Zufälle gibt´s, die gibt es gar nicht
In Mühlhausen stehen zwei Neonazis vor Gericht – sie überfielen Journalisten und verletzten sie schwer
Manchmal setzen deutsche Gerichte ihre Prozesstermine so an, dass es zu aufschlussreichen Zufällen kommt. In der zweiten Septemberwoche begannen gleich drei Verfahren, die mit den Aktivitäten von Neonazis in den so genannten neuen Bundesländern zu tun haben, und zwar zwei in Sachsen und eines in Thüringen.
Im thüringischen Mühlhausen war am 7. September der erste Verhandlungstag im Prozess gegen die Neonazis Nordulf H. und Gianluca B., die angeklagt sind, zwei Göttinger Fotojournalisten attackiert und schwer verletzt zu haben. Einen Tag später, an einem Mittwoch, begann in Dresden das Verfahren gegen die Leipzigerin Lina E. und drei Mitangeklagte (siehe Seite 3), bei dem die Sachlage quasi umgekehrt ist. Den Vieren wird vorgeworfen, Neonazis attackiert und verletzt zu haben. Schließlich wurde am selben Tag in Chemnitz die Hauptverhandlung im Verfahren gegen einen Neonazi eröffnet, der angeklagt war, während der rechten Ausschreitungen im Herbst 2018 in der sächsischen Stadt aus einer Gruppe von Vermummten heraus das jüdische Restaurant Schalom und seinen Besitzer angegriffen zu haben.
Aufschlussreich ist dieser Zufall wegen des erkennbar unterschiedlichen Vorgehens von Polizei und Justiz in den drei Verfahren. Hier lässt sich so deutlich wie selten illustrieren, was von links oft kritisiert, von staatlichen Behörden und ihren Claqueuren dagegen stets bestritten wird: dass der Staat mit zweierlei Maß misst, rechte Täter*innen oft mit Samthandschuhen anfasst, während bei Linken durchgegriffen wird.
Im Fall Lina E. wurde von Anfang an ein großes Rad gedreht. Die Generalbundesanwaltschaft übernahm die Ermittlungen, der Paragraf 129 Strafgesetzbuch (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) wurde herangezogen, die Beschuldigte sitzt seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft. Der Prozessauftakt vor dem Oberlandesgericht Dresden wurde von einem ähnlichen Presserummel begleitet wie ihre Festnahme Anfang November 2020, Lina E. als »Linksterroristin« hingestellt.
Fast geräuschlos und von überregionalen Medien kaum wahrgenommen, ging dagegen der Prozess wegen des Angriffs auf das Restaurant Schalom im Herbst 2018 über die Bühne. Nach zwei Verhandlungstagen sah es das Amtsgericht Chemnitz als erwiesen an, dass der Neonazi Kevin A. aus dem niedersächsischen Stade an den Steinwürfen auf das Gebäude und den Restaurantbesitzer beteiligt war. Das Urteil bestätigte die These von den doppelten Maßstäben: Der Mann kam mit einem Jahr Haft auf Bewährung davon. In den Prozessen nach dem G-20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 wurden erheblich härtere Haftstrafen für weitaus geringere Taten verhängt – ohne Bewährung.
Vor diesem Hintergrund sind Befürchtungen angebracht, dass auch der Prozess, der am 7. September vor dem thüringischen Landgericht Mühlhausen begonnen hat, mit einem milden Urteil enden könnte. Aber vielleicht kann die Kammer die Skeptiker*innen ja auch überraschen. Die Tat ist jedenfalls so brutal und folgenreich, die Beweislage erscheint so eindeutig, dass alles andere als mehrjährige Haftstrafen wohl ein Skandal wäre.
Es geschah am 29. April 2018: Die beiden Fotojournalisten, die im Prozess als Nebenkläger auftreten, wollten ein Neonazitreffen auf dem Anwesen von Thorsten Heise, Mitglied im NPD-Bundesvorstand, im etwa 30 Kilometer von Göttingen entfernten thüringischen Fretterode dokumentieren. Dort hat Heise 1999 das Gutshaus Hanstein gekauft, mittlerweile ein wichtiger Vernetzungs- und Versammlungsort der Neonaziszene. Die Journalisten wurden bei ihrer Recherche bemerkt, sie flüchteten im Auto. Nordulf H. und Gianluca B. verfolgten sie mit einem BMW und versuchten sie von der Straße zu drängen, so die Schilderung der Nebenkläger.
