Neue Fragen, altes Misstrauen
Zunächst hielt der Gelbwestenprotest Frankreich in Atem, dann die Rentenbewegung - nun liegt die »Rentenreform« auf Eis
Von Bernard Schmid
Äußerst chaotisch ging es zuletzt in Frankreich auf der politischen Ebene bei der Lockerung von Corona-Maßnahmen zu. Im Unterschied zu EU-Ländern wie Deutschland oder auch Italien gab die Mehrheit der französischen Bevölkerung den Regierenden in der Krise keinerlei Vertrauensbonus, um das Mitte Mai vollzogene déconfinement – so heißt zwischen Ärmelkanal und Pyrenäen die teilweise Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen – zu organisieren.
Auch wenn Umfragen nur oberflächlich Symptome benennen, so stellen sie doch auch einen Gradmesser dar. Glaubt man einer am ersten Mai-Wochenende durch die Sonntagszeitung JDD publizierten Umfrage, dann vertrauten nur 39 Prozent auf die Fähigkeiten der Staatsspitze unter Präsident Emmanuel Macron und Edouard Philippe, einen geordneten Ausstieg aus der akuten sanitären Krise organisieren zu können. 20 Prozent erklärten, die rechtsextreme Oppositionspolitikerin Marine Le Pen würde es besser machen. Ebenfalls 20 Prozent nannten den konservativen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy – er hat sich zwar aus der aktiven Politik zurückgezogen, aber wer kennt schon das jetzige Führungspersonal seiner Partei Les Républicains? Und 15 Prozent hielten den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon für fähiger als Macron und Philippe. Drei Tage später waren bei einer neuerlichen Umfrage des Instituts Elabe die Vertrauenswerte für Macron und das Regierungslager von 39 sogar noch weiter auf nur noch 34 Prozent abgestürzt.
Konfliktstoff bot in den Tagen vor den ersten Aufhebungen der Ausgangsbeschränkungen unter anderem die geplante Rückkehr in die Schulen. Ab 11. Mai wurden zuerst die Kindertagesstätten und mehreren Grundschulklassen geöffnet, die Mittelstufen sollen Ende Mai folgen, die Oberstufen voraussichtlich im Juni, Universitäten hingegen erst im September. In den Augen der breiten Öffentlichkeit geht es bei diesem Vorgehen nicht um pädagogische Erfordernisse wie das Vermeiden von Lernlücken, sondern vor allem darum, die Eltern von Erziehungserfordernissen freizustellen, um die Produktion wieder anzufahren.
Gewerkschaften drohen mit Arbeitsverweigerung
Die Wiederaufnahme der Produktion »unter Eindämmung der sanitären Risiken« forderten unter anderem der Arbeitgeberverband MEDEF und die beiden rechtesten Gewerkschaftsdachverbände in Frankreich, die an der Spitze sozialliberal geführte CFDT und der christliche Gewerkschaftsverband CFTC, stets um so genannte Verantwortung fürs nationalökonomische große Ganze bedacht.
Viele glauben, es gehe bei der Öffnung der Schulen darum, die Eltern wieder für die Produktion freizustellen.
Linkere Gewerkschaften hingegen drohten mit Arbeitskämpfen; sie berieten über die Ausübung des (individuellen) Arbeitsverweigerungsrechts im Falle gesundheitlicher Risiken am Arbeitsplatz, forderten Vorrang für den Gesundheitsschutz der abhängig Beschäftigten und monierten, dass die Behörden nach wie vor etwa zu massenhaften Tests auf Covid-19 unfähig seien. Der Amazon-Konzern in Frankreich wurde am 14. und 24. April durch zwei Instanzen hindurch gerichtlich verurteilt, weil er nicht in der Lage war nachzuweisen, dass er sein Personal gegen die Pandemie schützt, während im Zuge der Mobilitätsbeschränkungen mehr Bestellungen als sonst bearbeitet wurden. Amazon behauptete unter dem Druck der öffentlichen Meinung, nur »dringende« Bestellungen zu bearbeiten. Doch die Klägerpartei – der linke Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires – führte in den Auftragslisten auch Videospiele, DVDs und Sex-Toys auf. Amazon wurde dazu verurteilt, sich auf die Auslieferung von Nahrungsmitteln, medizinischen Artikeln sowie Schreibbedarf zu beschränken und Risikoanalysen für die einzelnen Arbeitsplätze vorzulegen. Daraufhin zog es der Konzern vor, seine Standorte in Frankreich vorerst zu schließen und vom europäischen Ausland aus zu liefern.
