Neun Monate Krieg
Zerstörte Stromversorgung, wachsender Nationalismus und eine zerrüttete Wirtschaft – was macht die ukrainische Linke? Ein Besuch in Kiew
Von Jan Ole Arps
Darüber, ob man bei einem Luftalarm in den Schutzkeller gehen sollte, gehen die Meinungen auseinander. »Wenn ich kann, gehe ich immer«, sagt Brie, eine linke Aktivistin und Mitarbeiterin einer NGO, die sich um den Wiederaufbau in den befreiten Gebieten der Ukraine kümmert. »Ich habe es aufgegeben«, berichtet eine Journalistin, die gerade von einer Recherchefahrt durch Donezk, Luhansk und Kherson zurückgekehrt ist. »Ich weiß, es ist blöd, aber wenn man jedes mal runtergeht, kommt man zu gar nichts.«
»Ich war noch nie im Keller«, verkündet Aleksandr Skyba stolz. »Man müsste schon großes Pech haben, um getroffen zu werden, außerdem, was soll der Quatsch.« Aleksandr Skyba ist Lokführer und Mitglied der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner der Ukraine (VPZU), der radikaleren Alternative zur großen FPTU. Skyba fährt Güterzüge durchs Land, am Anfang des Krieges transportierten sie vor allem Hilfsgüter und flüchtende Menschen, inzwischen sind es meist Zement und andere Baumaterialien. Dass Skyba sich keine großen Sorgen um Raketeneinschläge macht, ist praktisch in seinem Beruf. Denn die Züge fahren, Luftalarm hin oder her. Zum Beispiel am Mittwoch, den 23. November, als die Warn-App um kurz nach 13 Uhr zu heulen anfängt.
Skyba hat für diesen Tag ins Eisenbahndepot eingeladen, inklusive Fahrt mit dem Zug. Im Depot im östlich des Dnipro gelegenen Teil von Kiew, stehen Güterwagen und einige alte Diesel-Loks, hier holen sich die Zugführer ihre Fahrtpapiere ab und tragen sich in die Schichtpläne ein. Die Stimmung ist gemächlich. Waren zu Kriegsbeginn Schichten von 30 Stunden keine Seltenheit, sieht es heute anders aus. Die Wirtschaft liegt nach neun Monaten Krieg am Boden, die Arbeitszeit wurde reduziert, viele Eisenbahner*innen haben nur noch ein oder zwei Drittel der normalen Stunden – und erhalten entsprechend weniger Geld. Die meisten Kolleg*innen hätten finanzielle Probleme, berichtet Skyba. Die Arbeit in den alten Loks sei gefährlich, Verletzungen keine Seltenheit. Die Lokomotive, in deren Führerhäuschen das Gespräch stattfindet, ist aus den 1970er Jahren, Modell WL80. Das WL steht für Wladimir Lenin.
Weil es viele Probleme gibt, gibt es viel zu tun für Skyba. Er ist Vertreter seiner Gewerkschaft im Kiewer Depot, aber wird durchs ganze Land geschickt, wenn Mitglieder Schwierigkeiten haben. Immerhin, Entlassungen hätten sie bisher verhindert. Wie? »Wir drohen dem Management«, grinst Skyba. Womit? »Wir haben unsere Methoden.« Mehr will er dazu nicht sagen.
Dann sagt erstmal niemand mehr was, auch Ihor und Andrei nicht, Skybas Kollegen in der Fahrerkabine. Der Strom ist weg, die Lok in einem kleinen Waldstück südöstlich von Kiew zum Stehen gekommen. Andrei versucht, seine Frau zu erreichen, aber kommt nicht durch. Die Raketen, die inzwischen in Kiew und anderen Orten eingeschlagen sind, haben die Elektrizität im ganzen Land ausgeschaltet. Wann es weitergeht? Unklar.
Irgendwann sagt Skyba: »Komm, wir gehen zu Fuß.« Und stapft durch den Schnee voraus.
Terror gegen die Zivilbevölkerung
Die ukrainische Energieinfrastruktur läuft schon länger im Notbetrieb. Alle Kraftwerke außer den drei verbleibenden Atommeilern sind von Raketen getroffen worden, viele Umspannwerke zerstört. Um das Netz nicht zu überlasten, wird allen Haushalte zu festen Zeiten der Strom abgedreht. Pro Tag gibt es in Kiew mehrere solcher mehrstündigen Abschaltungen. Wann das Licht in der eigenen Straße ausgeht, kann man auf der Website des Energiekonzerns DTEK, der dem Oligarchen Rinat Achmetow gehört, nachsehen.