Als diese sich nach einigen Kilometern im Ort Hohengandern in einem Straßengraben festfuhren, seien die Neonazis sofort zum Angriff übergegangen. Einer habe sämtliche Reifen des Wagens zerstochen, die Seitenscheiben des Autos eingeschlagen und Reizgas ins Innere gesprüht. Der zweite sei erst mit einem Baseballschläger auf einen der Insassen des Fahrzeugs losgegangen und habe ihm mit einem unterarmlangen Schraubenschlüssel auf den Kopf geschlagen. Der Angegriffene erlitt eine große offene Wunde am Kopf. Der andere Neonazi stach mit einem Messer auf den zweiten Fotografen ein und fügte ihm eine Stichwunde am Bein zu. Anschließend flüchteten die Täter mit der Kameraausrüstung, aus der eine SD-Karte aber schon vorher gesichert worden war. Die Verletzten mussten in einer Klinik behandelt werden.
Bis heute leiden die beiden Fotojournalisten unter den Folgen der Tat, wie der Göttinger Anwalt Sven Adam, der einen von ihnen als Nebenkläger vertritt, gegenüber ak erklärte. Die psychischen Folgen eines solchen traumatisierenden Überfalls seien »evident«, sagte er, aber es seien auch körperliche Folgen festzustellen. »Der mit dem Messer angegriffene Betroffene hat zum Glück nur eine kleine Narbe am Bein davongetragen«, so Adam. Sein Kollege dagegen werde sein Leben lang gezeichnet bleiben »durch eine richtig große Narbe, die über den Kopf läuft«. Seine journalistische Tätigkeit habe er nach dem Vorfall in Hohengandern aufgegeben.
Nur keine Hektik
Wie es immer wieder der Fall ist, wenn Tatverdächtige aus rechten Milieus kommen, ließ die Polizei es nach dem Angriff am 29. April 2018 erst mal ruhig angehen. Wenige Stunden nach der Tat gab es zwar eine Hausdurchsuchung bei Heise in Fretterode. Dabei seien aber nur zwei Beamte eingesetzt worden, wie die Antifa-Kampagne Tatort Fretterode kritisierte. Die Neonazis hätten während der Razzia noch Gegenstände und Kleidungsstücke aus dem Tatfahrzeug entfernen können. Es sei zwar eilig eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei nach Fretterode beordert worden – aber nicht etwa, um die Razzia zu unterstützen, sondern zum Schutz der Familie Heise vor vermuteten Racheaktionen der Antifa.
Zudem habe es Versuche der Polizei, später auch von der Staatsanwaltschaft gegeben, »den Fall herunterzuspielen und nicht klar als einen Angriff von Neonazis auf Journalisten zu benennen«, so die Initiative Tatort Fretterode. Es sei der Eindruck vermittelt worden, es handele sich um eine Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts. Die Staatsanwaltschaft habe sogar öffentlich erklärt, sie prüfe, ob die Fotos, die die Täter während des Angriffs zeigten, manipuliert worden seien. Die Haltung der Ankläger habe sich erst geändert, nachdem die Opfer mit Unterstützung ihrer Anwälte selbst an die Öffentlichkeit gegangen seien.
Anders als es bei linken Tatverdächtigen meist läuft, legten die Ermittler*innen und die Justiz in diesem Fall keinen übertriebenen Eifer an den Tag. Erst dauerte es Monate, bis Anklage erhoben wurde, dann verzögerte sich der Prozessbeginn durch die Pensionierung eines Richters und die Corona-Pandemie. Ergebnis: Der Prozess begann jetzt drei Jahre und vier Monate nach der Tat. »Die lange Dauer bis zur Anklageerhebung und jetzt bis zur Verhandlung ist eine Unverschämtheit«, erklärte die Antifa-Kampagne Tatort Fretterode gegenüber ak: »Hätte das Gericht nach Anklageerhebung direkt terminiert, wäre es gar nicht erst in die Corona-Zeit verschleppt worden.«
Für Unverständnis bei den Anwälten der Nebenkläger und der linken Öffentlichkeit sorgt auch der Umstand, dass Nordulf H. und Gianluca B. trotz der Schwere der Tat keinen Tag in Untersuchungshaft waren. Rechtsanwalt Sven Adam verweist auf den G-20-Gipfel in Hamburg, bei dem Gipfelgegner aus relativ nichtigen Anlässen in U-Haft kamen und das oft für Monate. Nebenklageanwalt Adam sieht im Verzicht auf U-Haft für die Neonazis eine »katastrophale Fehlentscheidung«. Angesichts der Schwere der Tat hätte die Staatsanwaltschaft von einer Fluchtgefahr ausgehen müssen. »Wenn dann U-Haft verhängt worden wäre, dann wären wir seit zwei Jahren fertig mit dem Prozess«, sagte Anwalt Adam. Sobald die Angeklagten oder Beschuldigten in U-Haft sitzen, gilt nämlich ein Beschleunigungsgrundsatz, der gebietet, dass das Verfahren schnell abgeschlossen wird.
