige Voraussetzung für gemeinsame Organisierung, schwieriger und Kontakte weniger wurden, wurden sie im Chaos der schnell eröffneten Gorillas-Stationen tendenziell leichter.
Zudem gibt es inzwischen einen großen Erfahrungsschatz mit Arbeiter*innen-Organisierung in der Tech- und Start-up-Szene – anders als noch vor einigen Jahren ist der Lack der angeblich so hierarchiefreien Arbeitsplätze längst ab. So lief die gewerkschaftliche Organisierung bei Gorillas schnell an. Die Messenger-Gruppe, über das Gorillas Workers Collective sich seit Februar 2021 organisiert, habe mehr als 500 Mitglieder, wie ein Beschäftigter erzählt. Die erste, vom Workers Collective angestoßene Betriebsratswahl ist gerade in Vorbereitung – hier gab es nur wenige Tage vor dem Ausbruch des Streiks bereits Ärger mit der Geschäftsführung, weil Manager*innen an Wahlversammlungen teilnehmen wollten und später die Rechtmäßigkeit des Votums für den Wahlvorstand anzweifelten.
Angst ums Image
Doch obwohl es nicht die erste Konfrontation zwischen Gewerkschaft und Management ist, wirkt die Chefetage am ersten Tag des Streiks planlos, höchst nervös und aggressiv: Auf einen Ausstand und Blockaden ist man offenbar nicht vorbereitet. Dass schnell auch Presse vor Ort ist, freut die Arbeiter*innen und ärgert sichtlich die Manager: Die Angst vor einem Imageschaden dürfte enorm sein – Gorillas ist mitten in der Wachstumsphase, braucht Kund*innen, Mitarbeiter*innen und die Gunst der Anwohner*innen; in Kreuzberg und Mitte kam es bereits zu ersten Anwohnerprotesten gegen die neu eröffneten Auslieferzentren. Für die Streikenden ist die Angst der Chefs vor dem Imageschaden wiederum ein sehr brauchbares Druckmittel. Auch für die Zukunft.
»Wir stellen Gorillas ein Ultimatum bis Mitternacht, um Santiago wieder einzustellen«, twittert das Gorillas Workers Collective am Donnerstag Nachmittag nach ergebnislosen Gesprächen mit dem Management. Am Abend erhalten offenbar alle Arbeiter*innen eine Mail mit der Einladung zu einem Zoom-Meeting für Freitagnachmittag, bei dem laut Management eine »wichtige Ankündigung« gemacht werden solle. Sollten dort die Forderungen des Workers Collective nicht erfüllt werden, werden die Aktionen fortgesetzt. Für die linke Szene der Stadt, die sich bis auf wenige Ausnahmen bisher nicht bei den Protesten hat blicken lassen, könnte es also noch Gelegenheit geben, den wilden Streik der Fahrer*innen zu unterstützen. Ein Fahrer wies vor dem blockierten Lager in der Prenzlauer Allee vorsorglich darauf hin, dass Samstag der umsatzstärkste Tag bei Gorillas ist.