Die Wohlhabenderen, viele Geschäfte und Restaurants haben in Generatoren investiert, deren Brummen man überall hört. Vor allem in der Innenstadt entsteht so ein Bild relativer Normalität: Die Geschäfte sind beleuchtet, sogar Werbetafeln strahlen, Bars und Restaurants haben geöffnet. Je weiter man sich vom Zentrum wegbewegt, desto dunkler werden die Straßen.
Seit dem 10. Oktober gehen ein oder mehrmals pro Woche Raketensalven im ganzen Land nieder. Einen Großteil der Geschosse fängt die mit modernen Waffen aus dem Westen ausgestattete Luftabwehr ab, der Rest schlägt in Kraft- und Umspannwerken ein – und in Wohngebieten, immer wieder gibt es Tote. Zunächst von Moskau als Reaktion auf die Sprengung der Krim-Brücke deklariert, sind die Raketenangriffe seither zu einer kontinuierlichen Kriegstaktik des Kremls geworden. Die Zerstörung der Energieversorgung ist Terror gegen die Zivilbevölkerung, als gezielter Angriff auf zivile Objekte ein Kriegsverbrechen. Allerdings keines, auf das Russland das Monopol hätte. Die Türkei greift derzeit das Energienetz in den kurdischen Regionen Nordsyriens an. Saudi-Arabien zerstörte 2015 die zivile Infrastruktur in Jemen. Die Nato setzte das Mittel 1999 im Krieg gegen Serbien ein. Ein Nato-Sprecher erklärte damals, die Nato zeige damit, dass sie das Versorgungssystem »abschalten könne, wann immer sie wolle«.
Die Angriffe Moskaus sind ein ähnliches Machtmittel – bei Temperaturen rund um den Gefrierpunkt. Die ukrainischen Behörden halten mit Durchhalteparolen und eiligen Reparaturen dagegen, letzteres angesichts der sich addierenden Zerstörungen ein immer schwierigeres Unterfangen. Nach dem Angriff am 23. November, dem bisher schwersten, brechen neben der Strom- auch die Wasserversorgung und in vielen Häusern die Heizungen zusammen, es dauert mehr als 24 Stunden, bis zumindest die Notversorgung in Kiew wieder steht. Die Frage, ob den Bewohner*innen empfohlen werden sollte, die Stadt zu verlassen, wird öffentlich diskutiert.
Der Blackout gibt auch denen zu denken, die die Situation schon länger kennen. »An den Beschuss gewöhnt man sich nicht«, sagt Brie. »Die Angriffe bedeuten jedes Mal Stress. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll, wenn drei Millionen Menschen kein Wasser haben und in eiskalten Wohnungen sitzen.«
Die Linke und der Kriegsneoliberalismus
Brie ist bei Sotsialniy Rukh (Soziale Bewegung) aktiv, einer kleinen linken Organisation mit Schwerpunkt in Kiew. Allerdings nicht mehr nur in Kiew. »Seit dem Krieg leben unsere Mitglieder in verschiedenen Städten, manche im Ausland. Der Krieg hat uns erlaubt zu expandieren«, scherzt Vitaliy Dudin, der Vorsitzende der Organisation. Dudin hat ein Treffen mit mehreren Mitgliedern der Gruppe organisiert, die meisten bekannte Gesichter vom Besuch in Lwiw im Mai. Um sie und andere wiederzusehen und Diskussion fortzuführen, sind wir nach Kiew gekommen. Das Treffen findet in »unserem geheimen sozialen Zentrum« statt, wie Dudin vorab schreibt. Was auch ein Witz hätte sein können, ist ernst gemeint: Die Adresse wird nicht öffentlich kommuniziert, die Bedrohung durch militante Nazis ist zu groß.
