Nie mit Egon Krenz in einem Boot gesessen
Die DDR war eine tief gespaltene Gesellschaft, 1990 wurden aus ihr »die Ostdeutschen« und damit Gegensätze überdeckt
Von Renate Hürtgen
In diesem Jahr standen, wie seit 30 Jahren nicht mehr, die Ostdeutschen im Zentrum des medialen Interesses. Schon im vergangenen Jahr meldeten ehemalige Oppositionelle Protest an und kritisierten scharf die Tatsache, dass im Staat, in den Parteien oder im Kulturbereich entweder auf der mittleren Leitungsebene die Karrieren der aus dem Osten Kommenden enden oder aber von vornherein unterbunden werden. Sie waren zu Recht empört. Zahlen belegen die Unterpräsenz; nur ein Bruchteil der Ämter und leitenden Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen, selbst in den sogenannten neuen Bundesländern, werden von Menschen mit ostdeutscher Herkunft bekleidet. Und das, obwohl inzwischen eine neue Generation herangewachsen ist, für die aber dieselben Mechanismen der Selektion zum weitgehenden Ausschluss in führenden Positionen dieser Republik führen.
Diese Diskussion fand zeitnah zu der weltweiten #Metoo-Debatte statt, und so war es nicht überraschend, dass Parallelen zum Ausschluss von Frauen aus den entscheidenden Strukturen der Macht gezogen wurden. Mit den Erfolgen der AfD namentlich im Osten und der zunehmenden Pegida-und-Co-Bewegung nahmen die Versuche zu, sich diese Entwicklung aus der Nachwendezeit zu erklären. Unisono – von rechts bis links – rückten die 1990er Jahre ins Zentrum der Ursachenforschung und damit die von der Treuhand organisierte Deindustrialisierung sowie die Übertragung sämtlicher Strukturen und Kulturen der westdeutschen Gesellschaft auf Ostdeutschland. 1992, in nur zwei Jahren, waren zwei Drittel der Industriearbeitsplätze in Ostdeutschland vernichtet worden, die Folgen für die Menschen waren zum Teil traumatisierend. Damit war schnell ein Erklärungsmuster für rechte Entwicklungen im Osten geschaffen, die – wie günstig für Polizei und Verfassungsschutz! – nun auf diese ostdeutschen Erfahrungen zurückgeführt werden konnten. Auf diese Weise war das gesamte rechte und rechtsnationale Beamtentum in Sachsen und Sachsen-Anhalt außen vor; der Westen, wo die geistigen Brandstifter herkommen, bekam eine Statistenrolle zugewiesen.
Der positive Effekt dieser Rückschau: Die zunehmend schärfer werdende Kritik an der Treuhandpolitik kann nicht mehr ignoriert werden. Eine ganze Armada von Historiker*innen geht inzwischen kritisch den Vorgängen im Zuge der »deutschen Wiedervereinigung« nach. Der negative Effekt: Es hat sich ein Konstrukt von »den Ostdeutschen« durchgesetzt, welche die Erfahrungen der Westdominanz zu einem Kollektiv zusammengeschweißt habe; »die Ostdeutschen« als Objekte einer dramatischen Abwertung ihres Lebens in der DDR; »die Ostdeutschen«, denen eine stolze Rückbesinnung auf ihr Leben in der DDR helfen soll, das verloren gegangen Selbstbewusstsein zu stärken.
Identitäten, die es weder zu DDR-Zeiten gab, noch heute gibt
Bereits 1990 setzte ein, was zu der heute beobachtbaren Konstruktion einer Ostidentität führte. Die alten sozialen und politischen Spaltungen schienen plötzlich verschwunden. »Egal ob Herrscher oder Beherrschte, Parteisekretär oder Bürgerrechtler – alle mussten sich mit den neuen westdeutschen Strukturen und der Infragestellung ihrer bisherigen Existenz auseinandersetzen.« (1)Die altbekannten Platz-Zuweisungen wurden nach 1989 gehörig durcheinander gewürfelt, der Professor saß plötzlich mit seiner Mitarbeiterin in derselben »Maßnahme«, und der ehemalige Häftling fuhr mit seinem Vernehmer von der Staatssicherheit in derselben Bahn in den Westen, so fährt Annette Simon, deren Gedanken ich hier folge, in ihrer Beschreibung fort. Sie betont jedoch zugleich, dass die Ostdeutschen nach der Wende zwar den gleichen Erfahrungsraum teilten, allerdings jeweils höchst unterschiedlich in diesem Raum platziert waren, sich sehr verschieden verhielten und selbst die gleichen Erfahrungen so konträr verarbeitet wurden, dass der eine beim Zuhören des anderen meint, er sei wohl nicht dabei gewesen.