Über elf Millionen Lohnabhängige bezogen Anfang Mai in Frankreich Kurzarbeitergeld. Ab Anfang Juni sollen laut Arbeitsministerin Muriel Pénicaud diese jedoch den Anspruch auf Lohnersatz verlieren, wenn die Schulen oder Kitas wieder offen stehen. Anfang Mai erklärten allerdings 60 Prozent der Bevölkerung, bei der Wiedereinschulung vorläufig nicht mitmachen zu wollen, und Bildungsgewerkschaften bereiteten mancherorts Lehrkräfte auf Streiks und/ oder die Ausübung des individuellen Arbeitsverweigerungsrechts vor.
Öffentlicher Protest und Repression
Die derzeit bestehenden rechtlichen Regelungen zu Protesten im öffentlichen Raum sind ambivalent. Einerseits waren Versammlungen seit dem 17. März im Prinzip verboten, seit dem 11. Mai sind vorläufig und bis zum geplanten Ende des »sanitären Notstands«am 24. Juli nur Versammlungen mit maximal zehn Personen zugelassen; für kommenden Herbst stellt Innenminister Christophe Castaner eine Obergrenze bei Sportveranstaltungen von 5.000 in Aussicht. Auf der anderen Seite präzisiert das Gesetz zum »sanitären Notstand«vom 22. März, das Verbot gelte nicht, falls die Teilnehmenden »mindestens zwei Meter Abstand hielten«. Es gibt allerdings keine mit dem deutschen Verfassungsgerichtsurteil zu Gießen vergleichbare Entscheidung, die unter solchen oder auch zusätzlichen Voraussetzungen Versammlungen unter freiem Himmel ausdrücklich erlaubt hätte.
Riots in den Vororten
Am 10. Mai, kurz vor Ende der ersten Phase der Ausgangsbeschränkungen in Frankreich, publizierte die Internetzeitung Huffington Post einen Artikel, der die Frage aufwarf, warum die Menschen, die im Département Seine-Saint-Denis wohnen – dem ärmsten französischen Verwaltungsbezirk, der die nördlich und nordöstlich an Paris angrenzenden Trabantenstädte umfasst – einen drei mal höheren Anteil an Strafbescheiden wegen vermeintlicher Verstöße gegen die Auflagen aufwiesen als anderswo im Land. Loïc Lequellec, Mitglied der Anwaltskammer des Bezirks, sagte der Zeitung, Kontrollen würden in diesen und anderen Banlieues (Vorstadtzonen) oft aggressiver durchgeführt. Polizeiangehörige fragten dort unter Umständen gar nicht nach, ob die Betreffenden über einen zum Ausgang berechtigenden Passierschein verfügten. Das Département Seine-Saint-Denis hat eine stärkere Bevölkerungsdichte, aufgrund von Hochhaussiedlungen, und vielerorts auch mehr überbelegte Wohnung als anderswo. Auch vor diesem Hintergrund wuchsen die Spannungen im Laufe der Wochen. In der Nacht vom 18. zum 19. April wurde ein Dreißigjähriger in Villeneuve-la-Garenne (in einem Nachbarbezirk von Seine-Saint-Denis) beim Zusammenstoß mit der Tür eines Polizeiautos schwer verletzt. Die Polizeiversion lautete, er sei von selbst auf das Polizeifahrzeug zugerollt, viele Menschen vor Ort bezweifelten das aber und geben an, ein Beamter habe die Tür ruckartig geöffnet, um den Fahrer zum Sturz zu bringen. In der Folgezeit brannte es mehrere Nächte lang an verschiedenen Stellen in den umliegenden Städten.
Die Folgen waren beispielsweise am 1. Mai zu beobachten: In Paris versuchte an diesem Tag eine kleine Gruppe von Menschen zu protestieren, alle Teilnehmenden wurden jedoch zwecks Personalienaufnahme vorübergehend festgenommen; gegen eine Teilnehmerin wurde eine Ermittlungsverfahren eingeleitet. Am Nachmittag wurde unter anderem am Bezirksrathaus im 18. Pariser Arrondissement zu demonstrieren versucht, ebenso im 11. und im 20. Pariser Bezirk. Ein stattliches Polizeiaufgebot zerstreute im 18. Arrondissement die Teilnehmenden vom berufsgruppen- und organisationsübergreifenden Streikkomitee (Comité interpro), das im Kampf gegen die Rentenreform im Januar gebildet worden war. Manche von ihnen demonstrierten kurz darauf vor einem Krankenhaus am nördlichen Pariser Stadtrand (hôpital Bichat), wo seit Monaten das Personal protestiert – und erhielten Strafzettel zu je 135 Euro wegen Verstoßes gegen die Corona-Auflagen.