Nebenklageanwalt Sven Adam sieht im Verzicht auf U-Haft für die Neonazis eine katastrophale Fehlentscheidung.
Kritisiert wird vom Anwalt auch, dass die Staatsanwaltschaft keine Anklage wegen versuchten Totschlags, sondern nur wegen schweren Raubs und gefährlicher Körperverletzung erhoben hat. Das sei »schon eine Verharmlosung des Angriffs an sich«, heißt es von der Antifa-Kampagne Tatort Fretterode: »Es zeigt uns, dass die Brutalität der Neonazis nicht ernst genommen wird.« Am ersten Prozesstag, dem 7. September, ließen die Angeklagten übrigens durch ihre Verteidiger eine Erklärung verlesen, wonach alles ganz anders gewesen sein soll und sie die Angegriffenen gewesen seien. Sven Adam sprach vom »klassischen Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr«.
Mitten im Thorsten-Heise-Land
Gianluca B. und Nordulf H. gehören nach Angaben der Initiative Tatort Fretterode der Neonazi-Kameradschaft Arische Bruderschaft an, in der sich die engsten Kameraden von Thorsten Heise sammeln. In den vergangenen Jahren traten beide regelmäßig als Ordner bei Neonazi-Festivals auf, die von Thorsten Heise und der Arischen Bruderschaft organisiert worden waren, wie beispielsweise dem »Schild & Schwert-Festival« im sächsischen Ostritz. B. gelte seit einigen Jahren als einer der Nachwuchskader im Umfeld von Thorsten Heise. Zum Tatzeitpunkt sei er stellvertretender NPD-Landesvorsitzender in Niedersachsen gewesen, sei aber auch in Thüringen aktiv gewesen.
Nordulf H. wurde nach den Antifa-Recherchen kurz nach dem Angriff in die Schweiz gebracht, wo er bei einem engen Freund von Thorsten Heise, Silvan Gex-Collet, Unterschlupf fand. Gex-Collet gilt als Verantwortlicher für die Oberwalliser Sektion von Blood & Honour (B&H). Er betreibt im Wallis das B&H und Combat 18 nahestehende Tattoo-Studio Nordic Thunder. Heise, aber auch andere Neonazi-Strukturen aus Thüringen, pflegen nach Angaben der Antifa-Kampagne Tatort Fretterode enge Kontakte und Freundschaften in die Schweiz. Heise sei immer wieder für Veranstaltungen in das Land gereist und dort als Redner aufgetreten. Seit dem Umzug von Nordulf H. in die Schweiz seien fast monatlich Thüringer Neonazis in die Schweiz gefahren, um sich mit den dortigen Strukturen zu vernetzen. Im Hintergrund dieser Verbindungen stehen Netzwerke wie Blood & Honour und Combat 18.
In einer Mitteilung zum Prozessauftakt in Mühlhausen wies die Antifa Göttingen darauf hin, die »Zurückhaltung der Justiz bezüglich Thorsten Heise und seinem Umfeld« sei »mehr als auffällig«. Seine Bedeutung für die »extreme Rechte« sei bekannt. Heise habe zahlreiche Organisationsversuche der extremen Rechten in den letzten 40 Jahren mitgestaltet, etwa die neonazistische Skinheadszene, die inzwischen verbotene Kleinstpartei FAP, die Kameradschaften und die NPD. Zudem organisiere Heise Konzert- und Kampfsportevents für die Szene und halte Kontakt zu bewaffneten Neonazis. »Dass er und sein engeres Umfeld dennoch bisher durch die Justiz nicht belangt wurden, zeigt, dass der Staat den Faschisten anscheinend nicht Einhalt gebieten will«, so die Initiative Tatort Fretterode.
Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass Heise für diesen Staat und seine Dienste irgendwie von Nutzen ist. Es ist ja kein Geheimnis, dass zentrale Figuren der Neonaziszene als V-Leute tätig sind und Verfassungsschutz und Co. auf diese Weise vor allem in den 1990er Jahren den Aufbau der Strukturen mitfinanziert haben. Das wäre auch eine plausible Erklärung für die nicht zu übersehende Zurückhaltung im Verfahren gegen Nordulf H. und Gianluca B. und lässt befürchten, dass sie im Prozess vor dem Landgericht Mühlhausen, der bisher bis Mitte Oktober terminiert ist, mit einem blauen Auge davonkommen.