Sotsialniy Rukh, 2015 gegründet, um eine »neue Linke« in der Ukraine aufzubauen – sozialistisch, demokratisch, feministisch, ökologisch –, versucht, die politische Arbeit trotz des Krieges aufrechtzuerhalten. »Aber es ist nicht einfach«, sagt Dudin. Das Kriegsrecht erleichtert es der Polizei Versammlungen aufzulösen, zudem wolle niemand der russischen Propaganda in die Hände spielen, die Proteste instrumentalisieren könnte. Die allgemeine Stimmung sei, dass die Gesellschaft Geschlossenheit zeigen müsse, um die Landesverteidigung nicht zu gefährden. »Es wird noch lange dauern, bis wir zu einem normalen politischen Leben mit Demonstrationen, Streiks etc. zurückkehren können«, glaubt er.
Momentan beschränkt sich Sotsialniy Rukh darauf, Deregulierungspläne der Regierung zu kritisieren – nicht die Verteidigungspolitik, die die Organisation befürwortet – und hier und da Proteste zu unterstützen, etwa gegen die Schließung von Kultureinrichtungen in Kiew, denen die Gelder gestrichen werden, oder Aktionen der Krankenpfleger*innen in der Westukraine, die ausstehende Löhne einforderten. Die Regierung in Kiew hat in den letzten Monaten das Arbeitsrecht demontiert. Auch die Arbeitslosenunterstützung wurde gekürzt, auf 6.700 Hrywnja, etwa 180 Euro, die Bezugsdauer auf 90 Tage begrenzt. Dem Staat geht das Geld aus. Die Einnahmen sind eingebrochen, die internationalen Finanzhilfen werden von den hohen Verteidigungsausgaben aufgezehrt.
Warum sollte man sein bisschen Geld den Oligarchen in den Rachen stopfen?
»Der Kriegsneoliberalismus der Regierung bietet keine Perspektive«, sagt Dudin. »Statt das Geld von den Oligarchen zu holen, den öffentlichen Sektor zu stärken und eine eigene staatliche Rüstungsindustrie aufzubauen, macht er unsere Gesellschaft schwächer und abhängiger von den Nato-Staaten. Ich glaube auch nicht, dass die Leute, die ins Ausland geflohen sind, große Lust haben werden, nach dem Krieg hier für niedrige Löhne zu arbeiten. Viele werden versuchen, im Ausland zu bleiben.«
Die Aktivist*innen von Sotsialniy Rukh sind überzeugt, dass es in der Gesellschaft Zustimmung zu grundlegenden linken Konzepten gebe, auch wenn sich diese derzeit kaum auf der Straße zeigen könne. »Liberale Meinungsführer beschweren sich seit Jahren, dass in der Ukraine alle noch der Sowjetunion nachtrauern und die Effizienz des Privatunternehmertums nicht verstehen würden«, erklärt Denis Pilash, auch er Mitglied bei Sotsialniy Rukh. Die Begeisterung für die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur sei nie groß gewesen. In den letzten Monaten hätten die Ukrainer*innen erlebt, dass das einzige, was gut funktioniere, die staatliche Eisenbahn sei, die Zehntausende Menschen in Sicherheit gebracht habe. Für die Privatwirtschaft könne man das nicht sagen. »Aktuell erleben wir die schwerste Krise der Energie- und Stromversorgung«, ergänzt Vitaliy Dudin. »Ja, daran ist Russland Schuld. Aber die Leute fragen sich, warum diese Unternehmen immer noch in privater Hand sind. Warum dürfen sie immer noch mit unserer Versorgung Profit machen? Warum sollte man sein bisschen Geld Achmetow und Kolomojskyj in den Rachen stopfen?«
Ein grundsätzliches Problem für linke Politik in der Ukraine bleibt die Diskreditierung ihrer Ideen, die im öffentlichen Diskurs mit der sowjetischen Vergangenheit in Verbindung gebracht werden – und die gilt heute als russisch. Die Regierung hat in den letzten Jahren zahlreiche Parteien verboten, denen sie vorwarf, als verlängerter Arm Moskaus zu fungieren. Auch wenn die Sotsialniy-Rukh-Aktivist*innen die meisten dieser Parteien nicht als linke Organisationen betrachten: Die Verknüpfung links = sowjetnostalgisch = prorussisch ist eine politische Waffe, die gegen jede progressive Äußerung zum Einsatz gebracht werden kann.