Im Pariser Vorort Montreuil wurde ebenfalls am 1. Mai nicht nur eine Demonstration durch ein riesiges Polizeiaufgebot unterbunden, sondern auch eine Essensausgabe durch die brigades de solidarité populaire. Letztere gingen aus der autonomen Szene hervor und versuchen, Bedürftigenhilfe – in dieser Zeit ohne Einkommen für viele Prekäre – mit Agitation zu verknüpfen. Ungehindert konnte dagegen Marine Le Pen am Vormittag des 1. Mai mit einzelnen Getreuen einen Kranz an der Statue der »Nationalheiligen«Jeanne d’Arc am Pariser Pyramidenplatz niederlegen.
»Rentenreform« vorerst beerdigt
Mit Blick auf die sozialen Bewegungen der jüngeren Vergangenheit ist man sicherlich nicht unglücklich über wenigstens ein Kollateralopfer der Corona-Epidemie: Die zu Anfang des Jahres heftig umkämpfte Konterreform bei den Rentensystemen, deren parlamentarische Verabschiedung noch nicht abgeschlossen war, wurde auf Eis gelegt. Aufgrund der Corona-Krise und ihrer nunmehr zu bewältigenden Folgen dürfte diese die Gesellschaft stark polarisierende »Reform«in dieser Legislaturperiode keinen Platz mehr im parlamentarischen Kalender finden. Die nächste Nationalversammlung wird turnusmäßig im Frühjahr 2022 gewählt. Der Fraktionsvorsitzende der Präsidentenpartei LREM, Gilles Le Gendre, hatte bereits Ende März durchblicken lassen, dass die Rentenreform in dieser Legislaturperiode vom Tisch sei.
Weiter ausdifferenziert hat sich derweil das von Beginn an politisch-ideologisch äußerst heterogene Spektrum der Protestbewegung der Gelbwesten (gilets jaunes), die vor allem im Winter 2018/ 19 viel Aufmerksamkeit erlangten. Im Laufe des Jahres 2019 hatte die Bewegung weitgehend ihre einigende Klammer verloren, viele Gruppen blieben jedoch weiterhin aktiv. Organisierte Rechtsextreme, die zunächst in Teilsegmenten dieses Protests ebenfalls eine Rolle gespielt hatten, zogen sich ab Frühjahr 2019 zurück. Einige Gruppe waren explizit links geprägt, andere eher von Verschwörungsgläubigen, die in den Reihen der Gelbwesten ebenfalls ein nennenswertes Gewicht aufwiesen und -weisen.
Die linken Teile der Gelbwesten traf man großenteils in der Protestbewegung gegen die »Rentenreform« wieder. Auf dieselben Kräfte trifft man nun auch in den zahlreichen Diskussionsforen, die sich auf die sozialen Proteste in der Zeit nach dem Corona-Notstand vorbereiten. Die Letztgenannten blieben jedoch ebenfalls nicht inaktiv und bevölkern derzeit zahlreiche Medienkanäle in den Untiefen des Internet, wo man sich in jüngerer Zeit vor allem – aus absoluter Laienperspektive, aber dafür umso lauter – mit medizinischen Kontroversen beschäftigt.
Es geht dabei vor allem um den Streit zwischen der offiziellen Gesundheitspolitik einerseits und dem in Marseille ansässigen Medizinprofessor Didier Raoult andererseits. Raoult propagiert seit Wochen, das früher verbreitete Malariamittel Chloroquin, das seit Herbst 2019 in Frankreich als toxisch eingestuft wird, stelle einen billigen und bereits allseits verfügbaren Stoff dar, mit dem sich das neue Coronavirus behandeln lasse. Auch US-Präsident Donald Trump mischte in dieser Debatte zeitweilig mit und pries Chloroquin als vermeintliches Wundermittel an.
Der teils irrationalen Heilserwartung gegenüber Raoult und dem Chloroquin haben sich auch Teile des früheren Gelbwesten-Protestspektrums verschrieben. Ganze Internetforen mit Zehntausenden Beteiligten, die sich im Umfeld der Bewegung gründeten, wie etwa Citoyens Jaunes, wurden mittlerweile zu Pro-Raoult-Unterstützergruppen umfunktioniert.