Angst, Trauer und Misstrauen
Bei einem Brandanschlag starben am 25. März in Solingen vier Menschen – trotz der Festnahme eines Tatverdächtigen bleiben die Hintergründe unklar
Von Birgül Demirtaş
Am 25. März 2024 las ich früh morgens in den Nachrichten, dass es in einem Haus auf der Grünewalder Straße 69 in Solingen gebrannt hat und dabei drei Menschen umgekommen sind. Gegen Mittag berichteten die Medien, dass auch ein fünf Monate altes Baby tot in der Dachgeschosswohnung aufgefunden worden ist.
Wir trauern um die Ermordeten der aus Bulgarien stammenden muslimischen Familie:
Kancho Emilov Zhilov (geb. 22.11.1994)
Katya Todorovo Zhilova (geb. 19.09.1995)
Galia Kancheva Zhilova (geb. 14.04.2021)
Emily Kancheva Zhilova (geb. 25.10.2023)
Aus dem dritten Stock des brennenden Hauses sprang ein Vater mit einem sieben Monate alten Kind – mit einem um den Oberkörper gebundenen Tuch – aus dem Fenster und verletzte sich schwer, als sie auf das Dach eines dort parkenden Autos fielen. Anschließend sprang die Mutter und knallte ebenfalls auf das Auto. Mittlerweile geht es dem Kind und der Mutter etwas besser. Die Mutter wird weiterhin im Krankenhaus betreut. Der Vater wurde bei dem Sturz lebensgefährlich verletzt, hat mehrere Operationen durchmachen müssen und liegt derzeit im Koma.
Der Schock sitzt noch immer tief. Ich war entsetzt, als ich von dem Brandanschlag erfuhr und hatte meine Emotionen nicht unter Kontrolle. Ich konnte nicht glauben, dass ein Haus gebrannt hat – schon wieder in Solingen. Vor 31 Jahren verübten vier weiße Solinger hier einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç; am 21. Oktober 2021 warfen zwei weiße Jugendliche Molotowcocktails auf den Balkon von Sibel İşini, und jetzt sterben wieder Menschen in Solingen. Drei Brandanschläge in Solingen. Das macht Angst.
Erdrückende Stille
Betroffene und Überlebende von extrem rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sind bundesweit seit Jahren sehr gut miteinander vernetzt. Auch in Solingen. Familienangehörige der Familie Genç, Sibel İşini und ich treffen uns regelmäßig, wir tauschen uns aus und organisieren gemeinsam Veranstaltungen, die wir teilweise auch öffentlich durchführen.
Am 25. März gegen Mittag mobilisierten wir solidarische Menschen und trafen uns vor dem ausgebrannten Haus in der Grünewalder Straße. Der Anblick des Hauses war erschreckend und löste Ängste und auch Wut aus. Es roch extrem verbrannt. Erinnerungen an den 29. Mai 1993, als fünf Menschen starben, wurden bei uns wach. Vor Ort erfuhren wir von Nachbar*innen, dass in dem Haus überwiegend migrantisierte und rassifizierte Menschen wohnen. Das warf Fragen über mögliche Hintergründe auf. Wir vermuteten sofort, dass der Brand vorsätzlich gelegt worden sein könnte. Zwei Tage später bestätigte die Staatsanwaltschaft, dass es sich um einen vorsätzlichen Anschlag gehandelt hat.
Ein rassistisches Motiv wurde allerdings bereits zu Beginn ausgeschlossen. Diese frühe Festlegung, während die Ermittlungen noch laufen, ist irritierend. Nach den Erfahrungen mit den Anschlägen von 1993 und 2021 in Solingen oder auch in Duisburg 1984, nach den NSU-Morden, nach Hanau und nach Halle halten wir es für wichtig, insbesondere nach rassistischen Motiven zu suchen, zumindest aber in alle Richtungen zu ermitteln. Die derzeit laufende rassistische Mobilisierung – auch von demokratischen politischen Eliten und Politiker*innen – erinnert an die gesellschaftliche Stimmung in den 1990er Jahren, die Solingen, Hünxe, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen vorausging. Die aktuellen öffentlichen migrationspolitischen Diskurse wirken als Verstärker für rassistische Gewalttaten.
Nach dem Anschlag besorgten sich Betroffene Feuerlöscher und Strickleitern. Es wächst die Angst, dass es wieder zu einem Anschlag kommen könnte. Manche denken darüber nach, die Stadt zu verlassen.
Nach dem 25. März besorgten sich erneut viele Betroffene Feuerlöscher und Strickleitern für ihre Wohnungen und Häuser. Es wächst die Angst, dass es wieder zu einem Anschlag kommen könnte. Manche denken darüber nach, die Stadt zu verlassen. Auch ich habe erneut Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Sogar mein Sohn will sich eine Abseilvorrichtung besorgen, weil er im Dachgeschoss wohnt. Die Emotionen in Solingen sind schwer auszuhalten.
Nach einem Trauermarsch an Karsamstag, an dem rund 800 Menschen teilnahmen, wurde es erdrückend still in Solingen. Die Ostereinkäufe liefen wie üblich weiter und dann kamen die Feiertage. Es war, als ob hier nichts geschehen sei. Überlebende kritisieren die Stadt und den Oberbürgermeister, der der Trauerfeier am 3. April fernblieb. Solinger Politiker*innen bekundeten nicht einmal ihr Beileid – keine Besuche im Krankenhaus, keine Besuche zu Hause. Allein auf der Sachebene reagierte die Stadt und eröffnete ein Spendenkonto für die Hinterbliebenen und Betroffenen. Die Überlebenden wurden in einer Notunterkunft untergebracht.
