In der Zeitschleife
Eskaliert der Konflikt im Nahen Osten, eskaliert in Deutschland der Antisemitismus – quer durch alle Bevölkerungsgruppen
Von Anne Goldenbogen
Betrachtet man die Debatten um die Proteste gegen den Gazakrieg, kann es passieren, dass man sich wie in einer Zeitschleife fühlt. Jedes Mal, wenn in den vergangenen Jahren der Konflikt im Nahen Osten eskalierte, waren auch hier Auswirkungen zu spüren. Allerdings mehren sich aktuell handfeste judenfeindliche Aggressionen – Hetzparolen auf Demonstrationen, persönliche Pöbeleien im Vorbeigehen, Anspucken bis hin zu tätlichen Angriffen auf Synagogen und auf Menschen, die als Jüdinnen und Juden identifiziert werden.
Begleitet wird diese Entwicklung von einem öffentlichen Diskurs, der in weiten Teilen ebenfalls von Stigmatisierung getragen wird: Nur sind es hier »die Muslime«, die im Mittelpunkt der empörten Aufmerksamkeit stehen. Sie gelten manchen als neue Keimzelle des Antisemitismus, die ihnen zugeschriebene Judenfeindschaft als importiert.
Judenfeindlichkeit in Deutschland
Viele Jahre werden nun schon die Fragen eines neuen oder muslimischen Antisemitismus in Forschung und Bildung diskutiert. Zunächst: Ein »muslimischer Antisemitismus« existiert nicht. Es gibt keinen spezifischen Antisemitismus, der originär mit dem muslimischen Raum verbunden, aus diesem entstanden oder ausschließlich bei muslimischen Menschen anzutreffen wäre. Der Antisemitismus der heutigen Zeit ist ein moderner. Sein Ursprung liegt in Europa, und es gehört zu seinen Charakteristika, dass er sich verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Realitäten anpasst. Gewiss lassen sich spezifische Verknüpfungen mit antijüdischen Koranpassagen oder -auslegungen finden. Aber als eine tragende Säule des muslimischen Fundamentalismus ist Antisemitismus fester Bestandteil einer politischen Ideologie und nicht der islamischen Religion. Allerdings kommen IslamistInnen die Wogen der Empörung im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt nicht ungelegen, bilden sie doch einen fruchtbaren Nährboden für antisemitische Propaganda.
Die bislang fundierteste Studie zu judenfeindlichen Einstellungen unter Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland stammt aus dem Jahr 2010. Jürgen Mansel und Viktoria Spaiser von der Universität Bielefeld kommen darin auf Basis einer Befragung von 2.000 SchülerInnen zu dem Ergebnis, dass Antisemitismus bei allen Jugendlichen anzutreffen ist. Deutliche Ausschläge gab es bei klassischen und israelbezogenen Motiven unter muslimischen Jugendlichen. Nicht-muslimische, herkunftsdeutsche Jugendliche dagegen unterstützten häufiger Motive des sekundären Antisemitismus. Gleichzeitig war hier eine sehr hohe Zustimmung zu muslimfeindlichen Positionen festzustellen.
Zieht man nun – zur groben Kontextualisierung – die Langzeitstudie »Deutsche Zustände« über die Entwicklung rassistischer Einstellungen und anderer Facetten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Deutschland sowie die Ergebnisse einer europaweiten Befragung der Universität Bielefeld heran, wird offensichtlich: Antisemitismus war und ist integraler Bestandteil der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Weder ist er ein Randgruppenphänomen, noch lässt sich ein monokausaler Zusammenhang zwischen ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit und der Ausprägung von Vorurteilen feststellen. Antisemitismus zieht sich quer durch alle Bevölkerungsschichten, zwischen 15 und 25 Prozent der Deutschen verfügen über entsprechende Stereotype und Deutungsmuster. 40 Prozent meinen, dass »die Juden« Vorteile aus ihrer Vergangenheit zögen, zwischen 60 und 70 Prozent ärgern sich darüber, dass »den Deutschen« die Verbrechen an »den Juden« heute immer noch vorgehalten werden. Und zwischen 30 und 45 Prozent geben an, dass ihnen durch die Politik Israels »die Juden« immer unsympathischer werden.