Nationalismus und russische Sprache
Dass es einen Aufschwung nationalistischer Stimmungen gibt und eine Abwehr gegen alles, was als russisch gilt, ist selbst für Kurzbesucher*innen der Stadt zu bemerken. Ende Oktober forderte Oleksiy Danilov, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, die russische Sprache aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Als Sotsialniy Rukh sich in einer Erklärung gegen dieses Vorhaben wandte, brachte das der Gruppe einen massiven Shitstorm von rechts bis links ein.
Wenn die Ukraine den Krieg verliert oder es ein schlechtes Verhandlungsergebnis gibt, dann wird der Revanchismus massiv anwachsen, und die extreme Rechte wird diese Welle anführen.
Sergey Movchan
»Ein großer Teil unser Zivilgesellschaft nimmt momentan eine sehr proukrainische Haltung ein«, erklärt Sergey Movchan. »Viele, auch Linke, sind einverstanden mit der Verbannung russischer Kultur und Sprache aus dem öffentlichen Leben.« Movchan ist Anarchist und aktiv bei Solidarity Collectives, einem Netzwerk zur Unterstützung linker Kämpfer*innen in der ukrainischen Armee und den Territorialverteidigungseinheiten. Auch humanitäre Hilfe organisieren er und seine Mitstreiter*innen. Movchan hat früher Aktivitäten der extremen Rechten dokumentiert, den wachsenden ukrainischen Nationalismus beobachtet er mit Sorge. »Es gibt eine Menge Leute in der Ukraine, die Russisch sprechen und das gern weiter tun würden. Was ist mit ihnen?«
Movchan glaubt, dass der große Zuspruch, den prorussische Parteien bisher genossen, vor allem daher rührt, dass viele Menschen ihre Alltagskultur geschützt wissen wollten. »Die meisten Leute haben diese Parteien nicht gewählt, weil sie für Putin wären, sondern weil die Parteien für diese Idee stehen: Wir vertreten deine Interessen als Russisch sprechende Person. Die Leute wollen ihre Sprache schützen, ihre Kultur, ihr Verständnis der Geschichte, aber sie wollen keine russischen Soldaten hier.« Deshalb sei die Unterstützung für den Kampf gegen die Invasion überall im Land hoch. Aber die Frage, wie das Leben der russischsprachigen Bevölkerung nach dem Krieg aussehen wird, bleibt.
Diese Frage beschäftigt auch Katharine Quinn-Judge, eine US-Forscherin, die in Kiew lebt. Quinn-Judge war früher Mitarbeiterin der International Crisis Group und arbeitet heute für ein Institut, das Berichte für internationale Organisationen erstellt, die in den vom Krieg betroffenen Gebieten tätig werden wollen. Quinn-Judge und ihre Kolleg*innen befragen Informant*innen aus diesen Regionen, selbst aus den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. So wollen sie einen Eindruck vom Alltag und von gesellschaftlichen Stimmungen vor Ort gewinnen.
Auch ein großer Teil der eher prorussisch eingestellten Menschen sei schockiert über die Invasion gewesen, bestätigt sie. Mit zunehmender Kriegsdauer seien aber Sorgen hinzu gekommen, wie nach einer Rückeroberung durch die Ukraine mit ihnen umgegangen würde. Manche Interviewte befürchteten, als Kollaborateure eingestuft zu werden, andere hätten Angst, dass die ukrainische Armee »Rache für Mariupol« nehmen könnte. In den noch besetzten Regionen sei zudem die Sorge vor Zwangsrekrutierungen in die russische Armee riesig. In den Volksrepubliken, wo seit Kriegsbeginn massiv rekrutiert wird, hätten viele Männer seit Monaten nicht mehr das Haus verlassen.
Ein großer Unsicherheitsfaktor ist die Frage, wie die Ukraine mit mutmaßlichen Kollaborateur*innen umgehen wird. Derzeit berät das ukrainische Parlament Gesetzesentwürfe hierzu. Quinn-Judge berichtet, wie die bisherigen Pläne bei einer Gesprächspartnerin aus Kherson ankamen. Die sehr proukrainisch eingestellte Lehrerin habe unter russischer Besatzung weiter unterrichtet, das könnte ihr nun als Kollaboration ausgelegt werden. »Es ist gut zu wissen, dass man in hohen Positionen in unserem Land Millionen stehlen kann, aber wer Kinder unterrichtet, die einen brauchen, wird wie ein Verbrecher behandelt«, habe die Frau sich empört. Ähnliche Sorgen machten sich Menschen, die Hilfen und Geld von den Besatzungsbehörden angenommen hätten. Viele der Befragten äußerten daher widersprüchliche Gefühle: einerseits Hoffnung auf Befreiung, gleichzeitig große Angst vor den Folgen.