Das mag sich zunächst beruhigend anhören. Doch als ich selbst dort war, um meine Unterstützung anzubieten, war ich schockiert. Ich sah, wie Überlebende mit Farbeimern und Farbrollen die Räumlichkeiten der Unterkunft strichen, um den Schimmel an den Wänden zu überdecken. Der Anblick brach mir das Herz. Menschen, die traumatisiert sind, weil sie gerade einen Brandanschlag überlebt haben, streichen die Unterkunft, die die Stadt ihnen angeboten hat. Die Menschen in der Notunterkunft haben keine Küche. Bekannte und andere Familien bringen täglich Essen vorbei. Inzwischen wurde das Baby aus dem Krankenhaus entlassen und wohnt ebenfalls in dieser Wohnung. Zwei Familien (vier Personen) schlafen in einem Zimmer. Es gibt drei Betten; kein Fernsehen, kein Radio. Das sind schreckliche Zustände.
Betroffene und Überlebende haben Angst, dass das Haus abgerissen und somit Beweise zerstört werden könnten.
Von außen, wenn wir die Nachrichten lesen und hören, scheint alles ok zu sein in Solingen. Wenn ich die Vorkommnisse in der Stadt, das Verhalten der städtischen Vertreter*innen mit Blick auf den Anschlag und gegenüber den Überlebenden und Betroffenen betrachte, sehe ich dagegen die Unfähigkeit, menschlich zu handeln, zu trauern, Empathie und Solidarität aufzubringen. Es wird insgesamt nicht wahrgenommen, welche Signale das Fernbleiben von der Trauerfeier, das Fehlen von Kondolenzbesuchen und die fehlende soziale Unterstützung an die Überlebenden aussendet. In 31 Jahren wurde in Solingen scheinbar nichts gelernt.
»Unser Hab und Gut wurde mit Füßen getreten«
Das Misstrauen ist groß. Am 5. April stellten Überlebende und Betroffene fest, dass vor dem abgebrannten Gebäude ein Baugerüst aufgestellt wurde. Informiert hatte sie darüber niemand. Auf Anfrage bei der Solinger Polizei stellte sich heraus, dass die Stadt den Aufbau des Gerüstes beauftragt hatte. Die Familien berichteten, dass ihnen persönliche Gegenstände und Erinnerungsstücke von Fremden übergeben worden waren. Das löste heftige Reaktionen aus: »Unter normalen Umständen hätten uns unsere persönlichen Gegenstände, die als Beweismittel bei der Untersuchung der Brandstiftung dienen könnten, von den Justizbehörden ausgehändigt werden müssen. Unser persönliches Hab und Gut und unser Privatleben wurden mit Füßen getreten.«
Andere Überlebende erklärten: »Die Staatsanwaltschaft und die Polizei befinden sich noch in der Ermittlungsphase. Sie haben nicht einmal unsere Aussagen aufgenommen.« Die Angehörigen der Opfer, die bei dem Sturz schwer verletzt wurden, betonten, dass sie nur durch die Warnung der Nachbar*innen davon erfuhren, dass sich Bauarbeiter in dem Gebäude aufhielten. Eine angehörige Person sagte: »Wir waren in Köln, weil mein Sohn und meine Schwiegertochter operiert wurden, die bei dem Sturz aus dem Fenster schwer verletzt wurden. Wir gingen dann zur Polizei mit dem Verdacht, dass Beweise vernichtet würden.«
Inzwischen haben Rechtsanwalt Adnan Menderes Erdal und Überlebende Anzeige bei der Polizei erstattet, weil Eigentum der Überlebenden aus dem abgebrannten Haus entsorgt wurde. Am 8. April 2024 wurde von den Überlebenden und deren Anwalt ein unabhängiges Gutachten beauftragt. Es soll ermittelt werden, ob das Haus einsturzgefährdet ist. Die Überlebenden stellen sich die Frage, warum mit den Aufräumarbeiten seitens der Stadt Solingen begonnen wurde, wenn noch unklar ist, ob überhaupt Einsturzgefahr besteht. Betroffene und Überlebende haben Angst, dass das Haus abgerissen und somit Beweise zerstört werden könnten. Nun halten wir abwechselnd Wache.
Am 10. April gaben Polizei und Staatsanwaltschaft auf einer Pressekonferenz bekannt, dass ein ehemaliger Mieter des Hauses, der 39-jährigen Daniel S., als Tatverdächtiger festgenommen worden ist. Während der Oberbürgermeister Tim Kurzbach, Stadtdirektorin Dagmar Becker sowie Ordnungs- und Rechtsdezernent Jan Welzel ihre Erleichterung über den Ermittlungserfolg erklärten, bleiben rassifizierte und migrantisierte Menschen in Solingen dennoch sehr aufmerksam und sind beunruhigt. Seit dem Anschlag ist der Eindruck entstanden, dass Behörden und Mehrheitsgesellschaft vor allem darauf hoffen, dass es kein rassistisches Motiv gab. Aber nichts ist bisher geklärt. Ich schließe ein rassistisches Motiv noch immer nicht aus. Als Solingerin habe ich zu viele unbeantwortete Fragen. Die Erfahrung zeigt, dass Rassismus in der Vergangenheit zu oft übersehen wurde. Wir fordern daher zur vollständigen Aufklärung des Brandanschlags auf.