Die Konstruktionen einer Ostidentität, die derzeit, auch unter Linken, so verbreitet sind, haben gemein, dass sie eine ostdeutsche oder im nachhinein eine DDR-Identität schaffen wollen, die es weder zu DDR-Zeiten noch nach 1989 gegeben hat. Die DDR war eine genauso tief gespaltene Gesellschaft wie jede Ausbeutungs- und Herrschaftsgesellschaft auf der Welt. Und wie in jeder dieser Gesellschaften verliefen die Trennlinien unscharf, waren die Übergänge zwischen den Gruppen und Klassen fließend. Denn die gemeinsame Erfahrung einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Abwertung hat die sozialen und politischen Gegensätze der DDR-Gesellschaft nur scheinbar verschwinden lassen; der gemeinsame Gegner West lässt Ostdeutsche sich zusammenschließen, nicht unähnlich einer Kriegssituation, in der ungeachtet der durchaus unterschiedlichen sozialen Stellungen und Interessenlagen im Angesicht eines gemeinsamen Feindes zusammengerückt wird. Namentlich in den rechten Bewegungen entsteht so zur Zeit ein Wir-Gefühl, das Gefühl, endlich wieder Subjekt der Geschichte sein zu können.
Braucht es überhaupt eine linke Ostidentität?
Wie kann die Linke auf eine solche Vereinnahmung durch Rechte reagieren? Wie könnte eine Ostidentität aussehen, die nicht mit der AfD-Ideologie zu verwechseln ist? Braucht es für eine Aufarbeitung der nahen wie fernen Vergangenheit der Ostdeutschen die Beschwörung einer Identität? Reichte es nicht, wenn wir davon ausgehen, dass es gemachte Erfahrungen sind, auch unsere Herkünfte, aus der ein besonderes Interesse an der Situation und eine besondere Sensibilität gegenüber den Befindlichkeiten der Menschen aus dem Osten entsteht? Ist es denn überhaupt sinnvoll, sich auf ein solches Konstrukt »Ostidentität« zu beziehen? Reichen der gleiche Erfahrungsraum DDR und der gemeinsame Erfahrungsraum Nachwendezeit als Basis einer solidarischen Identitätsfindung aus?
In diesem Jahr haben sich radikale Linke, die aus dem Osten kommen, ungewöhnlich intensiv mit der Frage ihrer Identität beschäftigt. Was verbindet uns, die wir im Osten Deutschlands geboren sind, welche gleichen Erfahrungen haben unsere Eltern in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs gemacht? Könnten wir mit diesem Pfund gemeinsamer Erfahrungen wuchern und eine breite solidarische Gegenfront zu dem uns übergestülpten Westen aufmachen? Die Vorschläge gehen dahin, das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, einschließlich der ostdeutschen Linken, zu stärken, indem zunächst einmal die ostdeutschen Erfahrungen, vor und nach 1989, zur Sprache kommen sollen, Geschichten erzählt werden, Geschichten aus einem Leben, auf das sie/wir stolz sein können.
Das neue Konzept der Berliner Zeitung bietet mir eine Steilvorlage für den folgenden Gedanken. Zum Mauerfall wurden am 8. und 9. November zweiseitige Porträts von jedermann vorgestellt: Ein Fußballer Ost, ein Fußballer West, Christian Lindner, die Sprecherin der Linksfraktion, Katrin Lompscher und der Vorstandsvorsitzende von Deutsche Wohnen; die neue Debattenkultur macht es möglich. An prominenter Stelle Egon Krenz, dem eine Doppelseite eingeräumt wird, um erzählen zu können, »dass der friedliche Verlauf der Wende in erheblichem Maße mit seinen Entscheidungen zusammenhängt.« (2)Eine Geschichte voller Lügen und Halbwahrheiten, was wir in seinem Fall aufgrund der Prominenz nachweisen können. Die Geschichten eines unbekannten Parteisekretärs in einem sächsischen VEB oder die Geschichte einer Kaderleiterin in der Akademie der Wissenschaften lassen sich schon schwerer widerlegen.