Wohin sich die ukrainische Gesellschaft im Krieg entwickelt, beschäftigt auch Sergey Movchan. Linke aus dem Westen fragten häufig, ob nicht vor allem die Rechten vom Krieg profitieren würden. »Das ist der Grund, weshalb wir es so wichtig finden, dass auch Linke in der Armee kämpfen«, sagt Movchan. »Wenn wir als Linke nicht sichtbarer Teil dieses Kampfes sind, haben wir keine Zukunft.« Movchan erwartet, dass nach dem Krieg ein Wettstreit zwischen den politischen Richtungen entbrennen wird; wer keine Kämpfer*innen vorweisen könne, werde keine Chance haben.
Und wer wird den Wettstreit gewinnen? »Das kann momentan niemand sagen. Ich persönlich glaube, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt oder eine gute Verhandlungslösung erreicht, wird das als Selenskiyjs Erfolg verbucht werden. Auch wenn sein Stern danach schnell sinken wird, bietet das zumindest die Chance auf eine demokratische Entwicklung. Aber wenn die Ukraine verliert, wenn es ein schlechtes Verhandlungsergebnis gibt, dann wird der Revanchismus massiv anwachsen, und natürlich wird die extreme Rechte diese Welle anführen. Ich weiß, viele befürchten, dass ein ukrainischer Sieg den Nationalismus anheizen würde. Aus meiner Sicht ist es umgekehrt: Wenn die Ukraine verliert, gibt es hier eine riesige rechte Straßenmobilisierung, vielleicht einen rechten Durchmarsch in der Politik.«
Give Peace a Chance
Einer, der das alles ganz anders sieht, ist Yurii Sheliazhenko, Sprecher der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung – wobei sich im Gespräch nicht klären lässt, wie viele Mitglieder diese Bewegung hat. »Unsere Bewegung ist klein, aber ich denke, wir bilden eine große gesellschaftliche Tendenz ab«, sagt Sheliazhenko. »Kaum jemand möchte in den Krieg ziehen. Menschen kämpfen, töten und sterben nicht gern. Selbst wenn momentan laut Umfragen 80 Prozent den Krieg befürworten, sind nur wenige bereit, zur Armee zu gehen. Die meisten ignorieren die Einberufungsbriefe oder finden andere Gründe, um nicht am Kampf teilzunehmen. Darüber wird wenig gesprochen. In unserer militarisierten Kultur ist Kriegsdienstverweigerung stigmatisiert.«
Sheliazhenko sieht es als seine Aufgabe, diese »einfache Wahrheit« zu verbreiten, auch wenn er damit ein persönliches Risiko eingeht. Er ist überzeugt, dass die Kriegslogik durchbrochen werden muss – und kann, indem man sich der Erzählung von der gegenseitigen Bedrohung verweigert. »Es ist immer besser, zu reden als zu kämpfen«, sagt er.
Aber wie ist es dann überhaupt zum Krieg gekommen? Sheliazhenko sieht die Ukraine als Beute, um die sich die »Atlantizisten« und die Vertreter eines »Großeurasiens« streiten, beide mit der spiegelbildlichen Begründung, dass die jeweils andere Seite verkommen und böse sei und die Ukraine zur eigenen Sphäre gehöre. Der Konflikt habe sich in den letzten 30 Jahren in mehreren Etappen hochgeschaukelt, kriegerische Stimmen auf beiden Seiten, die auch ihren Einfluss auf die Medien ausgeweitet hätten, hätten ihn angeheizt. »Wer die Medien kontrolliert, kontrolliert sowohl die Menschen als auch die Märkte.«
In Deutschland ist Sheliazhenko seit Februar immer wieder zitiert worden, meist als antimilitaristische linke Stimme aus der Ukraine, die zu wenig Gehör finde. Bisweilen wurde er auch als verkappter Helfer Putins dargestellt, der vor allem dem Westen die Schuld am Krieg gebe und damit, gewollt oder nicht, der russischen Propaganda in die Hände spiele. Beides trifft die Sache nicht wirklich. Sheliazhenko beschreibt die Akteure, über die er spricht, nicht mit linken Begriffen – sein Kriterium ist, ob ein Konzept gewalttätig oder weniger gewalttätig ist. Im Gespräch erscheint Sheliazhenko nicht als heimlicher Bewunderer Putins, sondern als Humanist, der Gewalt grundsätzlich ablehnt und nicht unterscheidet, wer sie unter welchen Umständen ausübt.