Offensichtlich ist, dass dem Nahostkonflikt eine zentrale Rolle zukommt. Denn er ist heute weit mehr als einer der unzähligen mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte weltweit. Er ist Kristallisationspunkt unterschiedlichster politischer, religiöser und ideologischer Interessen, medial höchst präsent, identitätsbildend und -stabilisierend. Im Nahostkonflikt, so scheint es, verdichten sich die ethisch-moralischen Grundsatzfragen unserer Zeit – Fragen des Verhältnisses von Identität und Zuschreibung, Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Geschichte und Gegenwart, Macht und Ohnmacht, Opfer und Täter.
Antisemitismus und Nahostkonflikt
Hier schließt ein weiterer wichtiger Aspekt an: Die Frage danach, warum sich Leute in die eine oder andere Richtung positionieren oder meinen, dies tun zu müssen. An dieser Stelle werden Unterschiede zwischen mehrheitsdeutschen und migrantischen Perspektiven sichtbar – und auch politische Instrumentalisierungen.
Einerseits nämlich kann der Nahostkonflikt als Umwegkommunikation für antisemitische Ressentiments dienen. Dies ist auch eine Folge der deutschen Geschichte und des gesellschaftlichen Umgangs mit Antisemitismus nach 1945 – der Gleichzeitigkeit von öffentlicher Tabuisierung und familiärer Erzählung. Zudem entstand mit dem Ende des Holocaust eine neue Form des Antisemitismus. Dieser »sekundäre Antisemitismus« reagiert auf die Verbrechen des NS und den Holocaust mit Aggression gegenüber den Opfern. Zu seinem Repertoire zählt unter anderem die Täter-Opfer-Umkehr, die »dem Juden« unterstellt, selbst schuld zu sein an seiner Verfolgung, bis heute Vorteile aus dem Holocaust zu ziehen und dabei im Grunde heute mit »den PalästinenserInnen« auch nichts anderes zu machen als das, was er doch selbst durch die Nazis erleiden musste. So gelingt der entlastende Brückenschlag vom Gestern ins Heute.
Die Bezugnahme auf den Nahostkonflikt innerhalb der muslimisch sozialisierten Bevölkerung Deutschlands speist sich dagegen meist aus anderen Motiven. Sie reichen von direkter Betroffenheit vom Konflikt bei palästinensischen Flüchtlingsfamilien über Solidarisierungseffekte als »AraberInnen«, »AusländerInnen« oder »Muslime«, Diskriminierungserfahrungen und Kämpfe um Anerkennung bis hin zur Reproduktion islamistischer Argumentationsfiguren.
Auf die Bedeutung persönlicher Erfahrung von Ausgrenzung bei der Adaption antisemitischer Deutungsmuster verweist Anke Schuh im Rahmen einer qualitativen Untersuchung von Einstellungsmustern bei jungen muslimischen Männern: »In ihrer Wahrnehmung wird ihr aktuelles Leiden wie auch das Leid eben jener Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, nicht gesehen bzw. verblasst angesichts der Shoah: zwar kann auf Diskriminierung verwiesen werden, aber gegen das Argument des Holocaust kommen sie nicht an. Was zurück bleibt, ist eine doppelte Wut, denn nicht nur der Israeli ist aggressiv und potent und zieht den Hass auf sich, auch der passive Jude, der sich als Opfer gebärdet.«
Solange sich die Öffentlichkeit nicht tatsächlich für die Ursachen und komplexen Dynamiken von Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft interessiert, sondern es lediglich darum geht, eine Gruppe zu identifizieren, die als »Keimzelle des Bösen« ausgemacht werden kann, um sich selbst der Problematik und der Auseinandersetzung zu entziehen, solange werden vor allem jüdische Menschen in Deutschland weiterhin Zeitschleifen fürchten müssen.