Wir wissen natürlich, dass sie alle, und mit ihnen 2,2 Millionen SED-Mitglieder, ein Teil dieser die DDR-Gesellschaft beherrschenden Partei waren; einer Partei, die zentralistisch organisiert, überall, auch in den Betrieben der DDR, die letzten Entscheidungen traf, eine Partei, die selbst die Kandidat*innen für die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) bestimmte und die »ihr Leben lang« damit beschäftigt war, den Feind in den eigenen Reihen aufzuspüren. (3)Dies alles verschwindet hinter den Erzählungen nicht nur von Egon Krenz, auch hinter denen der Kombinatsdirektoren und anderer »Führungskräfte« der DDR.
Aufarbeiten ist mehr, als sich Geschichten zu erzählen
Zu solchen Rückbesinnungen werden zur Zeit nicht nur Egon Krenz und Genoss*innen aufgefordert; auch die DDR-Normalbürger*innen sollen ihre Geschichten erzählen. Und so können seit zwei Wochen im RBB die verschiedensten Menschen ihre Erlebnisse und Gefühle aus DDR-Zeiten und vom Tag des Mauerfalls erzählen. Das ist gut so, das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ostdeutschen, das zwingt Ost wie West zuzuhören und nachzudenken. Doch zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit gehört mehr als sich Geschichten zu erzählen.
Aufarbeitung heißt, die gravierenden Konflikte zwischen den Ostdeutschen – vor und nach 1989 – nicht mehr unter den Tisch zu kehren, die unaufgehobenen, unausgeprochenen und damit verdrängten Widersprüche zu benennen. Vielleicht ist jetzt möglich, was unter der Westdominanz kaum zu bewältigen war: Alles Verdrängte, das ambivalente eigene Verhalten, die Scham darüber, den Arm wider Willen gehoben zu haben, eben die psychische und soziale Prägung aus DDR-Zeiten »offen auf den Tisch« zu legen. (4)Vielleicht ist endlich die Zeit reif, »dass die Ostdeutschen miteinander über ihre eigene Vergangenheit und ihre Verdrängungen streiten, als sich immer nur in Abwehrkämpfen gegen westliche Zuschreibungen zu verbünden.« (5)
Liegt hier nicht der Schlüssel für einen linken Umgang mit der »Ostidentität«, der sich dadurch auszeichnen müsste, dass gerade die Widersprüche, das Mittun der Ostdeutschen in der Diktatur, die sozialen und Klassengegensätze in der DDR betont werden? Ich habe noch nie mit Egon Krenz »in einem Boot gesessen«, und ich tue es auch heute nicht. Eine solche Erinnerungsarbeit würde sich deutlich von dem rechten Versuch abheben, ein neues »Kollektivsubjekt«, eine ostdeutsche »Volksgemeinschaft«, installieren zu wollen. Eine linke Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit könnte dazu beitragen, diesem dumpfen ostdeutschen Gemeinschaftsgeist eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit entgegenzusetzen. Und diesmal nicht unter Führung und Leitung aus dem Westen, diesmal machen wir es allein!
Anmerkungen:
1) Annette Simon, Wut schlägt Scham. Das »Wir sind das Volk« der AfD als nachgeholter Widerstand, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 64. Jahrgang Heft 10/2019, S. 41-50, hier, S. 42.
2) BZ, Nr. 260, 8.11.2019, S. 6.
3) Bernd Gehrke/Renate Hürtgen/Thomas Klein (Hrsg.), »… feindlich negative Kräfte …« Repression gegen Linke und emanzipatorische Bewegungen in der DDR, RLS Materialien 2019.
4) Vgl. Johannes Nichelmann, Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen, Berlin 2019.
5) Simon, Wut schlägt Scham, S. 50.