Im Dunkeln
Die Aktivist*innen von Sotsialniy Rukh überzeugt das nicht, als wir uns am Abend des 23. November wieder treffen. Es ist der Tag der massiven Luftangriffe, die die Fahrt in Aleksandr Skybas Güterzug vorzeitig beendeten. Der Rückweg war weniger abenteuerlich als befürchtet. 20 Minuten entlang der Gleise zum nächsten Bahnhof, dort hat uns ein hilfsbereiter Autofahrer mitgenommen und am Stadtrand abgesetzt.
Nun sitzen wir in einer Bar im Bezirk Podil, es gibt keinen Strom, nur Kerzenlicht; wer die Speisekarte lesen will, muss mit dem Handy leuchten. Denis Pilash hat den Luftalarm im Keller der Universität verbracht, es war das erste Mal seit langem, dass die Lehrveranstaltung wieder vor Ort stattfand. Wladislaw Starodubtsew, Geschichtsstudent und ebenfalls bei Sotsialniy Rukh, war draußen unterwegs, als die Sirenen zu heulen begannen.
Es wäre sicher leichter für euch, wenn die USA uns überfallen hätte. Aber das können wir leider nicht anbieten.
Wladislaw Starodubtsew, Sotsialniy Rukh
Mit Sheliazhenkos Ansatz können beide wenig anfangen, davon, dass viele Linke im Westen den Kampf gegen den russischen Imperialismus skeptisch sehen, sind sie enttäuscht. »Es wäre sicher leichter für euch, wenn die USA uns überfallen hätte«, sagt Starodubtsew. »Aber das können wir leider nicht anbieten.«
Dabei ist es nicht so, dass große Begeisterung herrscht, selbst in den Krieg zu ziehen. Einzelne Mitglieder der Gruppe oder Menschen aus dem Umfeld sind zur Armee gegangen, die meisten nicht. Zwangsrekrutierungen sind in Kiew zumindest bislang kein Thema. Allerdings, so erzählt Brie, gebe es Soldat*innen, die die Armee wieder verlassen wollten, aber nicht könnten. Auch nach traumatischen Erlebnissen oder bei schwieriger persönlicher Lage gebe es keine offizielle Möglichkeit, den Dienst zu beenden, das sei ein Problem, von dem sie auch in ihrem Umfeld höre.
An der Notwendigkeit, sich der russischen Armee entgegenzustellen, änderten diese Probleme nichts. In der Ukraine gebe es noch politische Freiheiten, Russland sei eine Diktatur – und die Position des Kremls ultimativ: »Wir behalten einen Teil eures Landes, ihr müsst damit leben.« Das sei keine Basis für einen stabilen Frieden. »Für ernsthafte Friedensverhandlungen«, glaubt auch Vitaliy Dudin, »werden weitere Erfolge der ukrainischen Armee nötig sein.«
Zwischen Linken im Westen, die mit Sorge vor allem auf das Erstarken des eigenen Imperialismus blicken, und Linken in der Ukraine, die sich dem russischen Imperialismus gegenübersehen – und zugleich wachsendem Nationalismus und dem Abbau sozialer und demokratischer Rechte im eigenen Land begegnen müssen –, gibt es derzeit wenig Schnittmengen. Schwierige Zeiten für Internationalismus. »Aber wir bleiben optimistisch«, sagt Vitaliy Dudin. »Aus all den Widersprüchen wird früher oder später eine neue internationale Linke entstehen, meinst du nicht?«
Jan Ole Arps war Ende November gemeinsam mit Anna Jikhareva von der WOZ, Paul Simon von der Jungle World und dem freien Journalisten Volodya Vagner in Kiew.